1914: „Türkei muss losschlagen. S.M. der Sultan muss die Muselmanen in Asien Indien Ägypten Afrika zum heiligen Kampf fürs Kalifat aufrufen.“ (Kaiser Wilhelm II.)

1914 – 1923: 10 Jahre vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Republik Türkei

Teil 1: 1914 | 1915 | 1916 | 1917 | 1918 | 1919 | 1920 | 1921 | 1922 | 1923

Eine weiße Villa an den Ufern des Bosporus, in Tarabya gelegen, außerhalb des hektischen İstanbuls inmitten eines großen Gartenparks – eine Oase, dieser Ort, als Künstlerakademie Tarabya seit 2012 auch eine Oase für deutsche Stipendiaten wie Nurkan Erpulat, Moritz Rinke, Jim Rakete, Nevin Aladağ und viele andere.

Palais de L’Ambassade d’ Allemagne à Thérapia (Foto: Abdullah Frères, zwischen 1880 und 1893, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA, Public Domain)
Palais de L’Ambassade d’ Allemagne à Thérapia (Foto: Abdullah Frères, zwischen 1880 und 1893, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA, Public Domain)

Der Name Tarabya für den Kurort leitet sich vom griechischen therapia ab, auf Deutsch die Therapie, die Genesung – die gab es allerdings nicht für 505 deutsche Kriegstote des Ersten Weltkrieges und 172 des Zweiten Weltkrieges, die auf dem Soldatenfriedhof begraben sind, der sich auf dem Gelände der Villa befindet. Die „Historische Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya“ – so der offizielle Name des Areals – ist nicht nur Sommerfrische, sondern war Ort politischen Kalküls, deutsch-osmanischer „Waffenbrüderschaft“, diplomatischer Ränkespiele, pathetischer Heldenbegräbnisse.

1880, 34 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs, schenkte der damalige Sultan des Osmanischen Reichs und Kalif aller sunnitischen Muslime Abdülhamid II. das Gelände in Tarabya dem noch jungen und erstarkenden Deutschen Reich für den Bau einer diplomatischen Mission. Das war einer der Anfänge einer langjährigen ziemlich besten Freundschaft zwischen den letzten osmanischen Sultanen und dem letzten Kaiser des Deutschen Reichs, Wilhelm II. Die Sommerresidenz des deutschen Botschafters wird 1887 eröffnet, ein Jahr später wird Wilhelm II. Kaiser, und schon 1889 besucht er mit großem Pomp Konstantinopel. Neun Jahre später, 1898, auf seiner zweiten großen Reise ins Osmanische Reich, erklärt sich der deutsche Kaiser zum Freund der 300 Millionen Muslime, damals Mohammedaner genannt:

„Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“
Kaiser Wilhem II., 1898 [1]

Die „Türkenkriege“ sind lange Geschichte, für die früher in Europa schwelende „Türkenangst“ ist das Osmanische Reich um 1900 inzwischen zu schwach – das Riesenreich ist nun vor Allem ein lukrativer Absatzmarkt. Den bereist Wilhelm II., um für die deutschen Industriebarone den Boden zu bereiten für Handelsaufträge aus der osmanischen Wirtschaft und Politik, insbesondere die lukrativen der osmanischen Eisenbahn- und Rüstungseinkäufer.

Ende des 19. Jahrhunderts haben sich in Europa neue Koalitionen gebildet; für einen Krieg, in dem Türken und Deutsche sterben werden, werden die Grundlagen gelegt. Ab 1880 arbeiten Deutsches und Osmanisches Reich militärisch eng zusammen. Deutsche Militärmissionen sollen helfen, das Osmanische Heer zu reformieren. Deutsche Offiziere bilden aus, beraten, agieren im Diplomatischen Dienst – und sind im Auftrag deutscher Rüstungsfirmen unterwegs: Krupp verkauft schwere und schwerste Geschütze nach Konstantinopel, der Waffenhersteller Mauser im Vorfeld des Ersten Weltkriegs Hunderttausende Gewehre. Deutsche Rüstungslieferanten verdrängen so nach und nach französische und britische Firmen vom osmanischen Rüstungsmarkt. [100 Jahre später realisiert ThyssenKrupp Marine Systems milliardenschwere Rüstungsaufträge im U-Boot- und Marinebereich, die Marke Mauser gehört zum Unternehmen Rheinmetall mit Milliardenumsätzen im Rüstungsgeschäft.]

