1918: Drei „Jungtürken“ fliehen in einem deutschen U-Boot, ein Kaiser dankt ab, ein Sultan noch nicht.
1914 – 1923: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Republik Türkei
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Im September 2018 wurde das Regierungsviertel in Berlin weiträumig abgesperrt, Gullideckel verriegelt, Taucher durchsuchten die Spree, Hubschrauber waren zu hören – der Präsident der Republik Türkei kam auf Staatsbesuch in die Bundesrepublik Deutschland. Auf den staatstragenden Plätzen wehten EU- und Deutschlandfahnen neben der Flagge der Türkei – auch an der Siegessäule, dem Symbol für die Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871. Vor genau 100 Jahren musste die deutsche Monarchie der Republik weichen, 1918, wenige Jahre, bevor die türkische Republik 1923 auf das Jahrhunderte alte Sultanat der Osmanen folgte.
„Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, daß sie niemals zerbrechen wird.“
Otto von Bismarck, 1871
Ein osmanischer Sultan hatte Deutschland in seiner Amtszeit zwar nie besucht; der deutsche Kaiser Wilhelm II. das Osmanische Reich allerdings gleich drei Mal, das letzte Mal im Jahr 1917. Mit der gemeinsamen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 endete diese ganz besondere „Freundschaft“, ja gar „Liebe“, auf höchster Ebene – erst einmal. 1918 dankt der deutsche Kaiser ab, bester „Freund aller Muselmanen“ und mindestens seit 1887 oberster deutscher Handelsvertreter für Konstantinopel, und geht ins niederländische Exil. Vier Jahre, bevor der Sultan aus Konstantinopel flüchtet.
Wäre 2018 eine deutsch-türkische Vereinigung mit mehr als 5.000 Mitgliedern vorstellbar? Mit den Vorstandsvorsitzenden von Deutscher Bank, Commerzbank und TUI als Vorsitzenden, oder dem Direktor des Deutschen Orient-Instituts, ergänzt durch deutsche und türkische Verteidigungsminister und diverse höchstrangige Generäle beider Nato-Armeen? Eher nicht, vielleicht noch nicht wieder. Im Frühjahr 1918 jedenfalls hatte die damalige Deutsch-Türkische Vereinigung 5.310 Mitglieder, landesweit vertreten in Ortsgruppen, z. B. in Barmen, Bremen, Breslau, Elberfeld, Halle an der Saale, Hannover, Leipzig, Düsseldorf und ja, auch in Chemnitz und Dresden. Vorsitzende und Ehrenvorsitzende der Vereinigung lesen sich wie ein deutsch-türkisches Honoratioren-Who-is-who: die Direktoren von Deutscher und Dresdner Bank, der Direktor des Seminars für orientalische Sprachen, der Direktor der HAPAG, der türkische Kriegsminister und stellvertretende Generalissimus, deutsche Marschälle, osmanische Großwesire a. D. und Generäle. Denn: Die deutsch-türkische Freundschaft war seit der Gründung des Deutschen Reiches neben der wirtschaftlichen vor allem eine militärische gewesen.
Nicht weit von Deutschlands bis heute einziger Moscheestraße entfernt, auf der Kriegsgräberstätte Zehrensdorf bei Berlin, ist Ali Jarder begraben, genau ein Angehöriger der türkischen Armee auf diesem Friedhof, gestorben im August 1918. Vor hundert Jahren führten die Wege zur deutschen und zur türkischen Republik über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs: Neben den vielen Erzählungen über die Taten und die strategische Weitsicht „großer“ Männer (und keiner Frauen), über verlorene Schlachten und verlorene Kriege, über abdankende Kaiser und flüchtende Generäle, bleiben die Einzelschicksale von mehr als neun Millionen in diesem Krieg gestorbener Soldaten – darunter zwei Millionen deutsche und 800.000 osmanisch-türkische Soldaten – überwiegend im Dunkeln. Warum liegt ein türkischer Soldat auf dem Zehrensdorf Indian Cemetery, dem Friedhof des Wünsdorfer Halbmond-Kriegsgefangenenlagers? Kriegsgefangener kann Ali Jarder jedenfalls nicht gewesen sein: Das Lager hatte das Deutsche Reich 1915 für muslimische Gefangene seiner britischen, französischen und russischen Kriegsgegner gebaut, mit der ersten Moschee auf deutschem Boden (deshalb die immer noch existierende Moscheestraße) und Bayramfeiern, begangen in Anwesenheit türkisch-osmanischer Generäle und Botschafter. Türkische Kriegsgefangene gab es dort nicht, denn die „Türken“ waren im Ersten Weltkrieg Verbündete der Deutschen.
