Wir schreiben jetzt das Jahr 1437. Sagt ein türkischer Kalender.
Auf meinem türkischen Tagesabreißkalender ist der 1. März, türkisch Mart, 2016 gleichzeitig auch der 21 Cemaziyelevvel 1437 und der 17 Şubat 1431. Die Türkei kennt also auch andere Zeitrechnungen als die, die auf Deutsch Gregorianischer Kalender genannt wird. Noch einigermaßen am Beginn des gregorianischen Jahres 2016 lohnt sich ein Blick in das Universum der solaren, lunaren und vielleicht auch lunisolaren Kalender, in Abend- und Morgenland, Christentum und Islam, Weihnachten, Ostern und Ramadan. Es wird gerechnet werden: Sechzig Sekunden sind eine Minute, sechzig Minuten eine Stunde, 24 Stunden ein Tag – aber nicht immer ergeben 365 Tage ein Jahr.
Das prominenteste Datumsformat auf dem türkischen Abreißkalender und einziges im deutschen gehört zum Gregorianischen Kalender, dem heute international am weitesten verbreiteten Kalender, 1582 vom katholischen Papst Gregor XIII. eingeführt. Im Englischen werden synonym für Gregorian calendar auch Western calendar und Christian calendar benutzt – deutliche Verweise auf eine christliche Zeitrechnung. Als Solarkalender orientiert sich dieser Kalender am astronomischen Sonnenjahr, seine Daten sind fest an den Lauf der Sonne gebunden. Weihnachten zum Beispiel, das Datum von Christi Geburt, findet immer in der gleichen sonnenarmen Jahreszeit am 24. Dezember statt. Die Jahreszählung beginnt im christlichen Jahr Null, im angenommenen Jahr der Geburt von Jesus Christus.
Diese Zeitrechnung wurde 1926 vollständig in der jungen türkischen Republik eingeführt – für alle nichtreligiösen Bereiche des öffentlichen Lebens, versteht sich. Es scheint zu Beginn Versuche gegeben zu haben, christlich gefärbte Bezeichnungen zu vermeiden, die Begriffe Internationaler oder Westlicher Kalender durchzusetzen. Gelungen ist das nicht: Auf Türkisch heißt er – neben Gregoryen takvim (takvim = Kalender, vom arabischen at-taqwīm) – heute offiziell Miladi takvim: Milat ist der türkische Begriff für Christi Geburt. Auch wenn Jesus, Sohn der Maria, Īsā ibn Maryam, als Prophet im islamischen Schrifttum vorkommt, ist es einigermaßen verständlich, dass in einem zu 99% muslimischen Land Einführung und Gebrauch eines christlichen Kalendersystems mitunter auch heute noch kritisch gesehen werden.
Nun kommt der Mond, noch nicht der Halbmond, ins Spiel: Das deutsche Wort Monat bezieht sich etymologisch direkt auf Mond. Ursprünglich bezeichnete ein Mond, ein Monat, die Spanne von einem Neumond bis zum nächsten. „Nach vielen Monden“ ist eine poetische, wenn auch veraltende, Umschreibung eines langen Zeitraums. Auch wenn ein gregorianischer Monat heute nichts mehr mit den Mondphasen zu tun hat, gibt es weiter mondbezogene Feiertage: Nach einem kombinierten Mond-Sonnenkalender richtet sich der Ostersonntag zum Beispiel nicht nach der Sonne, sondern immer nach dem ersten Frühlingsvollmond, der sonnendatumsmäßig springt und wandert. Damit fällt das gesamte christliche Osterfest (lateinisch übrigens pascha!), anders als Weihnachten, Jahr für Jahr auf andere Kalendertage zwischen dem 22. März und dem 25. April.
Die islamische Zeitrechnung nun ist komplett mondphasenbezogen; neben dem weltlichen gregorianischen Kalender für alle Bereiche des nicht-religiösen Lebens strukturiert sie auch heute noch allein das religiöse Leben in der Türkei und anderen muslimischen Ländern. Im Koran gibt es Abschnitte, die einen Mondkalender vorschreiben [mehr] – bei Laytmotif geht es natürlich ganz nüchtern-sachlich nur um den Lauf der Himmelskörper.