Georg von Siemens als Bahnwärter der Bagdadbahn: Karikatur der „Lustigen Blätter“ von 1900 mit der Bildunterschrift „Bahn frei für die deutsche Kulturarbeit im Orient!“
Georg von Siemens als Bahnwärter der Bagdadbahn: Karikatur der „Lustigen Blätter“ von 1900 mit der Bildunterschrift „Bahn frei für die deutsche Kulturarbeit im Orient!“

„Bahn frei für die deutsche Kulturarbeit im Orient!“: Für den Ersten Weltkrieg werden nicht nur mit der militärischen Modernisierung der osmanischen Streitkräfte durch die Deutschen die Weichen gestellt, sondern auch – im wahrsten Sinne des Wortes – mit der Bagdadbahn. 1903 hatte der Bau der Bahn unter deutscher Federführung begonnen. 1900 schon, in der Vorbereitungsphase, zeigen die „Lustigen Blätter“ einen osmanisch ausstaffierten Georg von Siemens als Bahnwärter der Bagdadbahn. Natürlich geht es nicht darum, Kultur nach Anatolien zu bringen – es geht um eines der wirtschaftlich gewaltigsten und lukrativsten Infrastrukturprojekte seiner Zeit einerseits, andererseits um die politische Erschließung und Anbindung von Gebieten bis nach Indien. Das Deutsche und das Osmanische Reich begeben sich allein schon mit den Plänen zur Bahn direkt in die Interessensgebiete Frankreichs, Großbritanniens und Rußlands. Die Bagdadbahn trägt dazu bei, den Graben zu diesen drei Großmächten zu vertiefen; sie wird direkt Gegenstand der Orientpolitik der europäischen Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg.

Bahn, Stahl, Rüstungsgüter – neben Krupp in Essen sind in Berlin Siemens, Borsig und Bergmann im Geschäft. Berlin wird um die Wende zum 20. Jahrhunderts größter Industriestandort in Europa: Die Bergmann Electricitäts-Werke Aktien-Gesellschaft produziert in Berlin-Wedding, Moabit und Wilhelmsruh zum Beispiel Eisenbahnen und Schiffsturbinen für die Kaiserliche Marine. Wie überall in Berlin entstehen auch im Wedding um die Fabriken große neue Wohngebiete für die Arbeiter, mit den berühmt-berüchtigten Mietskasernen: Seit 1904 gibt es im Wedding eine Türkenstraße, die – Ironie der Geschichte – mit ihren Straßennachbarn Ofener Straße und Ungarnstraße auf die Türkenkriege in Österreich-Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert verweist.

Türkischen Delegation für den Bau der Bagdadbahn bei der Firma Krupp (Werksfotograf der Firma Krupp, 5. Juli 1911, Familienbesitz)
Türkische Delegation für den Bau der Bagdadbahn bei der Firma Krupp (Werksfotograf der Firma Krupp, 5. Juli 1911, Familienbesitz)

Anfang des 20. Jahrhunderts bildete sich im Zuge der Intensivierung der deutsch-türkischen Beziehungen in Berlin nun eine kleine permanente türkische Gemeinde aus osmanischen Gesandten, ihren Familien und Mitarbeitern. 1913 sind in Berlin 408 Türken gemeldet. Ihr Herkunftsland wurde offiziell das Osmanische Reich genannt, die Türkei gab es noch nicht. Im täglichen Sprachgebrauch wurde im „Abendland“ jedoch schon seit Jahrhunderten der Begriff Türkei benutzt. Osmanen wurden zunächst nur die Mitglieder des Herrscherhauses Osman genannt, später die osmanische Oberschicht insgesamt. Im Westen bildete sich langsam der synonyme Gebrauch von Osmane und Türke heraus. Generalfeldmarschall Freiherr von der Goltz, dessen Rolle später näher betrachtet werden soll, sagte 1913 über den osmanischen Staat:

„Ein buntes Gemisch von Völkersplittern, die von zahlreichen Eroberungszügen her in Vorderasien zurückgeblieben waren, wurde durch das Schwert des Islam erst zu einer einigermaßen homogenen Masse zusammengeschweißt.“
Generalfeldmarschall Freiherr von der Goltz, 1913 [2]