Der deutsch-türkische Bündnisvertrag war 1914 geschlossen worden, und zwar mit einer beinahe prophetischen Dauer bis zum 31. Dezember 1918. Zwei Monate vorher, im Herbst 1918, haben ihn die Kriegsereignisse vor dem geplanten Ablauf beendet. (Schon in der Endphase des Krieges waren die beiden Heere beim Kampf um die Erdölfelder von Baku allerdings schon zeitweise zu Gegnern geworden.) Der osmanische Bündnispartner verabschiedet sich zuerst: Nachdem am 3. Juli 1918 Sultan Mehmed V. gestorben war, rückt sein Bruder Mehmed VI. nach, der Mitte Oktober 1918 die Regierung des „Jungtürkischen Triumvirats“ entlässt. Sein Nachfolger wird der in Deutschland ausgebildete Ahmet Izzet, der seine Verbundenheit mit dem deutschen Kaiserreich durch das Tragen eines im Stile Wilhelms II. frisierten Schnurrbart zeigte. Am 30. Oktober 1918 unterschreibt das Osmanische Reich mit dem Waffenstillstand von Moudros die bedingungslose Kapitulation. Das Osmanische Reich wird darin von den Alliierten Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan unter anderem zum Abbruch der Beziehungen zu Deutschland verpflichtet. Auf einem deutschen U-Boot fliehen am 2. November Talât, Enver und Cemal Pascha, das deutschlandfreundliche „Jungtürkische Triumvirat“, das lange osmanische Politik bestimmt hatte, über die Krim nach Deutschland. Keiner der drei sollte je wieder türkischen Boden vertreten.
„Sämtliche Deutsche und Österreicher, Marine- und Militärangehörige sowie Zivilisten, sind innerhalb eines Monats aus den türkischen Gebieten auszusiedeln: diejenigen in abgelegenen Gebieten sind sobald danach wie möglich auszusiedeln.“
Artikel 19 des Waffenstillstandsvertrags von Moudros
Auf den Prinzeninseln, heute Sehnsuchtsort für Orient-Besucher, werden die deutschen Truppen interniert, die das Land verlassen müssen. Der deutsche Botschafter verlässt die Botschaft in Konstantinopel, heute deutsches Generalkonsulat und weiter geschmückt mit dem Gemälde Wilhelms II. in türkischer Uniform. Als Schutzmachtvertretung Deutschlands übernimmt die schwedische Botschaft das Gebäude. In der historischen Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya, heute u. a. vom Goethe-Institut geführte Kulturakademie, werden die Arbeiten am deutschen Soldatenfriedhof und seinem Ausbau als zentrale Kriegsgräberstätte für die Türkei unterbrochen. Der Artikel des Waffenstillstandsvertrags bedeutet auch, dass nicht nur deutsche Soldaten das Land verlassen müssen, sondern auch Händler, Handwerker, Unternehmer, Journalisten, also alle die Deutschen, die sich im Zuge der intensivierten Militär- und Handelsbeziehungen seit Jahrzehnten vor allem am Bosporus angesiedelt hatten, die so genannten Bosporus-Deutschen. Alle, außer deutschen Bediensteten am osmanischen Hof wie der Hofkapellmeister Paul Lange, müssen gehen. Der deutsche Journalist Friedrich Schrader, der von 1891 bis 1918 in Istanbul lebte und arbeitete, beschreibt die Ausreise in seinem Buch „Eine Flüchtlingsreise durch die Ukraine“ (digitalisierte Ausgabe, Staatsbibliothek Berlin). Die Ausgewiesenen, die es bis nach Deutschland schafften, sollten in ein Land kommen, das sich im Umsturz befindet: Am 9. November 1918 war in Deutschland die parlamentarisch-demokratische Republik ausgerufen worden; Kaiser Wilhelm II. flieht am 10. November ins holländische Exil. Am 11. November unterzeichnete Deutschland den Waffenstillstand; der Erste Weltkrieg ist damit auch für die Deutschen beendet.
