İlelebet payidar: Laytmotif zum Republikgeburtstag in Ankara
Heute ist Cumhuriyet Bayramı, Feiertag der Republik, der wichtigste staatliche Feiertag in der Türkei – für einen Stadtspaziergang gibt es wohl keine passendere Zeit als das Wochenende davor, und keinen passenderen Ort als die Hauptstadt der Republik, Ankara. In Kızılay, wo ich wohne, werden alle Straßenlaternen des Atatürk-Boulevards mit zwei türkischen Flaggen geschmückt, an jedem öffentlichen und jedem Firmengebäude riesengroße Flaggenvarianten aufgezogen. Ansonsten geht das Leben natürlich trotzdem seinen üblichen Gang: Es wird viel Auto gefahren, eingekauft, flaniert, diskutiert, Tee getrunken, in Cafés gesessen.
Der Weg zum Herz der frühen türkischen Republik in Ulus führt vorbei an der vor einem Jahr von Präsident Erdoğan eröffneten Melike-Hatun-Moschee, einer großen Moschee traditionellen Typs. Drumherum gibt es jetzt einen großen, grünen, offenen Platz, wo bei meinem ersten Besuch in Ankara vor ein paar Jahren noch enge Straßen mit Märkten waren. Die Moschee steht nun mitten zwischen den eher sachlichen, klaren, damals der Zukunft zugewandten Bauten aus der „Gründerzeit“ Ankaras in den 1930ern und 40ern, zum Beispiel gegenüber der 1947/1948 von dem deutschen Architekten Paul Bonatz umgebauten Staatsoper Ankaras. Für die richtigen Sichtachsen auf die Moschee wurde das architektonisch interessante Gebäude der İller-Bank von 1935 abgerissen. Ein Stück weiter in der Ulus-Markthalle, gebaut 1930 vom Österreicher Robert Oerley, und drumherum wirbelt geschäftiges Marktreiben, wie jeden Tag.
Kurz nach der Markthalle, am Zafer Anıtı, dem Siegesdenkmal des Österreichers Heinrich Krippel, ist die Feiertagsaufgeregtheit schon zu spüren. Am Denkmal beginnt die Cumhuriyet Caddesi, die Republikstraße, die durch das frühere politische und wirtschaftliche Zentrum der Stadt führt. Am 29. Oktober 2018 wird der 95. Geburtstag der Republik gefeiert: Vor 100 Jahren kapitulierte das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg; ein paar Monate später begann unter der Führung von Gazi Mustafa Kemal Paşa Atatürk (sein Name je nach Situation und Einstellung in allen möglichen Varianten eingesetzt) der Unabhängigkeitskrieg. Der wird seit der Republikgründung 1923 im Bewusstsein gehalten, ist die Grunderzählung der Türkei: Also ist auch der zum Cumhuriyet Bayramı eröffnete neue, weltgrößte Flughafen in Istanbul ein Denkmal des Sieges, im Fernsehen gibt es Diskussionsrunden mit Experten zum Krieg, die aktuelle Kampagne gegen die Inflation ist mit dem Hashtag #Türkiyekazanacak versehen, die Türkei wird siegen. Atatürk hoch zu Ross, zwei Soldaten davor, eine Frau mit Granate auf den Schultern dahinter – das sind dann also auch beliebte Fotomotive des Siegesdenkmals.
Ein paar Schritte weiter auf der Geschichtsmeile steht das erste Gebäude des türkischen Parlaments, der Großen Nationalversammlung. Das I. TBMM Binası wurde genutzt von 1920 bis 1924, in den Kriegsjahren und bis kurz nach Kriegsende. Heute ist es Museum für den Befreiungskrieg: Im Hof drängen sich wartende Schulklassen um ein Geschütz (das allerdings französisch und von 1937 ist). Schulklasse um Schulklasse spucken die Reisebusse aus, Schüler*innen tragen Atatürk-Sticker, selbstausgedruckte Atatürk-Portraits oder Stirnbänder mit der Atatürk-Signatur und dem Aufdruck „Atam izinde“, „Auf den Spuren meines (Stamm)Vaters“.
Ein paar Meter weiter saugt das zweite Gebäude des türkischen Parlaments, genutzt von 1924 bis 1960 und heute Republikmuseum, unentwegt Menschen auf. Drinnen gibt es eine Mischung aus reduzierten Erklärtafeln und Objekten vor allem aus dem Leben Atatürks. Für die Schüler*innengruppen ist es ein Schnelldurchlauf: „Devam et“ rufen die Aufsichten unentwegt, „Weitergehen“, damit es nicht zu Staus kommt. Wenn auch das übliche Desinteresse von Teens zu sehen ist, spürt man doch vor allem ein aufgeregtes Dabeisein. Mir erscheint die Einrichtung ziemlich opulent: Kronleuchter, viel Gold, Gemälde von holländischen Kühen auf satten grünen Wiesen – man stellt sich dieses Gebäude in einem damals ansonsten eher dörflich-kargen Ankara vor, in einem eher dörflichen Land. Selbst heute noch werden die warmen Heizkörper staunend fotografiert – wohl immer noch nicht überall in der Türkei selbstverständlich.