Wenige Monate vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde am 15. April 1914 in Berlin die Deutsch-Türkische Vereinigung (DTV) gegründet, eine Institutionalisierung der informellen und formellen deutsch-türkischen Kontakte der letzten Jahrzehnte. Gefördert vom Auswärtigen Amt, eng verwoben mit der deutschen Industrie- und Finanzwirtschaft (Direktoren von Dresdner und Deutscher Bank waren Vorsitzende der DTV) sowie dem Militär (Ehrenvorsitzende waren u. a. ranghohe türkische und deutsche Generäle), diente die DTV der Wegbereitung, Wahrung und Durchsetzung deutscher Interessen im Osmanischen Reich. Die DTV förderte die 1914 gegründete Deutsche Schule in Adana und die wechselseitige Ausbildung von Deutschen und Türken: 300 von ihnen kamen schon 1914 in die jeweils anderen Länder. Deutsche Professoren an der İstanbuler Universität und die Übersetzung deutscher Klassiker ins Türkische wurden unterstützt; auf DTV-geförderten Sprachkursen lernten bis zum Waffenstillstand 1918 viele Hundert Deutsche die Sprache des Zukunftsmarkts Türkei. Von einem  Hauptprojekt der DTV, dem „Haus der Freundschaft (Dostluk Yurdu)“ in Konstantinopel, wird 1917/2017 zu lesen sein.

Dem offiziellem Beginn des Ersten Weltkriegs am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien waren also schon lange Jahrzehnte Hochrüstung, Kriegsvorbereitungen, diplomatische Ränkespiele und Netzwerkaktivitäten vorausgegangen – und auch regionale Kriege, gerade im zerfallenden Osmanischen Reich:
In den Balkankriegen 1912/1913 verlor das Osmanische Reich gegen Griechenland, Serbien, Montenegro und Bulgarien seine über Jahrhunderte beherrschten Gebiete auf dem Balkan. Historiker debattieren und interpretieren seither die wechselnden Allianzen, die Rollen der Großmächte Frankreich, Großbritannien und Russland in den Balkankriegen. Die Auseinandersetzungen waren stark ethnisch geprägt, in der Folge kommt es auf dem Balkan zu erstmals vertraglich bestimmten Bevölkerungsaustauschen, ethnischen „Entmischungen“, dem Verbot muslimischer Lebensweisen, der Preisgabe und Rückumwandlung von Moscheen. Die Kriege legen den Grundstein für die bis heute andauernden ethnischen Konflikte auf dem Balkan. Und sie waren mit neuartigen Waffensystemen und ca. 400.000 gefallenen Soldaten der Epilog zum Ersten Weltkrieg.
Der türkische Dichter und Vordenker einer modernen Türkei Ziya Gökalp schreibt zum ersten Balkankrieg 1912 sein Gedicht „İlahi Ordu“ (Göttliche Armee) – für ein Zitat aus diesem Gedicht wurde der heutige türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan 1998 von einem türkischen Gericht verurteilt:

„Die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme,
Die Moscheen unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten“
(Im Original: „Minareler süngü, kubbeler miğfer // Camiler kışlamız, mü’minler asker“)
Ziya Gökalp, 1912 [3]

„To save the civilization of Europe“: Angehöriger des deutschen Militärs (wahrscheinlich Wilhelm II.) und Repräsentant des osmanischen Heeres (amerikanische Karikatur zwischen 1914 und 1918, W. A. Rogers, New York Herald Company, Cabinet of American Illustration / Public Domain)
„To save the civilization of Europe“: Ein Angehöriger des deutschen Militärs (wahrscheinlich Wilhelm II.) und ein Repräsentant des osmanischen Heeres (amerikanische Karikatur zwischen 1914 und 1918, W. A. Rogers, New York Herald Company, Cabinet of American Illustration / Public Domain)

