1922: Der Krieg endet. Und mit ihm das Sultanat des Hauses Osman.

1914 – 1923: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Republik Türkei

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1922 ist das Jahr, in dem auch im Osmanischen Reich aka Türkei der Krieg beendet wird, der diese Artikelserie seit ihrem Beginn vor 8 Jahren geprägt hat. Die (provisorische) Regierung unter Mustafa Kemal bzw. der Großen Nationalversammlung und Millionen kriegsgeplagte Menschen dürfen sich als Sieger fühlen. Atatürk, Krieg gewonnen, Sultanat abgeschafft, Republik gegründet: Solche Schlagworte sind – auch hier – schnell geschrieben, sind auch sonst verkürzt viel zu lesen, werden in Reden seit 100 Jahren wiederholt – die Komplexität der Prozesse dahinter wird für die eingängige Botschaft ausgeblendet: Auseinandersetzungen innerhalb einer sich neu findenden osmanisch-türkischen Gesellschaft, rivalisierende Gruppen innerhalb der Großen Nationalversammlung, Befürworter und Gegner einer Staatsreligion Islam, Monarchisten und Republikaner, die Rolle der europäischen Staaten, des (vielleicht, und wenn, dann heimlichen) Waffenlieferanten Deutschland, und vieles mehr.

Am Mittag des sechsten Tages waren wir in Smyrna. Die Landungsboote mit Kommissionären, Hoteldienern und lärmendem Volk kamen heran, und die Ausschiffung begann. Wir waren gegen den Radau schon abgehärtet, athmeten doch aber erst auf, als wir Paß- und Zollrevision hinter uns hatten, und in Madame Hucks »Grand-Hotel« saßen. Madame Huck war nämlich eine gemüthliche Berlinerin. Dies sagt Alles.
Julius Stinde, „Frau Buchholz im Orient“, 1888

Smyrna, das heutige Izmir, ist, nach allem, was man liest, auch 1922 zunächst noch ein durchaus lebenswerter Ort im Osmanischen Reich, vor allem wohl für die vor allem nicht-türkischen reichen Kaufleute der multikulturellen Vielvölkerstadt. Unter griechischer Besatzung stehend, scheint das Leben vom griechisch-türkischen Krieg in Anatolien relativ unbeeinflusst gewesen zu sein. Das alte Smyrna war in den repräsentativen Vierteln am Meer, an der heute noch existierenden Flaniermeile Kordon, deutlich geprägt von europäischem Geschmack und Architektur, ähnlich wie auch das westlich dominierte Pera in Istanbul. Die Antikenbegeisterung des alten Europa, dessen Verweis auf seine griechisch-antiken Wurzeln, gespeist auch durch archäologische Funde um Izmir herum, zum Beispiel in Pergamon und Milet, spiegelte sich nun auch in neoklassizistischen Hotel- und Geschäftsbauten der levantinisch-griechischen Community Smyrnas, reich geworden durch den Hafen und den Handel mit dem Hinterland. Im Kraemer Palace Hotel am Kordon, gegründet von dem Österreicher J. Kraemer, gab es einen Club Hellenique, deutsche Zeitungen und deutsches Bier; es war auch in Kriegszeiten einer der Hotspots luxuriösen levantinischen Lebens.

Kordon mit dem Grand Hotel Huck, Smyrna, vor dem Brand 1922. Library of Congress, 2009633137
Kordon mit dem Grand Hotel Huck und dem Grand Hotel Kraemer, Smyrna, vor dem Brand 1922. Library of Congress, 2009633137

Ein anderes prominentes Hotel mit Bezug in den deutschsprachigen Raum war das Grand Huck Hotel. Namensgeberin war eine Madame Huck aus Berlin, die das Hotel ab den 1880ern führte. Die Namensgenese von Hotel M. Mille über Hotel des Deux Auguste zu Grand Hotel Huck gibt auch Hinweise auf den seit den 1870ern wachsenden Einfluss der Deutschen auch in Smyrna, traditionell dominiert von französischen und griechischen Geschäftsleuten. In Julius Stindes mit 37 Auflagen überaus erfolgreichen Roman „Frau Buchholz im Orient“ von 1888 zeichnet eine Episode das Bild vom Leben im Smyrna, die deutliche Zweiteilung in den reichen „europäischen“ Teil und das „unzivilisierte“ türkische Hinterland, die europäische Herablassung gegenüber den „Orientalen“ mit denen allerdings ordentliche Profite erzielt wurden.

