1915: In Çanakkale wird ein Mythos geboren, und Hadschi Wilhelm Mohammed bekommt den Eisernen Halbmond.
1914 – 1923: 10 Jahre vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Republik Türkei
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November 2015, Istanbul, historische Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya: Diplomaten und Militärs aus Deutschland und der Türkei begehen auf dem Soldatenfriedhof der Residenz den deutschen Volkstrauertag. 100 Jahre zuvor hatte der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Errichtung dieses Friedhofs beschlossen: 1915 waren das Deutsche und das Osmanische Reich Verbündete im Ersten Weltkrieg, Deutsche starben auch an den Kriegsfronten auf türkisch-osmanischem Boden.
In die Schlachten des Osmanischen Reichs waren jedoch nicht deutsche Truppen mit vielen Soldaten eingebunden, sondern leitende Angehörige deutscher Militärmissionen, die das Osmanische Heer reformieren und dann strategisch führen sollten. Der preußische General Otto Liman von Sanders z. B. war Leiter diverser solcher Missionen und 1915 als osmanischer Marschall auch Oberbefehlshaber der 5. Osmanischen Armee in der Schlacht von Gallipoli.
Ausdruck der engen Verflechtung zwischen osmanischem und deutschem Heer sind die vielen deutschen Träger der „Harp Madalyası“, der osmanischen „Kriegsmedaille“, auch „Eiserner Halbmond“ genannt: Kaiser Wilhelm II., der sie 1915 verliehen bekam, Ernst von Weizsäcker, der Vater des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Wilhelm Canaris, später Nazi-Geheimdienstchef und noch später hingerichteter Widerständler gegen Hitler, und viele andere heute Vergessene. Von Sanders war ebenfalls Träger des Eisernen Halbmonds – und, soweit ging die Waffenbrüderschaft, neben dem Sultan und dem osmanischen Kriegsminister Enver Pascha sogar zur Verleihung der Harp Madalyası berechtigt.
Als „Star of Gallipoli“ ist der Eiserne Halbmond auf Englisch bekannt: Anfang März 1915 gestiftet, war die Schlacht von Gallipoli Anlass für die erste große Verleihungswelle. Für die Briten ist die Schlacht bis heute die Schlacht von Gallipoli nach der gleichnamigen Halbinsel und Stadt, für Türken die Schlacht von Çanakkale, eine Stadt über die Meerenge gegenüber, für Deutsche oft einfach die Dardanellen, der Name der Meerenge dazwischen. Dort standen sich im Frühjahr 1915 Hunderttausende Soldaten gegenüber, osmanische unter dem Oberbefehl des Deutschen von Sanders und britisch-französische Truppen. Aus dieser Teilschlacht des I. Weltkriegs ging das Osmanische Reich als Sieger hervor – 100.000 Soldaten starben.
Bei den Nachkommen dieser Soldaten ist die Schlacht 100 Jahre später unvergessen: Im Berliner Türkischen Haus zum Beispiel wird der Schlacht jedes Jahr am 18. März in einer Feierstunde gedacht: Der türkische Botschafter hält eine Rede, deklamiert ein dramatisches Gedicht, es gibt ein Theaterstück mit Szenen der Schlacht, die Anwesenden singen, u. a. die türkische Nationalhymne und viele der Teilnehmer weinen. Die Schlacht wurde Teil des Gründungsmythos in der offiziellen Geschichtsschreibung dreier Nationen: der türkischen sowieso, aber auch der australischen und der neuseeländischen. Tausende Australier und Neuseeländer starben als Soldaten des britischen Commonwealth in der Schlacht; die vielen Toten tausende Kilometer entfernt von der Heimat sind der Beginn der nationalen Selbstvergewisserung dieser beiden Staaten. Der 25. April, der Tag der britisch-französischen Landung 1915 aus Gallipoli, ist heute „Anzac Day“ – zur Erinnerung an die Opfer von Kriegen, einer der wichtigsten australisch-neuseeländischen Feiertage. Seit 1934 fahren jedes Jahr im März Australier, Neuseeländer und Briten auf die kleine türkische Landzunge im Mittelmeer: In einem bemerkenswerten „Twist“ der Geschichte betrauern dort die ehemals verfeindeten Parteien gemeinsam ihre Toten. Von Atatürk, „Vater“ der modernen Türkei, gibt es dieses Zitat zur ersten gemeinsamen Feier, eingemeißelt auch in die Atatürk-Denkmäler, die in Canberra und Wellington errichtet wurden:
“Those heroes that shed their blood
And lost their lives.