Auf Türkisch heißt der islamische Kalender Müslüman takvimi oder İslami takvim, in der Regel aber Hicri takvim: Ausgangspunkt der Jahreszählung ist die Hicret, deutsch Hidschra, der Auszug Mohammeds aus Mekka nach Medina im gregorianischen Jahr 622. Nach diesem Kalender schreiben wir heute das Jahr 1437, die zweite Jahreszahl auf meinem Abreißkalender. Übrigens: 1438 beginnt am 2. Oktober 2016, berechnet heute ganz zeitgemäß per Online-Datumskonvertierer.
Seit dem Jahr 622 hat es 43 mehr islamische als gregorianische Jahre gegeben, denn das islamische Jahr ist mit nur 354 Tagen 11 Tage kürzer als das gregorianische, letzteres im Mittel 365,2425 Tage lang. Kürzere islamische Jahre ergeben sich aus kürzeren islamischen Monaten: Jeder der 12 islamischen Monate entspricht weiter genau einem „Mond“, einer Mondphase. Das türkische Wort für den Monat und für den Himmelskörper ist entsprechend identisch: ay. Ein Mondmonat dauert immer genau 29,5 Tage, ist bis auf den Februar also immer kürzer als ein Sonnenmonat mit 30 bzw. 31. Tagen. Die 12 islamischen Monate „wandern“ über das Sonnenjahr, sind nicht an Jahreszeiten gebunden. Jedes Jahr „verfrühen“ sich alle 12 Monatsbeginne um 11 Tage. Der in der muslimischen Kultur wichtigste neunte Monat Ramadan heißt übersetzt der heiße Monat – wer bis jetzt alle Berechnungen verstanden hat, wird hier stutzig werden, denn: Wenn alle Monate immer 11 Tage früher beginnen, wandert auch der Ramadan Jahr für Jahr nach vorne. Und kann damit auch in einer Zeit liegen, wenn in Istanbul Schnee fällt, kann also ein kalter Monat sein. Im Jahr 2000 fiel der Ramadan in die christliche Weihnachtszeit – wenn wir richtig gerechnet haben, dürfte das im Jahr 2033 wieder so sein.
Klingt einigermaßen kompliziert für Sonnenmenschen, und eine wandernde Zeitrechnung ist seit jeher nicht praktikabel für die mit der Sonne gehende Landwirtschaft und die, die sie besteuern, letztlich für das gesamte Wirtschaftssystem. Nicht umsonst wurzelt das Wort Kalender im lateinischen Calendarium, Schuldbuch, das bei den Römern die Auszahlung von Darlehen und Fälligkeit von Zinsen regelte. Parallel zum Mondkalender gibt es in der islamischen Welt daher immer schon auch mehr oder weniger präsente Sonnenkalender, mit römischen oder arabischen Monatsnamen, mit der Hidschra als Startpunkt oder anderen islambezogenen prägnanten Daten.
Im Osmanischen Reich galt über Jahrhunderte für Steuer- und Finanzberechnungen der Julianische (Sonnen-)Kalender, von Julius Cäsar im Jahr 45 vor Chr. eingeführt und heute noch in vielen christlichen Kirchen gültig. Ab dem 19. Jahrhundert wurde dieser Kalender auch für andere osmanische Amtsgeschäfte offiziell eingeführt und verdrängte den Hidschra-Kalender Schritt für Schritt in den rein religiösen Bereich. Sein Name Rumi-Kalender, türkisch Rumi Takvim, „römischer Kalender“, hat einen direkten Bezug zum Römischen Reich – es darf spekuliert werden, ob die Osmanen diesen vorchristlichen Kalender für ein muslimisches Land für passender hielten oder einfach einer jahrhundertealten Praxis treu blieben. Nach dem Rumi-Kalender ist heute das Jahr 1431, die dritte Jahreszahl im türkischen Abreißkalender. Wenn schon die mondphasenbezogene Strukturierung des Alltags nicht praktikabel war und der Kalender einen „fremden“ Namen trug, sollte doch wenigstens die Jahreszählung des Rumi-Kalenders islambezogen sein: Die startet auch mit 0 im Jahr 622, dem Jahr des Auszugs Mohammeds aus Mekka nach Medina.