Nachdem am 1. August 1914 das deutsche Kaiserreich Russland den Krieg erklärt hatte, wurde am 2. August 1914 der geheime Bündnisvertrag zwischen Deutschem und Osmanischem Reich unterzeichnet. Er sollte die gegenseitige Unterstützung bei Auseinandersetzungen mit Großbritannien, Frankreich und Russland regeln. In türkischen Regierungszirkeln gab es auch ernsthafte Kritiker an einem Kriegseintritt: Das Reich sei zu schwach für einen Krieg, die einen Realisten sahen voraus, dass der Rückzug ins anatolische Kernland, der Urheimat der „Türken“, ohne Alternative war. Die anderen Realisten jedoch, Hardliner wie der Kriegsminister Enver Pascha, sahen ohne deutsche Hilfe den Verlust von Konstantinopel an Rußland voraus. Und sie träumten von der Rückeroberung zum Beispiel des Balkans, unterstützt von den Deutschen, deren Offiziere als Chefs von Generalstäben der osmanischen Armee und als Berater ohnehin an vielen militärischen Schaltstellen saßen.

Am 6. August 1914 wendet sich Kaiser Wilhelm II. mit folgender Erklärung an sein Volk – im Tonfall nicht unähnlich der Erklärung, mit der der osmanische Sultan wenige Monate später zum Heiligen Krieg aufrufen lässt:

„Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre Mein und Meiner Vorfahren heißes Bemühen gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und im Frieden unsere kraftvolle Entwickelung zu fördern. Aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit.
Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See haben wir bisher ertragen im Bewusstsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns demütigen. Man verlangt, daß wir mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich zu tückischem Überfall rüsten, man will nicht dulden, daß wir in entschlossener Treue zu unserem Bundesgenossen stehen, der um sein Ansehen als Großmacht kämpft und mit dessen Erniedrigung auch unsere Macht und Ehre verloren ist.
So muß denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter neu sich gründeten. Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Und wir werden diesen Kampf bestehen auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.“
Kaiser Wilhelm II., 1914 [4]

Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Deutscland im Ersten Weltkrieg: Postkarte mit Schiller-Zitat im Ersten Weltkrieg (zuerst gesehen in „1914/2014 – Schlachtfeld Erinnerung“, Ausstellung Depot İstanbul, 2014)
Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Deutscland im Ersten Weltkrieg: Postkarte mit Schiller-Zitat im Ersten Weltkrieg (zuerst gesehen in „1914/2014 – Schlachtfeld Erinnerung“, Ausstellung Depot İstanbul, 2014)

Zunächst nach außen neutral, zögerlich sogar, verstärkten sich im Spätsommer 1914 die Spannungen für das Osmanische Reich: Zwar bezahlte, aber nicht aus Großbritannien ausgelieferte Kriegsschiffe, Grenzkonflikte, Sperrungen des Bosporus durch Konstantinopel, zum Beispiel. Wilhelm II. fordert Ende August 1914 in einem Telegramm an den türkischen Kriegsminister Enver Pascha höchstpersönlich und ungeduldig Unterstützung ein:

„Türkei muss losschlagen. S.M. der Sultan muss die Muselmanen in Asien Indien Ägypten Afrika zum heiligen Kampf fürs Kalifat aufrufen.“
Kaiser Wilhelm II., 1914 [5]

„Muselmanen“, heiliger Kampf und Kalifat? Das erinnert an aktuelle Themen der Weltpolitik. Und das wurde damals gefordert aus deutschem Munde? Richtig, nach Jahrzehnten freundschaftlicher Beziehungen zu den Sultan-Kalifen Abdülhamit II. (bis zu dessen Absetzung 1909) und Mehmed V. Reşat (Sultan 1909–1918) glaubten Wilhelm II. und seine Berater, Muslime in den Kolonien und Protektoraten der Kriegsgegner vom Kalifen zum Aufstand aufwiegeln lassen zu können, und damit Großbritannien, Frankreich und Rußland von innen zu schwächen. Der Dschihad, der Heilige Krieg wird von den Deutschen als Kriegsmittel in die Politik eingebracht. Konkretisiert wurde diese Politik im Oktober 1914 durch Max von Oppenheims Plan „Die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“, der der Führung des Deutschen Reichs vorgelegt wurde. In Oppenheims Plan heißt es – auf erschreckende Weise wie eine Anleitung für heutigen Terror:

