1917: Kriegsreisen: Der Kaiser fährt nach Konstantinopel. Und ein Pascha ins Ruhrgebiet.
1914 – 1923: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Republik Türkei
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2017 wird es wohl keinen Freundschaftsbesuch eines deutschen bei einem türkischen Staatsoberhaupt geben. Ganz anders war das vor 100 Jahren, 1917, dem Höhepunkt der ziemlich besten deutsch-osmanischen Freundschaft: Am 15. Oktober 1917 besucht der deutsche Kaiser Wilhelm II. den osmanischen Sultan Mehmed V. in Konstantinopel. Ein Programmpunkt, neben anderen, noch staatstragenderen, war ein Besuch auf der Baustelle für das Istanbuler Haus der Freundschaft – der deutsch-osmanischen. Der Grundstein für das Istanbuler Dostluk Yurdu war am 27. April 1917 gelegt worden, dem achten Thronbesteigungsjubiläum von Sultan Mehmed V., in Anwesenheit der osmanischen Regierung und des deutschen Fabrikanten Robert Bosch. Die osmanische Regierung hatte dafür ein Grundstück in der historischen Altstadt zur Verfügung gestellt, nahe den berühmten Moscheen und einem Sultansgrabmal. Monumental entworfen von dem deutschen Architekten Hans Poelzig – Architekt auch des Berliner Haus des Rundfunks in der Masurenallee und den Gebäuden um die Berliner Volksbühne – würde es nach seiner Fertigstellung die historische Istanbuler Moscheensilhouette mit dem Topkapı-Palast, deutlich verändert haben. [Entwürfe]
Das Haus der Freundschaft wurde aber nie fertiggebaut, der Kaiserbesuch in Konstantinopel sollte nach 1889 und 1898 sein letzter sein und der letzte Staatsbesuch eines deutschen Kaisers irgendwo überhaupt. Im Folgejahr 1918 würde Wilhelm II. mit dem Ende des I. Weltkriegs die Kaiserkrone verlieren, ohne noch eine andere Staatsvisite erledigt zu haben. Das deutete sich 1917 schon an – ob wohl ihre Majestäten Wilhelm II. und Mehmed V. ahnten, dass dieser Krieg das Aus für Amt und Würden und ihrer beider Staatsformen bedeuten würde? Die USA hatten Deutschland im Frühjahr 1917 den Krieg erklärt, nach dem Hungerwinter 1916/17 breitete sich Kriegsmüdigkeit aus. In Griechenland verlieren „germanophile“ Kräfte um den griechischen König Konstantin I. an Einfluss: Nach dessen Abdankung erklärt Griechenland 1917 den Kriegseintritt auf Seite der Alliierten. Es wird damit direkter Kriegsgegner des Osmanischen Reichs – ein Schritt, der die politische Entwicklung der direkten Nachbarn Türkei und Griechenlands bis heute prägt. An den sogenannten Nebenfronten des I. Weltkrieges werden Schlachten verloren: Aus heutiger Sicht war spätestens mit dem Fall von Bagdad – bis dahin osmanisch – an die Engländer im Frühjahr 1917 klar, dass das Schicksal des Osmanischen Reichs besiegelt war: Bagdad verloren, der strategisch und ideell wichtige Zielbahnhof des deutsch-osmanischen Großprojekts, der Bagdad-Bahn. Im Dezember verlieren osmanische und deutsche Truppen auch Jerusalem an die Briten – 400 Jahre osmanischer Herrschaft in der Region gehen damit zu Ende. Das Osmanische Reich war militärisch doch nicht so stark, wie es geglaubt hatte. Und die militärische Unterstützung durch das Deutsche Reich doch nicht so hilfreich.
Und trotzdem wurde beim Staatsbesuch in Konstantinopel weiter tapfer aufmarschiert: Der Kaiser trug wie schon auf dem Gemälde von 1916 beim Empfang durch den Sultan die türkische Uniform und die schwarze, hohe Pelzmütze. Es finden Paraden statt, auf der alten Galata-Brücke über das Goldene Horn; man stattet einem Dardanellenfort einen Besuch ab. Auf den Dardanellen, in Gallipoli wurde 1915/1916 die letzte große gemeinsame Schlacht gewonnen. Und der Kaiser besucht das Grab seines im Jahr zuvor in Bagdad gestorbenen Generalfeldmarschalls von der Goltz, der auf dem deutschen Soldatenfriedhof Tarabya in Konstantinopel begraben liegt.
Immer an des Kaisers Seite während des Besuchs sind Talât Pascha, Großwesir und damit Regierungschef des Osmanischen Reichs, und Enver Pascha, Kriegsminister und Stellvertreter des Großwesirs. Die eigentliche Macht im Reich lag nicht beim Sultan, der seit 1909 in Wesentlichen nur noch Repräsentationsaufgaben hatte, sondern seit 1913 beim Jungtürkischen Triumvirat, das aus den beiden genannten Paschas und einem weiteren, Marineminister Cemal Pascha, gebildet wurde. Ein Komitee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki Cemiyeti) der Bewegung der Jungtürken dominierte zwischen 1908 und 1918 das osmanische Regierungshandeln. Eine 1913 vom Komitee eingesetzte „Revolutionsregierung“ begann Reformen umzusetzen, die teilweise wie eine Blaupause für die Politik der jungen türkischen Republik ab 1923 wirken. Zunächst waren die Streitkräfte umgebaut worden, man richtete sich politisch nach Deutschland aus: Minister, Großwesire, Generäle beider Reiche waren 1917 längst im intensiven Arbeitskontakt. Die Ideologie des Türkismus und Turanismus wurde aktiv verfolgt. Dazu wurden schon Maßnahmen zur „Türkisierung“ der Sprache begonnen, und eine Wirtschaftspolitik auf den Weg gebracht, die die nicht muslimischen Minderheiten benachteiligte. Mann und Frau werden gleichgestellt, Frauen bekommen das Recht, sich scheiden zu lassen. Die Modernisierung der Ausbildung in den Islamschulen, den Medresen, wird begonnen, die Schulen selbst dem Staat unterstellt. So wie ab 1917 auch die islamischen Gerichte dem Justizministerium. Mit der Umstellung des amtlichen Kalenders vom Julianischen auf den Gregorianischen Kalender richtet man sich ganz amtlich nach dem „Westen“ aus.