You are now lying in the soil of a friendly country.
Therefore rest in peace.
There is no difference between the Johnnies
And the Mehmets to us where they lie side by side
Here in this country of ours.
You, the mothers,
Who sent their sons from far away countries
Wipe away your tears,
Your sons are now lying in our bosom
And are in peace
After having lost their lives on this land they have
Become our sons as well.” [1]
Atatürks eigener Mythos ist zu großen Teilen in dieser Schlacht 1915 begründet. Nach der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung ist Çanakkale der Beginn des türkischen Unabhängigkeitskriegs, der unter Führung Atatürks zur Gründung der modernen Türkei 1923 führte. Seit Januar 1915 war Mustafa Kemal, Atatürks eigentlicher Name, Kommandant der auf der Halbinsel Gallipoli stationierten 19. Division der 5. Armee, stand damit auch unter dem Oberbefehl des Preußen von Sanders. Atatürk war strategisch versierter Kriegsführer einerseits, andererseits immer Motivator für das große Ganze. Überliefert und viel zitiert, in Stein gemeißelt und oft gedruckt sein Ausspruch in der Schlacht: „Ich befehle euch nicht, anzugreifen, ich befehle euch zu sterben.“ 56.000 osmanische Soldaten taten das 1915; Atatürk starb als türkischer Präsident 1938.
„Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, 1915 [2]
Auf beiden Seiten des Ersten Weltkriegs kämpften Armenier, denn das damalige armenische Siedlungsgebiet erstreckte sich über die Grenze der Kriegsgegner Osmanisches Reich und Zarenreich Russland. Unter dem Vorwurf der „Illoyalität zum Osmanischen Reich“ kam es seit April 1915 zu Verhaftungen und Hinrichtungen von Armeniern, sie wurden aus ihren Siedlungsgebieten verbannt, starben auf Märschen an Misshandlungen, Hunger und Seuchen. Schätzungen zufolge kamen 1915 bis 1918 300.000 bis 1,5 Millionen osmanische Armenier ums Leben, viele weitere verließen in der Folge ihr Heimatland. Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel, selbst vor den Nazis ins Exil geflüchtet, thematisiert das in seinem großen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Während vor dem Ersten Weltkrieg nach unterschiedlichen Schätzungen ein bis zwei Millionen Armenier in Anatolien lebten, sind es in der Gesamttürkei heute ca. 50.000. Hunderttausende am Krieg selbst unbeteiligte armenische Kinder, Frauen, Alte, Männer sind damals gestorben – ob man das hinzunehmende Kriegsfolge nennt, Kollateralschaden also, oder geplanten Völkermord, ethnische Säuberung, darüber streiten sich bis heute türkische und internationale Historiker, Parlamente, Politiker. 100 Jahre später ist die Erinnerung lebendig, auch in Deutschland. Das Maxim-Gorki-Theater widmete dem Thema 2015 einen 40-tägigen Schwerpunkt, ganz aktuell führte das von der EU geförderte Projekt [aghet] [ağıt] der Dresdner Sinfoniker und des deutsch-türkischen Gitarristen Marc Sinan zum Thema armenisch-türkische Aussöhnung offenbar zu einer offiziellen türkischen Beschwerde bei der EU.
„Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen.“
Kriegspresseamt des deutschen Kriegsministeriums an die deutschen Korrespondenten, 1915 [3]
Talât Pascha, osmanischer Innenminister und einer der Hauptakteure der Geschehnisse, wurde übrigens 1921 im Berliner Exil von einem armenischen Attentäter in der Charlottenburger Hardenbergstrasse erschossen.
In Deutschland sind heute Kriegsereignisse auf osmanischem Boden, anders als Verdun zum Beispiel, nicht Bestandteil einer kollektiven Erinnerung – es gab zwar die im Hintergrund wirkenden deutschen Heeresführer, aber keine Tausenden deutschen Gefallenen, die als Grundlage einer Erinnerungskultur dienen könnten. Zu seiner Zeit aber war die Kriegsbegeisterung und Unterstützung groß. Auch viele Künstler begrüßten den Krieg, zumindest am Beginn, wie Lovis Corinth, Thomas Mann, Heinrich Zille, Max Liebermann, Max Slevogt, Gerhart Hauptmann oder Ernst Barlach. Der Krieg wurde künstlerisch regelrecht begleitet, z. B. durch „Wachtfeuer. Künstlerblätter zum Krieg“ oder die von Paul Cassirer herausgegebene „Kriegszeit“, für die einige der genannten Künstler Beiträge beisteuerten.