Smyrna, Kordon, nach dem Brand, nach 1922. Library of Congress, 2019705914
Smyrna, Kordon, nach dem Brand, nach 1922. Library of Congress, 2019705914

Beide Hotels gehen, wie auch viele andere Bauten, am 13. und 14. September 1922 in den Flammen des „Brands von Izmir“ (türkische Bezeichnung) bzw. der „Katastrophe von Smyrna“ (griechische Bezeichnung) unter: Die „Megali Idea“ griechischer Politiker platzt in dramatischer Art und Weise in Smyrna/Izmir. „Megali Idea“ braucht kaum übersetzt zu werden – es war die „Große Idee“ griechischer Politiker, die unklaren Verhältnisse nach dem I. Weltkrieg zu nutzen, Teile des schon geschrumpften Osmanischen Reichs militärisch in ein neues Groß-Griechenland einzuverleiben. Nationalismus im Dienste einer griechischen Nation, die sich seit den 1820ern mit der Unabhängigkeit einiger griechischer Gebiete vom Osmanischen Reich formt, aktiv unterstützt von dessen Gegnern Frankreich, Russland und Großbritannien, die erst einen bayrischen Prinzen – Otto, Sohn Ludwig I. – zum griechischen König machten und danach die griechische Monarchie des Hauses Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg unterstützten. 1922 nun werden die schon 1919 begonnenen Angriffe griechischer Truppen, politisch und militärisch unterstützt von Großbritannien, von türkischen Truppen zurückgeschlagen. Ein inzwischen ikonisches Foto eines nach vorn gebeugten, scheinbar sinnierenden Mustafa Kermal auf dem Schlachtfeld bei Afyon Kocatepe im August 1922 steht bis heute für diese Kriegstage.

Izmir, 2014. Silhouette und Gesicht von Mustafa Kemal
Izmir, 2014. Silhouette und Gesicht von Mustafa Kemal

Am 30. August 1922 besiegt die türkische Armee die griechischen Truppen in Anatolien vernichtend, der entscheidende Sieg im türkischen Unabhängigkeitskrieg. Der Tag ist als 30 Ağustos Zafer Bayramı, Tag des Sieges, bis heute Feiertag in der Türkei. Die türkischen Truppen treiben die versprengten Überreste der griechischen Armee zurück nach Smyrna, von wo aus sie ihren Feldzug Richtung Ankara angetreten hatte. Am 9. September 1922 erreichen Mustafa Kemal und seine Truppen die Stadt; der Name der Universität von Izmir, Dokuz Eylül Üniversitesi, 9.-September-Universität, erinnert bis heute an diesen Tag. Die Sieger logieren zunächst im luxuriösen Kraemer Palace Hotel. Wenige Tage nach der Einnahme der Stadt gehen die griechisch-armenischen Stadtviertel und mit ihnen das Kraemer in Flammen auf. Wer die Brandstifter sind, ist bis heute umstritten. Die griechisch-armenische, levantinische Bevölkerung – hinter sich die Flammen, vor sich das Meer – versucht, sich auf die Schiffe der Alliierten zu retten, die im Golf von Izmir ankerten. Zehntausende sterben. Die Jahrhunderte alte Tradition griechischer Siedlungen in der Region, in Pergamon/Bergama und Ephesos nahe Izmir, in Bodrum und an der Schwarzmeerküste kommt zu ihrem Ende; die Ereignisse sind Beginn für einen der größten Bevölkerungsaustausche der Geschichte im Jahr darauf.

Schuld und Mitschuld, Rache und Vergeltung, gerechte Strafe oder berechtigte Ansprüche: Wie diese Tage von Smyrna bewertet werden, variiert, je nachdem, welche Seite spricht. Giles Milton hat in seinem lesenswerten Paradise Lost. Smyrna 1922 auf Basis historischer Dokumente ein einigermaßen neutrales Bild dieser Tage gezeichnet. Die Türkei und Griechenland stehen sich bis heute, 100 Jahre später, feindselig gegenüber. Republikgründer Atatürk wird heute in Izmir weiter deutlich spürbarer verehrt als in anderen Großstädten der Türkei. Die Stadtregierung ist fest in Hand der kemalistischen CHP; die Ehrentage der Republik werden mit allem Pomp begangen. Die Rolle europäischer Mächte bei der Beförderung und Befeuerung eines griechischen Nationalismus als Bollwerk gegen das Osmanische Reich, in den 1820ern Frankreich, Russland und Großbritannien, in den 1920ern Großbritannien, Frankreich und Italien, bleibt oft unterbelichtet.