Viele dieser Reformen wird Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) als Präsident der Türkischen Republik ab 1923 weiterführen. Historiker untersuchen, wie stark Atatürk mit der Bewegung der Jungtürken verbunden war; auf jeden Fall war er mit jungtürkischen Reformideenschon seit seiner Militärausbildung in Berührung gekommen – viele der Bestrebungen zu einer Reform des „Kranken Mann am Bosporus“ gingen von Militärkreisen aus. Von Mustafa Kemal gegründete Reformbewegungen fusionierten wohl auch mit Gruppierungen der Jungtürken. Mitglied des engen Führungszirkel, des Triumvirats der drei Paschas, war Atatürk wegen unterschiedlicher politischer Überzeugungen nicht. Ihn aus politischem Handeln herauszuhalten, war aber auch nicht möglich: Er war schließlich schon legendärer Heerführer, seitdem unter ihm 1915/16 die Schlacht von Gallipoli – mit 100000 Gefallenen auf beiden Seiten – gewonnen wurde. Seit 1916 durfte er wegen des Siegs den Ehrentitel Pascha führen; 1917 wird er zum Tümgeneral befördert, dem viertwichtigsten Generalsrang. Das Deutsche Reich verleiht ihm 1917 das Eiserne Kreuz gleich zweimal, 1. und 2. Klasse.
Ende 1917 fährt Mustafa Kemal Pascha in offizieller Mission nach Deutschland. Wilhelm II. hatte bei seinem Besuch den Sultan zum Gegenbesuch eingeladen, und der gebrechliche Mehmed V. schickte an seiner statt seinen Bruder, Veliaht Vahideddin. Mustafa Kemal ist als Militärattaché und persönlicher Adjutant Mitglied der Delegation. In Deutschland werden sie vom Kaiser, von Generalquartiermeister Erich Ludendorff, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und weiteren Generälen begrüßt. Es wird berichtet, dass sich Mustafa Kemal bei Truppenbesuchen und Gesprächen skeptisch zu einem Erfolg weiterer Offensiven äußerte. Trotzdem werden auch Rüstungsgüter begutachtet, bei einem Abstecher ins Ruhrgebiet, nach Essen, wo die Waffen für den Krieg profitabel produziert werden. Nach einem abschließenden Aufenthalt im Hotel Adlon in Berlin endet das Kriegsjahr 1917: Der Sultansbruder, Mustafa Kemal Pascha und die übrige Delegation nehmen am 1. Januar 1918 den Balkanexpress zurück nach Konstantinopel.
PS: Gibt es auch noch andere, kleine Geschichten neben den Kriegsgeschichten unserer Kaiser und Sultane, Generäle und späteren Präsidenten, dem Stoff der Geschichtsschreibung? Ja, zum Beispiel die des Türken Achmed Talib, der im April 1917 zusammen mit 300 anderen türkischen Lehrlingen von der Deutsch-Türkischen Vereinigung (DTV) nach Berlin vermittelt wird. Die DTV, Initiatorin auch des Istanbuler Haus der Freundschaft und eines Gegenstücks in Berlin, organisierte den Lehrlingsaustausch, zur späteren Beförderung deutscher Projekte im Osmanischen Reich. 1917 waren so schon 2000 Türken in Berlin registriert; einige von ihnen lebten abgeschieden in einem türkischen Schullandheim im Grunewald. Der 1901 geborene Achmed Talib sollte über das Ende des Krieges 1918 hinaus in Deutschland bleiben: 1921 besteht er seine Gesellenprüfung in Fürstenwalde, wird 1927 Vater eines Kindes mit Anna Höhnow. Im gleichen Jahr verliert er seine türkische Staatsbürgerschaft, ist 34 Jahre staatenlos, als ihn 1961 endlich die DDR einbürgert. Nach 47 Jahren, 1965, trifft er seine Schwester wieder, die im anderen Teil Deutschlands „Gastarbeiterin“ ist. Talib stirbt 1983 in Fürstenwalde, DDR.
Zum Weiterlesen und -sehen:
„Der Kaiser bei unseren türkischen Verbündeten 1917“ (Filmothek Bundesarchiv)
Komitee für Einheit und Fortschritt (Wikipedia, Stand 12.04.2017)
Klaus Kreiser: Deutsch-türkische Gesellschaften von Wilhelm II. bis Konrad Adenauer
Klaus Kreiser: Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich: Zerreißprobe am Bosporus (deutschlandfunk.de, 31.12.2013)
Paul Leidinger, Ulrich Hillebrand: Deutsch-Türkische Beziehungen im Jahrhundert zwischen Erstem Weltkrieg und Gegenwart (LIT Verlag Münster, 2017)
Osmanisches Reich / Jungtürken und Zweite Verfassungsperiode: 1908 bis 1918 (Wikipedia, Stand 05.10.2017)
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