1919: Mauser-Gewehr und Seelenadel – der türkische Befreiungskrieg beginnt

1914 – 1923: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Republik Türkei

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„Ihm war zu Ohren gekommen, dass wegen der Inflation in Deutschland Ausländer dort sehr günstig leben konnten, dass man sogar mit weniger Geld auskäme als in Istanbul.“
Sabahattin Ali, Die Madonna im Pelzmantel

Der türkische Protagonist des Romans Die Madonna im Pelzmantel geht 1919 auch ins Nachkriegs-Berlin, um vom günstigen Wechselkurs der deutschen Währung zu profitieren. In Deutschland überstürzen sich die Ereignisse, diverse extreme und gemäßigte rechte und linke Kräfte kämpfen um die politische Macht: Im Januar 1919 werden die Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet; die Wahlen zur Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung finden statt. In Weimar wird in diesem Jahr nicht nur das Bauhaus gegründet (das später bis in die Türkei ausstrahlen sollte); wegen der unsicheren politischen Lage in Berlin konstituiert sich auch die Deutsche Nationalversammlung dort. 1919 beginnt eine Hyperinflation, als Folge der massiven staatlichen Ausweitung der Geldmenge, um Staatsschulden und Kriegsverbindlichkeiten auszugleichen. Der Friedensvertrag von Versailles stellt die alleinige Kriegsschuld des Deutschen Reichs fest und verpflichtet es zu erheblichen Reparationsleistungen. Die Deutsche Nationalversammlung nimmt den Vertrag, wenn auch unter Protest, an.

Deutschland verpflichtet sich, alle Vereinbarungen anzuerkennen und gutzuheißen, die von den alliierten und assoziierten Mächten mit der Türkei und Bulgarien hinsichtlich jeglicher Rechte, Interessen und Vorrechte abgeschlossen werden, auf welche Deutschland oder deutsche Reichsangehörige in der Türkei und in Bulgarien etwa Anspruch erheben können, soweit über sie im gegenwärtigen Vertrag nichts bestimmt ist.
Vertrag von Versailles, Artikel 155

Der Waffenstillstand von Moudros hatte schon das Osmanische Reich 1918 verpflichtet, alle Deutschen – zivil oder militärisch – binnen kürzester Zeit des Landes zu verweisen, alle wirtschaftlichen und kommunikativen Verbindungen mit Deutschland zu kappen. Der Vertrag von Versailles nun schreibt, diplomatisch verklausuliert, im Prinzip das Gleiche noch einmal für die Weimarer Republik fest. Um den Abbruch aller bestehenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu bewirken und den Aufbau neuer zu verhindern, muss Deutschland in Artikel 155 auf Rechte und Interessen im Osmanischen Reich und in Artikel 258 auf die Einflussnahme über deutsche Vertreter in osmanischen Institutionen (wie sie bis zu Kriegsende üblich war) verzichten. In Artikel 259 wird das Deutsche Reich zu umfassenden Leistungen an die Alliierten aus deutsch-osmanischen Geldgeschäften verpflichtet, in Artikel 290 werden alle Verträge aufgehoben, die seit 1. August 1914 mit dem Osmanischen Reich geschlossen wurden (vgl. ausführlich Mangold-Will: Begrenzte Freundschaft, ab S. 37). Damit scheint eine Koalition zwischen Türken und Deutschen für alle Zukunft verhindert. Die kommenden Jahre und Jahrzehnte werden allerdings zeigen, dass es doch wieder zu Annäherungen kam: Unterhalb der offiziellen Ebene sowieso, nach 40, 50 Jahre dann z. B. offiziell mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. 100 Jahre später sind die Handelsbeziehungen sehr eng: Deutschland führte 2018 aus der Türkei Waren im Wert von 16,3 Mrd. Euro ein, ist damit ihr wichtigster Exportpartner. Aus Deutschland wurden Waren im Wert von 19,2 Mrd. Euro eingeführt; Deutschland ist nach China zweitwichtigster Importpartner der Türkei.