Mustafa Kemal, aka Atatürk, der spätere erste Vorvorvor…gänger des heutigen türkischen Präsidenten, erlebt die Niederlage als Kommandeur der 7. Osmanischen Armee in Syrien, zusammen mit dem deutschen Marschall Liman von Sanders, der später den Abzug der deutschen Truppen aus dem Osmanischen Reich koordinieren wird. Mustafa Kemal, vom Kaiser noch 1918 mit dem Preußischen Königlichen Kronenorden dekoriert, und vom Sultan mit dem Eisernen Halbmond, hatte ein paar Wochen früher nicht den angestrebten Posten des Kriegsministers erhalten, sondern wurde zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Yıldırım in Syrien ernannt. Der Verlust Syriens war zu diesem Zeitpunkt schon abzusehen, nur noch ein geordneter Rückzug das realistische Ziel.
„Den türkischen Teilen des Osmanischen Reiches sollte eine unbedingte Selbstständigkeit gewährleistet werden. Den übrigen Nationalitäten dagegen, die zurzeit unter türkischer Herrschaft stehen, sollte eine zuverlässige Sicherheit des Lebens und eine völlig ungestörte Gelegenheit zur selbstständigen Entwicklung gegeben werden. Die Dardanellen sollten unter internationalen Bürgschaften als freie Durchfahrt für die Schiffe und den Handel aller Nationen dauernd geöffnet werden.“
14 Punkte, Woodrow Wilson, 8. Januar 1918
Wer den Versuch unternimmt, den heutigen türkischen Nationalstolz zu verstehen, sollte auch auf 1918 schauen. Auf der Grundlage des 14-Punkte-Programms und des Waffenstillstandsabkommens besetzten die Siegermächte ab November 1918 einen Großteil des Osmanischen Reiches und vor allem Istanbul. Auch wenn der inzwischen machtlose Sultan weiter in Konstantinopel residierte, war die 465 Jahre währende osmanische Geschichte der Stadt beendet; Siegermächte aus dem „Abendland“ hatten nun das Sagen. Die Formulierungen im 14-Punkte-Plan ließen alle möglichen Auslegungen zu: Welches sind die wirklich türkischen Teile des Osmanischen Reiches, die eine unbedingte Selbstständigkeit verdienen? Gehört die griechisch geprägte Vielvölkerstadt Istanbul dazu? Oder Smyrna, das spätere Izmir? Was ist mit den armenisch geprägten Gebieten? Wieviel Fremdbestimmung bedeuten internationale Bürgschaften für die Handelsroute über die Meerenge der türkischen Dardanellen und den Bosporus? Auch ohne seine geflüchteten drei Führer propagierte das weiter aktive jungtürkische Komitee für Einheit und Fortschritt überall im besetzten osmanischen Reich die „türkische“ Identität umstrittener Gebiete, sensibilisierte die Bewohner für die Gefahr von Abspaltungen. Ende 1918 werden damit die Grundlagen für den Beginn des türkischen Befreiungskriegs gelegt, der in die Gründung der Republik mündete – so wird das Jahr historisch entscheidend, dass sich heute Abgesandte einer deutschen und einer türkischen Republik überhaupt treffen können. Und der Befreiungskrieg wird mit den nach dem Weltkriegsende im Lande verbliebenen Waffen aus Deutschland geführt werden.
Und im Folgejahr 1919 beginnt der türkische Befreiungskrieg – mit Mauser-Gewehr und Seelenadel.
Zum Weiterlesen:
Christoph Richter: Nicht Mekka, sondern Zehrensdorf. Muslimische Totenruhe in Brandenburg (deutschlandfunkkultur.de, 24.11.2006)
Friedrich Schrader: Eine Flüchtlingsreise durch die Ukraine: Tagebuchblätter von meiner Flucht aus Konstantinopel, 1919 (Digitalisierte Sammlungen, Staatsbibliothek zu Berlin)
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