„Möglichst viele kleine Putsche, Attentate etc. sind zu veranlassen, ganz gleichgültig, ob diese gelingen oder nicht. Auf jeden Fall werden sie dazu beitragen, die Engländer in Ägypten noch kopfloser zu machen, wie sie es augenscheinlich schon sind. Die zu erwartenden Repressalien werden, je grausamer sie einsetzen und je mehr sie, wie vorauszusehen, Unschuldige treffen, die Wut und den Fanatismus des Volkes vermehren und die schwerfälligen, manchmal mit Unrecht als überfeige bezeichneten Stadtbewohner und Fellachen für den Kampf bis aufs Messer zur Herauswerfung der Engländer bereitwilliger machen.“
Aus: Max von Oppenheim „Die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“, 1914 [6]

Auf dieser ideologischen Grundlage wurde im November 1914 vom deutschen Generalstab und vom deutschen Auswärtigen Amt die „Nachrichtenstelle für den Orient“ gegründet, 100 Jahre später von den Tarabya-Stipendiaten Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger in ihrem Projekt „1914/2014 – Schlachtfeld Erinnerung“ thematisiert. Gestützt auch auf Experten aus der Türkei betrieb die Nachrichtenstelle Propaganda in den Ländern des Nahen Ostens, die sich in Einflusssphäre der Kriegsgegner befanden, agitierte bei muslimischen Kriegsgefangenen und versorgte die Politik mit nachrichtendienstlichen Erkenntnissen.

Offizier vor Soldaten des Osmanischen Heeres zwischen 1914 und 1915 (Source: Flickr Commons project, 2012, George Grantham Bain Collection – Library of Congress)
Offizier vor Soldaten des Osmanischen Heeres zwischen 1914 und 1915 (Source: Flickr Commons project, 2012,
George Grantham Bain Collection – Library of Congress)

Nach ernsteren Geplänkeln und kriegerischen Handlungen im September und Oktober 1914 erklärten Großbritannien, Frankreich und Rußland Anfang November dem offiziell noch neutralen Osmanischen Reich den Krieg. Mitte November ruft der Sultan und Kalif Mehmed V. Reşat, wie Monate zuvor vom deutschen Kaiser gefordert, zum Dschihad auf:

„Meine tapferen Soldaten: Hütet Euch, und sei es nur einen Moment, von dem festen Willen und der Festigkeit der Füße und der Aufopferung um des Kampfes und des gesegneten Dschihad willen abzuweichen, den wir gegen die Feinde begonnen haben, die es mit ihrer Feindseligkeit auf unsere offenkundige Religion und unser heiliges Vaterland abgesehen haben. Stürzt Euch auf den Feind wie die Löwen, denn die Existenz und das Leben unseres Reiches sowie die Existenz von 300 Millionen Muslimen, die wir zum mächtigen Dschihad durch die erhabenen Rechtsgutachten aufgerufen haben, ist verknüpft mit Eurem Sieg: Die Gebete aus den Herzen von 300 Millionen unterdrückten Muslimen, flehend an den Herrn der Herrn gerichtet in ganzer Leidenschaft und Vertiefung in den allgemeinen Moscheen und Moscheen für das Freitagsgebet und in dem verehrten Hause ALLAHs, sind alle mit Euch, wo immer Ihr seid“
Sultan und Kalif Mehmed V. Reşat, 1914 [7]

Schon zur Jahreswende 1914/1915 sterben allein in der Schlacht von Sarıkamış 60.000 Soldaten des osmanischen Heeres im Kampf gegen Russland. Nâzım Hikmet, einer der bedeutendsten türkischen Dichter des 20. Jahrhunderts, kontrastiert in seinem „Epos vom Befreiungskrieg“ das Kriegsleid der einfachen türkischen Bevölkerung mit dem weiter sehr auskömmlichen Leben der oberen Kriegsstrategen – auch in der weißen Villa in Tarabya am Bosporus:

„Ich, die Stadt İstanbul
habe die Mobilmachung erlebt:
Kaukasus, Galizien, Dardanellen, Palästina,
den Schwarzhandel, waggonweise, Typhus, spanische Grippe,
[…]
Unterdessen floss der Rheinwein in Tarabya, in den Petits Champs und im Klub der Prinzeninsel.“
Nâzım Hikmet: „Epos vom Befreiungskrieg“ [8]

Und im folgenden Jahr 1915 wird in Çanakkale ein Mythos geboren, und Hadschi Wilhelm Mohammed bekommt den Eisernen Halbmond.