Alliierte Schiffe auf dem Bosporus, zwischen 1919 und 1922 (Library of Congress, loc.gov/item/2010650592)
Alliierte Schiffe auf dem Bosporus, zwischen 1919 und 1922 (Library of Congress, loc.gov/item/2010650592)

Die Aussetzung der diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Istanbul ist nach Kriegsende zunächst einseitig: Ende 1918 schon verließ der deutsche Botschafter die osmanische Hauptstadt, erst im September 1919 wird der osmanische Botschafter aus Berlin zurückbeordert. Er hatte sich vergeblich um die Auslieferung von Talat, Enver und Cemal Pascha bemüht, der früheren starken Männer der türkischen Politik, die sich ins deutsche Exil geflüchtet hatten. Sie waren von der pro-britischen Regierung in Istanbul 1919 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden; dem darauf folgenden Auslieferungswunsch kommen die deutschen Behörden jedoch nicht nach. Unterstützt wird das Auslieferungsbegehren auch vom „Türkischen Club“ in Berlin, in dem sich vor allem türkische Marinesoldaten und Studenten organisiert hatten – und aus dessen Umfeld sich in Berlin die wohl erste türkische sozialistische Partei gründete, die Arbeiter- und Bauernpartei der Türkei, Türkiye İşçi ve Çiftçi Sosyalist Partisi. Währenddessen unternehmen Talat, Enver und Cemal aus dem Exil heraus verschiedene Anstrengungen, um die politische Entwicklung der Türkei zu beeinflussen, z. B. auch im Bund mit der Sowjetunion. In der Hoffnung auf ein politisches Comeback unterstützte wohl vor allem Talat von Berlin aus die Milizen in einem beginnenden türkischen Befreiungskrieg um Mustafa Kemal, später Atatürk. Mustafa Kemal wird – außerhalb Istanbuls – in diesem Jahr die ersten Fakten auf dem Weg zu einer unabhängigen Türkei schaffen.

U-Boot HMS M1 der britischen Royal Navy in Istanbul, 1919 (Milliyet)
U-Boot HMS M1 der britischen Royal Navy in Istanbul, 1919 (Milliyet)

„… mit einem Mauser-Gewehr auf der Schulter und mit auf der Brust sich kreuzenden Patronengurten behängt, in den Berge zogen…“
Sabahattin Ali, Die Madonna im Pelzmantel

In Istanbul gibt es zwar weiter einen Sultan und eine osmanische Regierung, das eigentliche Sagen haben allerdings britische, französische, italienische und griechische Einheiten, die in der Stadt stationiert sind. Sie überwachen auch den Abzug tausender Bosporus-Deutscher, die oft schon seit Jahrzehnten in der Stadt lebten. In der ersten Jahreshälfte 1919 verlassen fast alle verbliebenen Deutschen die Stadt, so wie die Familie des früheren Hofuhrmachers Johann Meyer, der seit 1876 im Osmanischen Reich lebte. Keine funktionierende Regierung, Gesetzlosigkeit, Nachkriegswirren, verschiedene Besatzungsmächte – das sind die Umstände, unter denen nach dem Waffenstillstand Anhänger eines unabhängigen türkischen Staats, mit dem Mauser-Gewehr über der Schulter, ab 1919 in eine Art Partisanenkrieg ziehen, Milizen, die sich aus dem Widerstand gegen den Feind bilden, teilweise aber auch Anarchie und Willkür verbreiten.

Die Gewehre des deutschen Waffenherstellers Mauser aus Oberndorf am schönen Neckar waren im Krieg dieser Milizen und im späteren „offiziellen“ türkischen Befreiungskrieg -zigtausendfach im Einsatz. Sabahattin Ali erwähnt sie in seinem Roman Die Madonna im Pelzmantel. Im Museum Pembe Köşk (Rosa Villa) in Ankara, 1925 bis 1973 bewohnt vom zweiten türkischen Präsidenten und Helden des Befreiungskriegs İsmet İnönü, werden auch Waffen ausgestellt: Fast ehrfürchtig und stolz zeigt der Museumsführer dem Besucher aus Deutschland die ausgestellten Mauser-Gewehre, die für den Sieg im Befreiungskrieg entscheidend gewesen seien. Mavzer, wie das Mauser-Gewehr auf türkisch genannt wird, war so populär, dass das Wort im Türkischen heute synonym für Pistole und Revolver genutzt wird. Und dass sich Menschen im Rahmen des Familiennamensgesetzes, das 1934 die Wahl eines Nachnamens obligatorisch machte, auch den Nachnamen Mavzer wählten. Der deutsche Waffenhersteller Mauser, heute Teil von Rheinmetall Defence, hatte seit den 1880ern hunderttausende Handfeuerwaffen ins Osmanische Reich geliefert. „Bedeutende Erfindungen machten die Mauser-Waffen in dieser Zeit weltbekannt. 1887 entstand das Mauser-Gewehr ,M 1887’, das speziell für die Türkei entwickelt wurde.“ schreibt Rheinmetall Defence heute noch auf seiner Website. So eng, intensiv und zukunftsträchtig waren die Geschäftsbeziehungen, dass am Firmensitz in Oberndorf 1887 für die osmanischen Offiziere, die die Waffen vor Ort prüften und abnahmen, eine Villa im orientalischen Stil errichtet wurde, der sogenannte Türkenbau.