An den Erklärungen zu den von Atatürk verkündeten sechs Verfassungsprinzipien wird eher schnell vorbeigegangen:
- Cumhuriyetçilik/Republikanismus
- Milliyetçilik/Nationalismus
- Halkçılık/Populismus
- Devletçilik/Etatismus
- Laiklik / Laizismus bzw. Säkularismus
- Devrimcilik/„Revolutionismus“
Umlagert sind die großen Atatürk-Gemälde und -Fotografien, vor denen Menschen jeden Alters fotografiert werden. Wo Atatürk nicht zu sehen ist, erlahmt das Interesse schnell. Zwei junge Männer stehen in einem extra Raum verträumt aneinandergelehnt vor einer großen Vitrine mit der türkischen Flagge. Der Osmanischen Flagge, um genau zu sein, ihr Stern und Halbmond haben noch nicht die heutigen Proportionen. Ihre Geschichte wird erzählt: Nach der Niederlage in Damaskus 1918 von den Briten vom osmanischen Hauptquartier entfernt, von einem britischen Armeeangehörigen nach Großbritannien gebracht, von dessen Enkel an die türkische Botschaft in London übergeben und 2014 wieder in die Türkei gelangt, fast 100 Jahre später.
With the monumental reforms we have undertaken
we have demonstrated to the world
that we are a modern civilized nation.
Mustafa Kemal Atatürk, 1928
Eski Türkçe, altes Türkisch, sagen die Schulkinder zu einigen der Texte in den Büchern und Dokumenten in den Vitrinen: Nach der Alphabet-Reform 1928 – lateinisch statt arabisch – und der darauf folgenden „Reinigung“ des Türkischen von arabischen und persischen Worten wäre inzwischen vieles von Atatürks frühen Zitaten und schriftlichen Hinterlassenschaften nicht mehr verständlich, wenn es nicht ins neue Türkisch, Öz Türkçe oder Ak Türkçe, übersetzt worden wäre. Die Inschriften auf dem Siegesdenkmal sind also auch zweisprachig – und über das allgegenwärtige Motto des Republikgeburtstags wundern sich nicht nur deutsche Neutürkisch-Lernende, sondern jüngere türkische Muttersprachler auch: „İlelebet payidar“. Wer ein bisschen Türkisch kann, ahnt, dass das aus der Mode gekommene Worte und veraltete Wortstrukturen sind, und kann sie mit einem herkömmlichen Wörterbuch nicht übersetzen. „İlelebet payidar“ bedeutet „auf immer und ewig existieren“ und ist Teil eines frühen Atatürk-Zitats: „Türkiye Cumhuriyeti, ilelebet payidar kalacaktır“ (Die Türkische Republik wird ewig existieren).
Wenn die Cumhuriyet Caddesi weiterführen würde als bis hinunter zum alten Bahnhof, würde sie direkt auf das Anıtkabir stoßen, das Mausoleum für Atatürk. Die grünen, weitläufigen Anlagen um das Anıtkabir – auch ein Ort des Durchatmens im ansonsten eher autofreundlichen Ankara – sind an diesem besonderen Wochenende natürlich voller Menschen. Wieder Schulklassen, Menschen jeden Alters, ein paar Touristen, sogar Brautpaare sind hier unterwegs, Kinder, Eltern, Politiker, Soldaten. Es entstehen auf den Treppen spontane große Gruppenaufnahmen. Der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier war bei seinem Ankara-Besuch auch gerade erst da. Zum Republikgeburtstag wird es hier eine große offizielle Zeremonie geben, ein Ritual seit 1953. In Ankara selbst werden an jeder Ecke republikanische Siegesspaziergänge angekündigt, freie Konzerte auf den großen Plätzen. Falsch geplant: Zum Republikgeburtstag bin ich schon auf dem Weg nach Eskişehir, nicht mehr im Herz der Republik. Im Schnellzug nach Ankara – das Bahnnetz demnächst groß erweitert mit Hilfe von Siemens und anderer deutscher Firmen – blendet die TCDD, die staatliche Eisenbahngesellschaft, auf den Bildschirmen immer wieder ein Bild des jungen Atatürk ein, mit Lammfellmütze und vor der Sprachreform. Und seine vollständige Prophezeiung: „Türkiye Cumhuriyeti ilelebet payidar kalacaktır.“