Zitate:
[1] Kaiserbesuch 1898: Besuch beim Sultan und Palästina-Reise (wilhelm-der-zweite.de, Stand 09.02.2015)
[2] Klaus Kreiser: Das Osmanische Reich: Zerreißprobe am Bosporus (deutschlandfunk.de, 31.12.2013)
[3] Ziya Gökalp (wikiquote.org, Stand 09.02.2015) [Update 21.02.2015: Ein Leser weist auf eine Debatte um Ziya Gökalps Gedicht und Erdoğans Zitat daraus hin: Es handele sich nicht um ein Zitat aus dem Originalgedicht von 2012, sondern schon um eine bewusst veränderte und erweiterte Version. Wer dazu auf Türkisch nachlesen kann und möchte: Murat Bardakçı – Şiiri böyle montajlamışlar, Hürriyet vom 22.09.2002]
[4] Gerhard Piper: Als Deutschland 1914 in den Dschihad zog (heise.de, 26.07.2014)
[5] Militärgeschichte, Zeitschrift für historische Bildung, Ausgabe 1+2/2005, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (mgfa.de, Stand 09.02.2015)
[6] Gerhard Piper: Als Deutschland 1914 in den Dschihad zog (heise.de, 26.07.2014)
[7] Zitiert nach Salvador Oberhaus: Zum wilden Aufstande entflammen (Inaugural-Dissertation, Universität Düsseldorf, 2006, S. 309)
[8] Zitiert nach Klaus Kreiser: İstanbul . Ein historischer Stadtführer (C. H. Beck, 2009, S. 290)

Quellen:
1914/2014 – Schlachtfeld Erinnerung (goethe.de, Stand 09.02.2015)
Bagdadbahn (Wikipedia, 05.02.2015)
Balkankriege. Auftakt zum Großen Morden (zeit.de, 07.11.2013)
Deutsch-türkische Vereinigung (Wikipedia, 14.01.2015)
Deutsche Militärmissionen im Osmanischen Reich (Wikipedia, 03.02.2015)
Recep Tayyip Erdoğan (Wikipedia, 26.01.2015)
Der Erste Weltkrieg. Europäischer und globaler Charakter des Krieges (Bundeszentrale für Politische Bildung, 06.05.2013)
Erster Weltkrieg (Wikipedia, 03.02.2015)
Grußwort von Außenminister Steinmeier zur Veranstaltung „1914 – Versagen der Diplomatie“ (auswaertiges-amt.de, 28.01.2014)
Nâzım Hikmet (Wikipedia, 26.10.2014)
Klaus Kreiser: Das Osmanische Reich: Zerreißprobe am Bosporus (deutschlandfunk.de, 31.12.2013)
Klaus Kreiser: Deutsch-türkische Gesellschaften von Wilhelm II. bis Konrad Adenauer (klaus-kreiser.de, Stand 09.02.2015)
Marc von Lüpke-Schwarz: „Heilige Krieger“. Das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg (Deutsche Welle, 22.07.2014)
Nachrichtenstelle für den Orient (Wikipedia, 29.09.2014)
Enver Pascha (Wikipedia, 23.10.2014)
Rüdiger Schaper: Künstlerkolonie Tarabya. Ein Traum, eine Brücke (tagesspiegel.de, 06.04.2013)
Schlacht von Sarıkamış (Wikipedia, 05.01.2015)
Tarabya. Geschichte (tarabya.diplo.de, Stand 09.02.2015)
Tarabya, Soldatenfriedhof (tuerkei.diplo.de, Stand 09.02.2015)
Die Türkei sperrt den Bosporus (faz.net, Historisches E-Paper: 13.08.1914)
Türken in Berlin (Wikipedia, 20.10.2014)
Türkisches Berlin: Interkulturelle Stadtführungen in Berlin (stadtnavigator-berlin.de, Stand 09.02.2015)
Volker Weiß. Der deutsche Dschihad. Wie das Kaiserreich versuchte, die Muslime im Nahen und Mittleren Osten zu einem Heiligen Krieg gegen Russland, Frankreich und Großbritannien aufzuhetzen (zeit.de, 05.08.2014)
Arno Widmann: Dschihad – made in Germany (fr-online.de, 14.11.2014)
Stephan Wiehler: Provinzjahre einer Weltstadt (tagesspiegel.de, 06.01.2015)

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