1915 wird die erste Moschee auf deutschem Boden gebaut, im „Halbmondlager“ in Berlin-Wünsdorf für die dort untergebrachten muslimischen Kriegsgefangenen. [Und bis heute gibt es in Wünsdorf die deutschlandweit einzige „Moscheestraße“.] Für die muslimischen Insassen dieser und anderer Kriegsgefangenenlager veröffentlichte die deutschen Nachrichtenstelle für den Orient ab Februar 1915 die Zeitschrift „Al-Dschihad“, Propagandainstrument der Deutschen zur Aufstachelung der Muslime gegen ihre britischen, französischen und russischen Kolonialmächte. Einer der bizarrsten Propagandaeinfälle dürfte die Nachricht gewesen sein, Wilhelm II. sei als Hadschi Wilhelm Mohammed zum Islam übergetreten und mit ihm viele seiner Untertanen. [zeit.de]
Der Leiter und Initiator der Nachrichtenstelle für den Orient, Max von Oppenheim, wechselte unterdessen im Frühjahr 1915 nach Konstantinopel, um dort ein Propagandasystem für das türkisch-osmanische Einflussgebiet aufzubauen. „Auf Stehpulten und Lesetischen wurde – von den Türken zensiert – deutsches Propagandamaterial bereitgehalten.“ [bankgeschichte.de] Einflussnahme und Förderung deutscher Interessen auf kulturellem und wirtschaftlichen Gebiet betrieb seit 1915 in Konstantinopel eine Zweigstelle der Deutsch-Türkischen Vereinigung (DTV).
Die 1915 begonnenen Arbeiten am deutschen Soldatenfriedhof in Istanbul wurden nach der Kapitulation von Deutschem und Osmanischem Reich 1918 unterbrochen und erst 1926 fortgesetzt. Nachdem in den 1980ern entschieden wurde, Tarabya zur zentralen Kriegsgräberstätte für die Türkei auszubauen, wurden weitere auf dem Gebiet der heutigen Türkei gefallene deutsche Soldaten umgebettet. Insgesamt gibt es dort heute Gräber für 505 deutsche Gefallene des Ersten Weltkrieges und 172 deutsche Kriegstote des Zweiten Weltkrieges. Touristisch wertvoll, offensichtlich:
„Auf der unteren Terrasse, von der man einen herrlichen Ausblick auf den Bosporus hat, liegt ein Gemeinschaftsgrab mit 124 bekannten und fünf unbekannten deutschen Gefallenen des Zweiten Weltkrieges.“ [4]
Zitate:
[1] Kemal Atatürk Memorial, Canberra (Wikipedia, Stand 10.7.2015)
[2] Marc von Lüpke-Schwarz: „Heilige Krieger“: Das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg (Deutsche Welle, 22.7.2014)
[3] Volker Weiß: Deportation ins Nichts (zeit.de, 23.4.2015)
[4] Listenansicht der Kriegsgräberstätten: Tarabya (volksbund.de, Stand 30.5.2016)
Quellen:
Stephan Berkholz: Deutschlands Verantwortung gegenüber den Armeniern (Deutschlandradio Kultur, 6.6.2015)
Çanakkale: Erdoğan lädt armenischen Präsidenten zu Weltkriegsgedenken ein (dtj-online.de, 16.1.2015)
Gallipoli Campaign (Wikipedia, Stand 30.5.2016)
Hasnain Kazim: Schlacht von Gallipoli – „Ich befehle euch zu sterben“ (spiegel.de, 15.3.2015)
Hans-Lukas Kieser: Osmanischer Sieg im Ersten Weltkrieg: Der Mythos Gallipoli (nzz.ch, 15.4.2015)
Soldatenfriedhof / Die Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya (tuerkei.diplo.de, Stand 29.5.2016)
Michael Stürmer: Im Grabenkrieg Gallipolis entstanden drei Nationen (welt.de, 26.4.2015)
Volker Weiß: Der deutsche Dschihad. Wie das Kaiserreich versuchte, die Muslime im Nahen und Mittleren Osten zu einem Heiligen Krieg gegen Russland, Frankreich und Großbritannien aufzuhetzen. (zeit.de, 17.7.2014)
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