Unter dem Eindruck der Einnahme von Smyrna/Izmir beendet der Waffenstillstand von Mudanya im Oktober 1922 den Krieg auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs bzw. der Türkei. Die alten europäischen Kriegsmächte Italien, Frankreich und Vereinigtes Königreich auf der einen Seite und die Türkei auf der anderen beenden die Kriegshandlungen in der Region. Am Verhandlungstisch, ohne dass die türkische Befreiungsarmee im weiter durch die Alliierten besetzten Istanbul eingezogen wäre. Damit beginnt auch für die türkische Bevölkerung die Hoffnung auf das Ende des entbehrungsreichen, kriegsgeprägten Lebens der letzten Jahre, in Worte gefasst noch im August 1922 von Nâzım Hikmet in seinem Gedicht „Kağnı“ (Ochsenkarren) oder „Kadınlarımız“ (Unsere Frauen). Der kurdisch-türkische Sänger Ahmet Kaya, auch in Deutschland viel gehört von den Arbeitsmigranten und -migrantinnen aus der Türkei und ihren Nachkommen, verleiht Hikmet bis heute seine Stimme.

Die Waffenfabrik Mauser AG aus dem schwäbischen Oberndorf, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918 die Waffen in die Region lieferte – mavzer ist im Türkischen bis heute synonym für Pistole und Revolver – lässt 1922 die Waffen fallen und nennt sich nur noch Mauser-Werke AG. Messwerkzeuge sind nun ihre Verkaufsschlager – aber nur so lange, wie veränderte politische Rahmenbedingungen die Waffenproduktion in Deutschland wieder zuließen. An dieser Stelle soll ein Ausflug in weitere Verästelungen deutscher Firmengeschichte unternommen werden, schließlich geht es um Kontinuitäten bis in die Gegenwart. 1922 wird in Erfüllung des Versailler Vertrags auch die Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken AG (DWM), Mutterfirma von Mauser, zur Berlin-Karlsruher Industrie-Werke AG (BERKA) zivilisiert. Über die übernimmt Günther Quandt 1928 die Kontrolle, den künftigen Bedarf an Waffen wohl vorausahnend. Während der Nazizeit verdient das wieder Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken AG genannte Unternehmen prächtig mit der Waffenproduktion. Nachkommen und Erben Quandts gehören bis heute zu den reichsten Menschen Deutschlands.

Seit Kriegsende 1918 achtet die Interalliierte Militär-Kontrollkommission auf Basis des Versailler Vertrags darauf, dass es keine Beziehungen zwischen Deutschen und Türken gibt – es soll keine Kommunikation geben, keinen Handel, Deutsche dürfen türkischen Boden nicht betreten, deutsche Schiffe keine türkischen Häfen anlaufen. Vier Jahre nach Ende des I. Weltkrieges sind 1922 erste Justierungen und Lockerungen der Nachkriegsverträge zu verzeichnen. Erstmals dürfen deutsche Handelsschiffe wieder den Bosporus durchfahren, wenn auch noch nicht wieder in Istanbul oder Izmir anlegen. Die Weimarer Republik und Russland sind offizielle Teilnehmer der Konferenz von Genua zur Normalisierung des europäischen Wirtschafts- und Finanzsystems, inoffiziell ist auch die neue Türkei schon auf der Konferenz dabei. Spekulationen zu einer beargwöhnten Dreiecksbeziehung zwischen den drei Staaten machen die Runde. Detailreich schildert die Türkeiexpertin Sabine Mangoldt-Will (S. 86 ff.) geheime und halbgeheime Annäherungen ab 1922, Treffen von Vertretern der Reichswehr mit Ali Fuad, dem türkischen Botschafter in Moskau, Enkel des osmanischen Feldmarschalls Mehmed Ali Pascha, der als Ludwig Karl Friedrich Detroit, geboren wurde und später zum Islam übertrat. Die Lektüre der Details der Kriegs- und Nachkriegsdiplomatie dieser Zeit lässt über die Umstände und Hintergründe heutiger Kriege nachdenken: Da geht es um Vorteile, die die junge Weimarer Republik bzw. einige ihrer politischen Vertreter aus neuen Allianzen mit Russland und der Türkei v. a. gegen Großbritannien und Frankreich zu ziehen trachten, während sich auf dem Gebiet des osmanischen Reichs griechische und türkische Truppen gegenüberstanden, die wiederum mehr oder weniger offen von Frankreich, Großbritannien, Italien und Russland unterstützt wurden.

