Laytmotif auf Reisen: Kunst in Istanbul – Ein guter Nachbar!?

Oktober 2017: Izmir | Ankara | Konya | Istanbul

In Istanbul peitscht der Regen über den Bosporus, die Fähre von Kadıköy nach Karaköy schwankt im Sturm. Die İstiklal Caddesi, Istanbuls zentrale Spaziermeile, ist aufgerissen; wie an vielen anderen Stellen in der Türkei wird also auch hier gebaut. Die von Touristen gern fotografierte historische Straßenbahn fährt erstmal nicht mehr – es ist insgesamt unwirtlich. Das liegt aber vor allem am Wetter und den Baustellen: Anders als 2016 fühlt sich die Stadt sonst unaufgeregt an und normal, die riesengroßen Plakate mit politischen Botschaften, die im letzten Jahr einen Schleier politischer Dringlichkeit über das ganze Zentrum gelegt hatten, gibt es dieses Jahr nicht (außer die Fahnen und Atatürk-Banner in den CHP-regierten Stadtteilen): Das Leben brummt scheinbar wie immer. Es heißt, die Zahlen europäischer Touristen seien auch in Istanbul wieder gestiegen – nachdem ich in den anderen Städten dieser Reise scheinbar der einzige Europäer war, hört man jetzt auch ein paar Worte deutsch und englisch, sieht Menschen mit großen Kameras, Touristen. „Her sey iyi olacak“, „Alles wird gut“, sagt ein Freund – die anderen kommen zurück. Trotzdem fühlt sich die Stadt wieder ein Stückchen „fremder“ an: In Beyoğlu prägen mehr arabische Besucher*innen das Stadtbild; in den Buchhandlungsauslagen werden sie vom Kleinen Prinz und Shakespeare auf Arabisch begrüßt.

Şişli, Istanbul 2017

Şişli, Istanbul 2017

Nach Izmir, Ankara und Konya gibt es nun wieder Kunst zu sehen. Von September bis November findet die 15. Istanbul Biennale statt; ihr Leitmotiv heißt „Iyi Bir Komşu“, „Ein guter Nachbar“. Da kann man alles mögliche Politische oder Unpolitische hineinlesen – das Thema wird auf der Website vor allem mit der Liste von Fragen umrissen. Die Fragen finden sich auch überall in Beyoğlu auf Plakaten; zumindest hier wird die Biennale im Stadtbild sichtbar. Der Guardian fragte: „Istanbul Biennial hires provocative curators, but where is the political art?“ Die Kuratoren sind Elmgreen & Dragset, ein offen schwules Künstler-Duo aus Schweden – Gender-Themen spielen in ihren Werken und an allen Biennale-Standorten eine große Rolle. Das ist dann durchaus politisch in einem Land, dessen Gesellschaft sich wieder stark hin zum traditionellen Rollenmodell verändert, in dem Gay Prides untersagt werden, die Regenbogenfahne nach den Gezi-Unruhen 2013 nun kaum mehr zu sehen ist.

İyi bir komşu / Ein guter Nachbar, Istanbul Biennale 2017

İyi bir komşu / Ein guter Nachbar, Istanbul Biennale 2017

Das Pera Müzesi im ehemaligen Bristol Hotel, entworfen von Achille Manoussos 1893, ist einer der Biennale-Standorte. Das Museum in Beyoğlu ist seit 2005 Privatmuseum der Suna-und-İnan-Kıraç-Stiftung, die mit der Industriellen-Familie Koç verbunden ist, Sponsor der Istanbul Biennale. Während die zeitgenössische Kunst der Biennale auf drei Etagen gegenwärtig ist, atmet das Gebäude die Geschichte des alten, reichen Pera. Spürbar zum Beispiel im edlen Museumscafé Pera, in dem sich Damen der Istanbuler High Society gerade von den Kunstführungen erholen, der Kaffee auf Tischunterlagen mit Drucken orientalisierender Gemälde europäischer Künstler.

