„Was mein Mund nicht sagen kann, sagen Tulpen aus Amsterdam.“ Oder in Istanbul.

Irgendwo im unwirtlichen und unzugänglichen Tien-Schan-Gebirge werden in diesen Wochen kleine, eher unscheinbare, vor allem rote Blumen blühen, wilde Tulpen in ihrer historischen Herkunftsregion. Weiter westlich wird zur gleichen Zeit im Istanbuler Gülhane-Park, Rosenhaus-Park, die Lale Zamanı, die Tulpenzeit, für ein Farben- und Formenfeuerwerk prächtiger Zuchttulpen sorgen. Und noch ein bisschen weiter nord-westlich erreichen Tulpenimporte ihren Höhepunkt in Deutschland, größter Abnehmer von Tulpen aus den Niederlanden, dem führenden Exportland dieser Blume. Zur aktuellen Tulpenzeit soll der Weg der Tulpe von Ost nach West begleitet werden, eine Geschichte der Poesie und der Liebe in Persien und im Osmanischen Reich, der Kommerzialisierung und späteren industrialisierten Züchtung in Mitteleuropa, die mit Tulpenzwiebeln aus Konstantinopel begann.

Sultanahmet, Istanbul
Sultanahmet, Istanbul

„Tulpen aus Amsterdam“? In ihrer heutigen, industrialisierten, Form schon. Die Vorfahren dieser besonderen Blume allerdings waren in Zentralasien beheimatet, irgendwo zwischen Russland, Tibet, China und Afghanistan. Bevor der holländische Keukenhof in der Neuzeit zur globalen Heimat der Tulpe gemacht wurde, hat die Pflanze eine jahrhundertelange Reise westwärts hinter sich, eine Reise, die – bei aller schablonenhaften Ungenauigkeit – mit dem Weg der Turkvölker aus ihrer zentralasiatischen Ursprungsregion westwärts, letztendlich bis nach Anatolien, Konstantinopel und darüberhinaus verbunden ist. Stationen der Tulpen-Reise in Zentralasien sind z. B. der heutige Turkstaat Kasachstan, in der Gegenwart Ausrichter von Tulpenfestivals und im ersten Jahrtausend Schauplatz des Ersten Türk-Kaganats, oder der Turkstaat Kirgistan, wo als gefährdet eingestufte Wildtulpen-Arten wachsen und die Blume als Nationalblume gilt. Eine plausible Theorie ist, dass die Turk-Nomaden die Blume aus ihrer Heimat weiter im Osten kannten, auf dem Weg nach Westen immer wieder den sich ebenfalls immer weiter westwärts ausbreitenden Wildtulpen begegneten und ihr deshalb in der Kultur dieser Völker eine besondere Rolle und Bedeutung zukam.

Gülhane-Park, Istanbul
Gülhane-Park, Istanbul

Kenn den Wert der Nacht, der Freundschaft!
Gib ihr Recht der holden Herzenslust!
Da der Mondschein herzerhellend und das Tulpenstück dir hold ist
Der persische Dichter Hafis, 1390

Die Tulpe wurde ab dem 4. Jahrhundert, v. a. ab ca. 1000 n. C. Bestandteil von Ikonografie, Sagen, Märchen und Gedichten im persischen Kulturraum, als Blume der Liebe und Leidenschaft (vgl. Musche) Mit Persien lieferten sich die türkisch-osmanischen Nomaden einerseits kriegerische Auseinandersetzungen, anderseits beeinflusste die hochentwickelte persische Kunst, Wissenschaft und Kultur die Entwicklung der Türken.

Beyoğlu, Istanbul
Beyoğlu, Istanbul

Erste Hinweise auf die Kultivierung der Tulpe in den Gärten Persiens stammen aus der ersten Jahrtausendwende, ein halbes Jahrtausend bevor die Pflanze nach Europa gelangte. Im Prolog des Buchs „Tulipomania“ zeichnet der Autor mögliche Begegnungen, z. B. in persischen Gärten, und erste Beschäftigungen der Türken mit der Tulpe nach. Die beiden Kulturen gemeinsame, verknüpfte Beziehung zur Tulpe zeigt sich auch im gleichen Namen für die Blume: Lale. Wie andere persische Begriffe ist das Wort ins Türkisch-Osmanische übernommen worden. Lale ist in der Türkei heute nicht nur der Name der Pflanze, sondern ein beliebter weiblicher Vorname, z. B. der türkischen Autorin Lale Müldür. In Deutschland ist der Name Lale ebenfalls angekommen, z. B. der der Fitnesstrainerin Lale Ceylan in der ARD-Fernsehserie „Sturm der Liebe“ oder der der Lale Shisha Bar in Berlin-Wedding, die 2021 mit einer Schießerei einige Berühmtheit erlangte.

Der Blick der Sonne ruft die Tulpen auf,
Jetzt ist, o Herz, dir zu erwachen Pflicht.
[…]
Wer am stillen Busen dir
Geruht hat einen Augenblick,
Wird zum Tulpenbeet der Welt,
Wo laute Farben schrein, nicht gehn.
Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī: Diwan-e Schams-e Tabrizi, ab 1243

Indiz für die (literarische) Bedeutung der Tulpe in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausend einerseits, der „Aneignung“ als wichtiges Symbol durch die Türken andererseits, ist die Erwähnung der Blume im Meisterwerk „Diwan-e Schams-e Tabrizi“ des bis heute überaus populären persischen Sufi-Mystikers Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī. Rumi lebte und starb in der heute türkischen Stadt Konya, im 13. Jahrhundert beherrscht von der ersten wichtigen türkischen Dynastie, die der Rum-Seldschuken, die die Stadt von den Persern erobert hatte.