Türkische und amerikanische Offiziere in Istanbul, 1919 (Library of Congress, loc.gov/item/2017667275)
Türkische und amerikanische Offiziere in Istanbul, 1919 (Library of Congress, loc.gov/item/2017667275)

Am 19. Mai des Jahres 2019 versammelten sich Präsident Erdoğan, die Vorsitzenden der großen türkischen Parteien, Offizielle und das Volk am Tütün İskelesi, dem Tabak-Anlegeplatz der anatolischen Schwarzmeerstadt Samsun, um einen 100. Jahrestag zu feiern: Am 19. Mai 1919 landen Mustafa Kemal und andere Militärs mit dem Frachtschiff Bandırma aus Istanbul kommend in Samsun. Zu Beginn des Jahres 1919 war Mustafa Kemals Lage in Istanbul mit dem Beginn der Einflussnahme der Alliierten auf die osmanische Regierung zunehmend unsicherer geworden – er ist schließlich hochdekorierter Militär mit durchaus vorhandenen Verbindungen zu den geflüchteten Jungtürken und nationalen Milizen in Anatolien. Die Ernennung zum Generalinspekteur und die Entsendung nach Anatolien durch Sultan Mehmed VI. Vahideddin im Mai 1919 bietet die Gelegenheit, Kritikern und Feinden in der Hauptstadt aus dem Weg zu gehen. Mehmed VI. dürfte einigermaßen darauf vertraut haben, dass Mustafa Kemal in Anatolien die Autorität des Sultans durchsetzen und die Reste des osmanischen Heeres dort würde demobilisieren helfen – schließlich kennt man sich gut durch die gemeinsame Reise 1917/1918 ins Hauptquartier der deutschen Armee.

„Als ich nach Samsun abreiste, hatte ich keinerlei materielle Gewalt, sondern bloß den Glauben an den Seelenadel der türkischen Nation.“
Atatürk 1937

100 Jahre später gibt es keine osmanischen Sultane mehr, und kein Osmanisches Reich. Istanbul ist nicht in britische, französische, italienische und griechische Einflussgebiete aufgeteilt – das Datum von Atatürks Ankunft in Samsun wird in der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung inzwischen als Beginn des Türkischen Befreiungskriegs, Kurtuluş Savaşı, definiert. Ein Krieg, der die alliierte Besatzung der Nachkriegszeit beenden und in der Gründung einer unabhängigen türkischen Republik münden würde. Das konnten Kemal und seine Gefolgsleute 1919 noch nicht wissen, und selbst 1936 noch war der 19. Mai noch nicht ganz so historisch aufgeladen wie heute – wenn man dem auf Wikipedia nacherzählten Dialog Atatürks und seiner Gefährten Glauben schenken möchte. Dass die Bandırma 1925 komplett verschrottet wurde, erst 2001 als Replika wiederauferstand und 2003 von Erdoğan als Museumsschiff eingeweiht wurde, darf dafür allerdings als Indiz gelten. Heute kann man bei Türkmodel ein Schiffsmodell der Bandırma zum Selberbauen bestellen; der 19. Mai wird alljährlich als Atatürk’ü Anma, Gençlik ve Spor Bayramı begangen, Gedenktag für Atatürk und gleichzeitig Tag des Sports und der Jugend. Weil Mustafa Kemals Geburtsdatum nicht genau feststand, wählte der selbst dafür – ganz symbolisch – den 19. Mai.