Fred Wilson: Arap değil / Nicht arabisch, Istanbul Biennale 2017

Fred Wilson: Arap değil / Nicht arabisch, Istanbul Biennale 2017

Viel westlich-internationale Kunst ist zu sehen, z. B. Fotoarbeiten von Lee Miller, die erst kürzlich im Martin-Gropius-Bau in Berlin ausgestellt wurden. Und trotzdem gibt es immer wieder Entdeckungen zu ost-westlichen Themen, Impulse zum Nachdenken, scheint Unbekanntes auf. In „Ben… Afrikalıyım / I… am from Africa“ setzt sich Fred Wilson mit einem Aspekt der osmanischen Geschichte auseinander. Wilson, amerikanischer Künstler mit „African, Native American, European and Amerindian roots“ (Wikipedia), schaut in „Afro Kismet (Afro Schicksal)“ auf die historische Rolle der Schwarzen im Osmanischen Reich. Die gelangten im Zuge des osmanischen Sklavenhandels in die Region, werden heute Afro-Turks oder Afro-Anatolians genannt. Wenige Schritte entfernt vom herrschaftlichen Pera Müzesi beginnen übrigens die armen Viertel, in denen heute schwarze Geflüchtete leben, illegal, die neuen Sklaven der kapitalistischen Gesellschaft. Zum Thema Migration und Flucht stellt auch Olaf Metzel aus, diesmal einziger deutscher Künstler: Im Galata-Gymnasium, einem weiteren Biennale-Standort, ist die „Sammelstelle“ (1992/2017) aufgebaut, eine Adaption seiner 1992er Arbeit zu jugoslawischen Geflüchteten auf die 2017er Gegenwart syrischer Geflüchteter. Ekan Özgen zeigt im selben Haus in dem Video „Harikalar Diyarı / Wonderland“ den im Krieg gehör-und sprachlos gewordenen 13-jährigen Mohhamad aus Syrien, der mit seinem Körper und in Gebärdensprache eindringlich seine Geschichte als syrischer Flüchtling erzählt.

Çandeğer Furtun: İsimsiz/o. T., 1994–1996, Istanbul Biennale 2017

Çandeğer Furtun: İsimsiz/o. T., 1994–1996, Istanbul Biennale 2017

Gerade in einer männerdominierten Gesellschaft wie der der Türkei sind Werke spannend, die sich künstlerisch mit der Rolle von Mann und Frau auseinandersetzen. Von denen gibt es diesmal dank Elmgreen & Dragset viele – Ergänzung zu meinen Reiseerlebnissen, z. B. zu den Bauarbeiterinnen mit Kopftuch unter dem Bauhelm in Konya, zur Muslima am Boxautomaten in Ankara, die stolz von ihren Freund betrachtet wird, zum relaxten Miteinander von Studentinnen und Studenten in Izmir. Der Eintritt zur Biennale ist frei – eine wichtige Voraussetzung, dass deren Themen auch nach draußen gelangen, z. B. über die Schulklassen unter den Besuchern. Im Pera Müzesi thematisiert z. B. Gözde Ilkin Fragen von Geschlecht und Sexualität, mit Männer in intimen Posen, in scheinbarer traditioneller Stickerei und auf traditionellen Stoffen. Im Küçük Mustafa Paşa Hammam im besonders islamisch geprägten Stadtteil Fatih stellt Monica Bonvicini aus, mit Unterstützung der deutschen Galerie König und des IFA Instituts für Auslandsbeziehungen, geschützt durch Copyright der deutschen VG Wort. Im stillgelegten Hamam werden im früher Männer vorbehaltenen Teil eine Foto-Collage weiblicher Körperteile aus Hochglanzmagazinen gezeigt, in einem weiteren Raum „Belt Out“, ein Kubus aus schwarzen Männerledergürteln. Und ringsherum werden in dem Viertel, das mit der Renaturierung des Goldenen Horns auch für Investoren wieder attraktiv wurde, erstmal noch die Traditionen gelebt.