Erste Globalisierungserscheinungen: Der Austausch des Osmanischen Reichs mit der christlichen Welt intensivierte sich im 19. Jahrhundert und besonders Anfang des 20. Jahrhunderts, mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn bildet es eine Koalition im Ersten Weltkrieg – umständliche Hin-und Her-Berechnungen von Kalenderdaten störten natürlich Informationsflüsse. Mitten im ersten Weltkrieg wird der Rumi-Kalender also am 1. März 1917 vom julianischen auf den gregorianischen Kalender umgestellt: Auf den 15. Februar 1332 folgte dafür direkt der 1. März 1332 (1917). Seitdem läuft der Rumi-Kalender mit einer Differenz von 584 Jahren parallel zum Gregorianischen.
Mit der Ausrichtung der 1923 gegründeten türkischen Republik Richtung Westen wurde neben dem lateinischen Alphabet (1928), der Abschaffung der Scharia (1924), einer Kleiderreform (1925) auch der Rumi-Kalender offiziell vom Gregorianischen Kalender ersetzt, also auch die Jahreszählung ab Christi Geburt eingeführt. Alle Monatsnamen wurden dabei vom Rumi-Kalender übernommen, vier von ihnen 1945 dann gegen turkisierte ersetzt (Teşrin-i Evvel > Ekim/Oktober, Teşrin-i Sânî > Kasım/November, Kânûn-ı Evvel > Aralık/Dezember und Kânûn-ı Sânî > Ocak/Januar).
In der Türkei hat man sich auf das Nebeneinander zweier starker Kalendersysteme eingerichtet: Einerseits wird Neujahr nach dem sonnenbasierten Gregorianischen Kalender selbstverständlich zelebriert, andererseits organisiert sich das öffentliche Leben selbstverständlich um die mondbasierten islamischen Feiertage, allen voran den Ramadan, dessen (Fasten-)Regeln weit in das öffentliche Leben greifen. Schwieriger wird das in nach gregorianischem Kalender organisierten Gesellschaften, die zwar auf die Weihnachtspause oder die großen Sommerferien, aber nicht auf die Bedürfnisse derjenigen Rücksicht nehmen, die den Ramadan begehen.
Sonne und Mond wurden im Osmanischen Reich traditionell am 21. März zusammengeführt, wenn der osmanische Chefastrologe müneccimbaşı dem Sultan den offiziellen Kalender für das nächste Jahr übergab. Der müneccimbaşı war auch zuständig für die Auswahl der Zeitbestimmer in den osmanischen Moscheen, die für die Verkündung der Fastenzeiten und Kontrolle der Gebetszeiten verantwortlich waren (Kreiser, S. 172 ff.). Die Bedeutung des 21. März nun hat nichts mit dem Mond zu tun, es ist der Tag, an dem die Sonne den Frühlingspunkt erreicht. An diesem Tag wird im iranischen Kulturkreis das Neujahrs- oder Frühlingsfest gefeiert, Nevruz. Wegen seiner vorislamischen, iranischen und ja, auch kurdischen Dimension waren Nevruz-Feiern in der Türkei allerdings jahrzehntelang verboten – bis 1994, als man in Nevruz auch einen alt-türkischen Charakter entdeckte. In meinem Abreißkalender finden sich am 21. März Verweise darauf: İlkbahar başladı (Nevruz), der Frühling beginnt, 2009 von den Vereinten Nationen als Dünya Nevruz Günü, Internationaler Nouruz-Tag anerkannt.
PS: Das Wort kalender gibt es auch im Türkischen. Qalandar waren Sufi-Derwische, davon abgeleitet wird kalender über die Bedeutungen zurückgezogen lebender Derwisch, sehender Einsiedler und Philosoph heute mit dem schönen deutschen Wort Sonderling übersetzt. Die Kalenderhane-Moschee in Istanbul ist kein Ort für die Anbetung der Zeitrechnung, sondern eine für die Derwische in eine Moschee umgewandelte griechische Kirche.
Zum Weiterrechnen und -lesen:
Nikolaus A. Bär: Anmerkungen zu Fragen der mathematischen und technischen Chronologie (www.nabkal.de, Stand 01.03.2016)
Gregorianischer Kalender (Wikipedia, Stand 1. Februar 2016)
The Islamic Calendar of Turkey (www.staff.science.uu.nl, Stand 1. März 2016)
Islamische Zeitrechnung (Wikipedia, Stand 26. Oktober 2015)
Klaus Kreiser: Der Islamische Kalender und die Zeitrechnung, in: Istanbul: Ein historischer Stadtführer (C. H. Beck, 2009), S. 172 ff.