Zum 50. Jahrestag der Landung in Samsun 1969 hielt der – wegen seiner Nähe zum Nazi-Regime umstrittene – Turkologe Gotthard Jäschke einen begeisterten Vortrag vor den Deutsch-Türkischen Gesellschaften in Bonn und Münster (Jäschke, Unabhängigkeitskrieg), der das rekonstruiert, „was damals der ganzen Welt als ein Wunder erschien“: der Weg zu einer Türkei, die sich selbst von den Auflagen der Siegermächte befreien haben würde. Atatürk selbst beschrieb das 1927 in seiner 36-stündigen Marathonrede Nutuk, es gibt Protokolle der Großen Nationalversammlung, heute zugängliche Militärberichte der türkischen Armee und der damaligen Siegermächte, Bücher und Artikel, Memoiren, amtliche Werke und Publikationen historischer Gesellschaften. Ein „Wunder“ war der letztendliche Sieg im Befreiungskrieg – einer Reihe einzelner kriegerischer Auseinandersetzungen mit Griechenland, Frankreich, Armenien, die von z. B. von Großbritannien und Italien unterstützt wurden – natürlich nicht. Er war bitter erkämpft mit Zehntausenden Toten auf allen Seiten, aus kriegerischen Handlungen, aber auch ethnischen Auseinandersetzungen. Er war Ergebnis strategischer und taktischer Klugheit der türkischen Sieger einerseits, aber auch der Kriegsmüdigkeit bei den Alliierten anderseits: Innerhalb der Grenzen der heutigen Türkei gab es schließlich für die alten Kolonialmächte auch nicht mehr viel zu holen.

„İlk Kurşun“, Izmir 2019

In Izmir erinnert heute noch das Denkmal „İlk Kurşun“ (Erste Kugel) an Hasan Tahsin, der den ersten Schuss im Befreiungskrieg abgegeben haben soll. Der Schuss fiel in Richtung griechische Soldaten, die am 15. Mai 1919 in Izmir einmarschierten, unterstützt von der britischen Regierung. Hasan Tahsin wird getötet; dieser Einmarsch griechischer Truppen und ihr Marsch Richtung Anatolien aber entfacht ein türkisches Nationalgefühl und konkret den türkischen bewaffneten Widerstand. Ein paar Tage später beginnt Mustafa Kemal nach der Landung in Samsun, diesen Widerstand zu organisieren, Allianzen zu schmieden. Er war offiziell zur Bekämpfung griechischer Milizen um Samsun gereist – diesen Teil der Aufgabe dürfte er weiter erfüllt haben. Die militärische Demobilisierung der ostanatolischen Armee allerdings nicht: Sie und andere militärische Kräfte werden – zusammen mit ihren Mauser-Gewehren und den übrigen Weltkriegswaffen – seine Verbündeten im Krieg gegen die Besatzungstruppen. Kemal kommt dem Befehl zur Rückkehr nach Istanbul nicht nach, wird entlassen und legt die osmanische Uniform ab. Schon im Sommer/Herbst 1919 werden in Erzurum und Sivas Kongresse der Nationalbewegung mit Mustafa Kemal an der Spitze einberufen, die Entscheidungen zur Organisation einer zukünftigen, territorial geeinten, souveränen Türkei verabschieden. Der Kongress in Sivas wählt ein 15-köpfiges Repräsentativkomitee, Heyet-i Temsiliye, das unter dem Vorsitz Mustafa Kemals steht. Dieses Gremium mit weitreichenden politischen Entscheidungs- und Verhandlungsbefugnissen sollte der Vorläufer einer neuen türkischen Volksvertretung werden.

Mustafa Kemal und Delegierte des Kongresses in Sivas, 1919 (Library of Congress, loc.gov/item/2002697892)
Mustafa Kemal und Delegierte des Kongresses in Sivas, 1919 (Library of Congress, loc.gov/item/2002697892)