Monica Bonvicini: Belt out, Istanbul Biennale 2017

Monica Bonvicini: Belt out, Istanbul Biennale 2017

Auch außerhalb der Biennale wird sich in den Kunsträumen der Stadt Gender-Themen gewidmet: „The Myth of Men“ heißt die aktuelle Ausstellung in der Leica-Fotogalerie in Bomontiada, hipper Kulturort in einer stillgelegten Brauerei, umgeben von den neuen Istanbuler Wolkenkratzern. In Videoarbeiten und Fotografien fragen Ahmet Polat (mit türkisch-niederländischem Background), Lucas de Man und Rashif El Kaoui „What’s in man?“ und stellen fest: „Men are slowly loosing dominance within all layers of society“. In der türkischen? Ob das so ist? Mit Videos von Männern, die Schafe schlachten, solchen, die miteinander ölringen, oder fast androgynen Derwischschülern in weißen Kleidern bei der Tanzausbildung kann man darüber nachdenken. Dass es inzwischen in Istanbul auch einige weibliche Derwische in den früher traditionell Männern vorbehaltenen Orden gibt [Deutschlandfunk], dürfte für manche die These von der verlorenen Dominanz bestätigen. Im Arter Space auf der Istiklal Caddesi hat die türkische Künstlerin CANAN eine große Einzelausstellung: „Behind Mount Qaf“, „Kaf Dağ‘ının ardında“. Es gibt viele Arbeiten, die v. a. weibliche Nacktheit thematisieren, in manchmal mystischen Welten. Auch wenn die Ankündigungen dieser Ausstellung selbst erstmal nur von den Hauptthemen Himmel, Hölle und Fegefeuer reden, verbinden die Themen der zugehörigen Artist talks – z. B. „queer explorations of the body to intersections of feminism and art“ – die Verbindung zu den Mann-Frau-Themen der Biennale.

CANAN: Behind Mount Qaf / Kaf Dağ‘ının ardında, Arter 2017

CANAN: Behind Mount Qaf / Kaf Dağ‘ının ardında, Arter 2017

CANAN wurde früher vertreten von der in diesem Jahr plötzlich geschlossenen Rampa Galerie in Beşiktaş. Rampa schließt, ein neuer Kunstort entwickelt sich, an der Irmak Caddesi unterhalb von Tarlabası, in Dolapdere. Das Viertel am Tarlabaşı-Boulevard ist immer noch Synonym für den Bauboom in Istanbul, der die die ärmsten Einwohner*innen aus ihren citynahen Häusern vertreibt. Viel gebaut wurde in Tarlabaşı aber bisher offenbar nicht: Die alten Häuser verfallen, sind zum Teil illegal bewohnt von Geflüchteten, Sinti und Roma, den Ärmsten der Armen. Auf handgeklebten Plakaten wird für Pilgerreisen nach Mekka geworben. Die Straßen sind eng, das Holz, mit dem hier geheizt wird, liegt auf der Straße. Alte Kirchen, z. B. die griechisch-orthodoxe St.-Konstantin-Kirche, Aya Konstantin Rum Ortodoks Kilisesi, zeugen von einer anderen Geschichte.

Hurdacı / Trödler, Alteisenhändler, Istanbul 2017

Hurdacı / Trödler, Alteisenhändler, Istanbul 2017

„The bad side of Istanbul“, jeder warnt vor diesem Viertel. Und dann ist man durch – und die Welten prallen aufeinander. Neukölln, Mitte, Berlin – was ist die Berliner Gentrifizierung im Vergleich zu der im Zentrum von Istanbul? Am Rande von Tarlabaşı, in unmittelbarer Nähe zu kleinen dunklen Werkstätten, einer ganzen Ladenstraße nur für Schaufensterpuppen, zum Beispiel, wachsen blitzblanke Bürogebäude in den Himmel. Die weltweit operierenden Grimshaw Architects aus London bauen hier für die Vehbi Koç Vakfı/Stiftung, den Biennale-Sponsor, auch ein neues großes Museum für Zeitgenössische Kunst: Arter, das nach der Eröffnung wohl den Art Space gleichen Namens in der Istiklal Caddesi ersetzen wird. Man weiß es inzwischen, Kunst ist Teil des Marktes und wertet Grundstücke auf, besonders solche in attraktiver Citynähe. Der Koç-Familie, einer der reichsten der Türkei, verbunden mit der Vehbi Koç Stiftung und vor allem der milliardenschweren Koç Holding, dürfte daran gelegen sein.