American Bakery, Ortaköy, Istanbul, 1922. Mit Schildern in Armenisch, Ladino, Englisch, Osmanischem Türkisch, Griechisch und Russisch. Library of Congress, 2001696166
American Bakery, Ortaköy, Istanbul, 1922. Mit Schildern in Armenisch, Ladino, Englisch, Osmanischem Türkisch, Griechisch und Russisch. Library of Congress, 2001696166

Bis zum Sommer 1922 spielen auch noch Enver Pascha und Cemal Pascha, die beiden verbleibenden Mitglieder des jungtürkischen Triumvirats, das bis 1918 das Osmanische Reich beherrschte und mit Hilfe des deutschen Militärs nach Berlin entkommen war, eine Rolle in den geopolitischen Neuordnungen nach dem I. Weltkrieg. Beide hatten Berlin anders als der im Jahr zuvor in der Stadt getötete Talat Pascha verlassen. Cemal Pascha, auch beteiligt am Verbindungsaufbau zwischen Sowjetrussland und der türkischen Unabhängigkeitsbewegung, wird im Juli 1922 im georgischen Tiflis von einem armenischen Kommando bei einem Attentat getötet. Im selben Jahr erscheint in Deutschland sein Buch „Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes“, dessen deutsche Originalausgabe bis heute verlegt und verkauft wird. Enver Pascha stirbt – für die Idee eines türkischen Großreichs kämpfend – im August 1922 in einem Gefecht mit der Roten Armee auf dem Gebiet des heutigen Tadschikistans. 14 Jahre länger, bis 1936, überlebt die Zigarettenfabrik Enver Bey aus Berlin-Friedrichshain, 1909 von ihrem Gründer in Verehrung ihres Namensgebers so genannt und Produzent solch klangvoller Sorten wie Die Dicke Enver, Ballnacht, Fabelhaft und Orient.

Werbung für Enver Bey Zigaretten, Berlin, 1927
Werbung für Enver Bey Zigaretten, Berlin, 1927

Ende November 1922 beginnen die Friedensgespräche von Lausanne, die 1923 zur Souveränität der Türkei führen werden, ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Republik. Ein anderer historischer Schritt auf diesem Weg war da schon vollzogen: Sultan Mehmed VI. Vahideddin, seit den letzten Wochen des I. Weltkriegs Sultan des Osmanischen Reiches, wenn auch die meiste Zeit ohne wirkliche Macht, verliert am 1. November 1922 seinen Titel. Regierung und Parlament unter Mustafa Kemal schaffen das Sultanat ab. Das gäbe es seit dem 16. März 1920, dem Tag, an dem alliierte Truppen Istanbul besetzten und formell auch das gesamte restliche Osmanische Reich, ohnehin schon nicht mehr, so die Begründung. Vier Jahre, nachdem dem deutschen Kaiser ähnliches widerfuhr, und mehr als 600 Jahre nachdem die Osmanen mit Osman I. die Weltbühne betraten, geht der 36. und letzte osmanische Sultan ins Exil.

Und im Folgejahr 1923 wird die Republik Türkei gegründet und Mustafa Kemal verkündet, die Republik ist die Ader eines Landes.

Zum Weiterlesen:
Ahmet Priştina Kent Arşivi Müzesi: Izmir Levantines (2020) Traces from Izmir History. apikam.org.tr (zuletzt abgerufen am 1.5.2023)
Kayın, Emel (o. J.) Evolution of Accommodation and the historical hotels in Izmir. levantineheritage.com (zuletzt abgerufen am 1.5.2023)
Mangold-Will, Sabine (2013) Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918-1933
Milton, Giles (2008) Paradise Lost. Smyrna 1922
Özkan, Ali (2012) Hotel Huck Smyrna: Outstanding Hotel of the Glorious Port-City. levantineheritage.com (zuletzt abgerufen am 1.5.2023)
Stinde, Julius (1888) Frau Buchholz im Orient. projekt-gutenberg.org (zuletzt abgerufen am 1.5.2023)

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