Der Widerstand einer Nationalbewegung gegen Verträge für Kriegsverlierer, angeführt von einem starken Mann – das ist im Nachkriegsdeutschland auf einiges Interesse gestoßen. Nicht ohne Vorgeschichte dürfte der Turkologe Gotthard Jäschke 1969 vom Wunder des Befreiungskriegs geschwärmt haben. In seinem Buch „Ataturk in the Nazi Imagination“ (in der Türkei „Naziler ve Atatürk“) beschreibt der Autor Stefan Ihrig die (anfängliche) Faszination, die für deutsche Nationalsozialisten von Atatürk ausging (Nazis im Türkenfieber, zeit.de, 2.7.2015). Nachdem Mustafa Kemal nur ein paar Tage nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags erstmals in der deutschen Presse thematisiert wurde, wird sein Weg und der der Türkei aus den Abhängigkeiten der Kapitulationsverträge in der Folge interessiert und wohlwollend begleitet (mehr dazu 1923/2023). Im sterbenden osmanischen Reich jedoch und bis heute in der Türkei, sind nicht alle nur wohlwollend oder begeistert. Der spätere Sturz des Sultans, die Abschaffung des osmanischen Kalifentitels, in der Folge Säkularisierung, Verwestlichung, Homogenisierung verschiedenster Ethnien unter der Idee eines Türkentums werden bis heute von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen kritisiert. „1919 yılı yalanlarla dolu bir tarihten ibaret“, „1919 ist ein Jahr voller historischer Lügen“, sagt eine Freundin noch heute, und meint damit nicht Lügen der Alliierten. 1919 formiert sich in der osmanischen, pro-britischen Regierung und in den regierungsnahen Medien in Istanbul schnell Widerstand gegen das Agieren Mustafa Kemals in Anatolien. Ali Kemal Bey, ein liberaler osmanischer Journalist, 1919 zeitweise Bildungs- und Innenminister der Regierung in Istanbul – und Urgroßvater des heutigen britischen Premierministers Boris Johnson – wird ein Sprachrohr der Kritiker: Als „Schlangen“, „Witzfiguren“, „Banditen“ , „Penner“ und „Landstreicher“ bezeichnet er die Kämpfer in der Nationalbewegung, mit ihrem „Räuberhäuptling“ Mustafa Kemal an der Spitze. Ali Kemal Bey ging davon aus, dass sich die Menschen in Anatolien, „gestützt auf die Scharia und den Sultan“, der Nationalbewegung erfolgreich entgegenstellen würden.

Im Dezember 1919 erringt aber erstmal die Nationalbewegung einen politischen Erfolg. Das in Sivas gegründete Repräsentativkomitee hatte erfolgreich Neuwahlen gefordert, die der Sultan unter politischem Druck und dem der Straße für Dezember ansetzt. Die „Gruppe zur Rettung des Vaterlandes“, Felâh-ı Vatan Grubu, Anhänger der Nationalbewegung, gewinnt die Mehrheit der Sitze im neuen Parlament; die – kurzlebige – neue Regierung setzt sich danach für die Anliegen der Nationalbewegung ein. Ebenfalls im Dezember 1919 stirbt der Deutsche Paul Lange, Hofkapellmeister unter den letzten drei osmanischen Sultanen. Er hatte seit 1880 in Istanbul gelebt und gearbeitet, als Gesangslehrer an der Deutschen Schule, Organist der Kaiserlich Deutschen Botschaftskapelle in Istanbul, im Rang eines türkischen Oberstleutnants als Inspekteur der osmanischen Marinemusik, ab 1908 als Hofkapellmeister. Als Bediensteter am Hofe des Sultans war Lange selbst nicht von den Ausweisungen aller Deutschen betroffen gewesen – nach seinem Tod und einem offiziell-zeremoniellen Staatsbegräbnis müssen seine Witwe und seine jüngste Tochter im Frühjahr 1920 Istanbul verlassen.

Und im Folgejahr 1920 gibt es türkische Orangen am Neckar, große Kundgebungen vor der Hagia Sophia, einen Diktatfrieden und eine Karl-May-Verfilmung von Muhsin Ertuğrul. Und die Türkei wird auch in der Türkei zur Türkei.

Zum Weiterlesen:
Sabahattin Ali: Die Madonna im Pelzmantel (Dörlemann, 2013)
Friedensvertrag von Versailles [„Versailler Vertrag“]. Vom 28. Juni 1919. (documentarchiv.de)
Gotthard Jäschke: Der Türkische Unabhängigkeitskrieg (1919-1922) in neuer Sicht (Mitteilungen der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, Heft 78, Bonn 1969, S. 11-17)
Yavuz Köse (Hg.): Osmanen in Hamburg – eine Beziehungsgeschichte zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Mit Beiträgen von Camilla Dawletschin-Linder, Malte Fuhrmann, Elke Hartmann, Yavuz Köse, Sabine Mangold-Will, Ulrich Moennig, Stefan Rahner, Sandra Schürmann, Tobias Völker (Hamburg 2016)
Sabine Mangold-Will: Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918-1933 (Wallstein, 2013)
Gerold Paul: Ein Pionier im Orient. Der Kartzower Komponist und Musikpädagoge Paul Lange-Bey wurde in seinem Geburtsort geehrt (Potsdamer Neueste Nachrichten, 27.07.2004)
Christian Staas: Nazis im Türkenfieber. Als München das deutsche Ankara werden sollte: Ein Gespräch mit dem Historiker Stefan Ihrig über Atatürk als Hitlers Vorbild (Die Zeit, 02.07.2015)
Türkischer Befreiungskrieg (Wikipedia, Stand 07.11.2019)

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