Pilevneli Gallery: Everyone gets lighter, Istanbul 2017

Pilevneli Gallery: Everyone gets lighter, Istanbul 2017

In Erwartung des neuen Museums beginnen sich Galerien im Umfeld anzusiedeln – nicht wie in Berlin als rotzige Ladenprojekte, sondern gleich direkt in den neuen glitzernden Bürohäusern wie Dirimart (mit seiner Muttergalerie im reichen Nişantaşı): Nasan Tur stellt aus, Gözümdeki Kıymık, Splinter in My Eye, 2015 mit einer großen Einzelausstellung bei Blain Southern in Berlin. Wenn die Galerie nicht im Bürohaus residiert, dann in einem neu gebauten eigenen Gebäude oder einem aufwändig umgebauten alten. Mit Sichtbeton, bodentiefen Ausblicken auf die Welt da draußen, planvoll rostigen und unerschütterlichen Fassaden, Signal an die Welt da draußen und nach Schließung hermetischer Schutzpanzer vor ihr. Oder Bezug nehmend auf rostige Traditionen des Viertels? Neben der Pilevneli Gallery zum Beispiel steht noch die Lagerwerkstatt eines hurdacı, eines Trödlers und Alteisenhändler, der mit hurda, rostigem Alteisen, Metallabfällen, Schrottreifem seinen Lebensunterhalt verdient. Die Pilevneli Gallery dagegen ist ein Architektenstück von Emre Arolat, die großen Fenster schauen in allen Himmelsrichtungen auf die verfallen Häuser und die neue entstehenden. Eine große Leuchtschrift auf dem Dach verspricht bzw. konstatiert „Everyone gets lighter“ – ein Gegenstück zum Leuchtband zwischen den beiden Minaretten der Moschee gegenüber? Die Galerie ist groß, auf stylishen 5 Etagen stellt Hans op de Beeck aus, Sleeping Girl, Uyuyan Kız. Sympathische Mitarbeiterinnen der Galerien sprechen fließend englisch, erklären bereitwillig, führen lange durch die Räume – und warnen mich vor dem da draußen, davor, durch das Viertel wieder zurückzugehen, wo es, „You know…“, gefährlich sei.

Sancaklar Camii/Moschee, Istanbul 2017

Sancaklar Camii/Moschee, Istanbul 2017

Emre Arolat, der Architekt der Galerie, ist nun die Verbindung zurück in dieses Draußen, da wo die Schwarzen von Wilson sind, die Geflüchteten von Özgün und Metzel, meine Sprachlehrerin in Izmir, die Schulklasse in Ankara, die Freundin in Istanbul, der Taxifahrer in Konya. In Istanbul bringt uns Taxifahrer Tibet in die neue Sancaklar Camii, ebenfalls entworfen vom dafür preisgekrönten Emre Arolat. Vorher fährt der Metrobüs eine Stunde durch unendliche Neubaugebiete. Man meint kurz vor Bulgarien angekommen zu sein, wenn die neuen Wohnsiedlungen kurz den Feldern um den Büyükcekmece-See Platz machen. Auf einem der Felder nun steht die hypermoderne, unterirdische Sancaklar Camii. Passt, dass gerade Camiler ve Din Görevliler Haftası in der Türkei ist, die Woche der Moscheen und Religionsbediensteten. Wir sind nicht unbedingt wegen der Religion hier, sondern vor allem wegen der ungewöhnlichen Architektur. Taxifahrer Tibet ruft schon bei der Anfahrt: „Was? DAS ist eine Moschee? Die hat doch gar kein Minarett?“. Zumindest keins im klassischen Sinne und unterirdisch in den Berg gebaut ist sie auch noch. Eine Moschee im Niemandsland, noch, denn ringsum rücken die Baugebiete näher, werden schon Villen mit Blick auf den See angepriesen, ab 500.000 Euro. Das ist weit vor den Toren der Stadt aus den Reiseführern, aber auch das ist Istanbul. Und der Wind pfeift über die Felder und ganz in der Ferne glitzert der Bosporus.

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