Hyazinthe kos’t mit Tulpen,
Und von Rosen Nachtigall,
Turtel girret süße Weisen,
Parsilieder mache neu!
[…]
Die Tulpe schwieg, Narzisse blickte trunken,
Verwirrt vom Glänze schwankte sie der Rose.
Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī: Diwan-e Schams-e Tabrizi, ab 1243

Vieles vor dem 15. Jahrhundert sind Annahmen zur Verbreitung der Tulpe in den türkischen Herrschaftsgebieten, weil aus dieser Zeit kaum Darstellungen der Tulpe in osmanischen Manuskripten oder der osmanischen Kunst bekannt sind. In „Tulipomania“ werden weitere Indizien für die Bedeutung und Verbreitung der Tulpe in türkischen Gebieten benannt: Die besondere religiöse Stellung der Tulpe im Islam sei schon wegen der Nutzung der gleichen arabischen Buchstaben für Lale wie für Allah (vgl. auch kuranharfleri.com) anzunehmen. Erwähnt wird, dass 1389 ein Chronist die bunten Turbane der auf dem Amselfeld gefallenen Osmanen mit einem Tulpenbeet verglich. Oder, wie ein Museumsstück in Istanbul beweisen soll, dass Bayezit I., osmanischer Sultan bis 1402, unter seiner Rüstung mit Tulpen bestickte Soldatenunterwäsche trug, im osmanischen Heer damals offensichtlich nicht unüblich.

Footman, pour me some wine, for one day the tulip garden will be destroyed;
Autumn will come soon and the spring season will be no more!
Mehmet II., osmanischer Sultan und Eroberer von Konstantinopel

Von Mehmet II., Liebhaber der persischen Kultur, ist dieser Zweizeiler überliefert – wollen wir glauben, dass er das irgendwann in seiner Lebenszeit zwischen 1432 und 1481 gesagt hat. Es ist in jedem Fall davon auszugehen, dass Tulpengärten im türkischen Kulturraum eine Rolle spielten, im 1326 erstmals von den Osmanen eroberten Bursa, der ersten Hauptstadt des Osmanischen Reichs, im 1362 eroberten Edirne, zweite Hauptstadt des Osmanischen Reiches – und natürlich in Konstantinopel. Die Truppen unter Mehmet II. eroberten Konstantinopel 1453. Das bedeutete einerseits das Ende des Byzantinischen Reichs, andererseits auch die Grundlage für die Bildung einer wichtigen zentralen Schnittstelle zwischen Osten und Westen. 1459 schon beginnt die Errichtung des Topkapı-Palast, danach vierhundert Jahre lang Sitz der osmanischen Sultane – nicht nur ein Palast, sondern imposante Gartenanlage. Seit dieser Zeit gibt es umfangreiche schriftliche und bildliche Zeugnisse, wie die Tulpe in den Gärten der Sultane und einiger ihrer Untertanen, in Kunst und Kultur, als Stickerei auf Kleidungsstücken und als religiöses Symbol zur bei weitem wichtigsten und prominentesten Blume im Osmanischen Reich wurde. Sie wurde es unter Mehmet II., unter Süleyman I., in Europa der Große Türke genannt, und unter ihren Nachfolgern.

Topkapı Palast, Istanbul
Topkapı Palast, Istanbul

„As his interest in tulips increased, he had a tulip garden planted in front of the palace’s privy audience hall and equipped it with crystal chandeliers for lighting.“
hurriyetdailynews.com

In der herrschaftlichen Gartenkultur liegen die Ursprünge der gezielten Züchtung besonderer Tulpen: Hunderte Varianten der Istanbul Lalesi mit ihren eher schlanken spitzen Blütenblättern werden entwickelt, Blüten, wie sie z. B. im osmanisch-türkischen Fliesendesign typisch für die Darstellung von Tulpen sind. Botanikerinnen und Botaniker wird interessieren, dass die früheren Formen der Istanbul Lalesi wieder gezüchtet werden sollen, heute koordiniert von der Istanbul Lale Vakfi, der Istanbul Tulpen Stiftung. Bei Hof spielte die Tulpe immer eine Rolle, besonders ausgeprägt wohl in der Regierungszeit Ahmet III. Anfang des 18. Jahrhunderts. Türkische Historiker haben diese Epoche nachträglich als Tulpenzeit, Lâle Devri, bezeichnet. Ahmet III. veranstaltete schon Tulpenfestivals, in seiner Zeit wurde die Verwendung des Tulpenmotivs auf Teppichen, Fliesen, Waffen und Stoffen im Osmanischen Reich, insbesondere in Konstantinopel, noch einmal populärer.

Graffiti, Istanbul
Graffiti, Istanbul

In den 1550ern schenkte ein osmanischer Sultan, Süleyman I. – angeblich – dem Gesandten Kaiser Ferdinand I. in Konstantinopel, Ogier Ghislain de Busbecq, einige Tulpenzwiebeln. Der Gesandte wird, wie andere europäische Botschafter in Zeiten sich damals intensivierender diplomatischer Beziehungen, die osmanische Gartenkunst erlebt haben, mit der Tulpe in Berührung gekommen und von ihrer Schönheit begeistert gewesen sein. Die Zwiebel-Schenkung nun soll der wesentliche Schritt der Tulpe von Ost nach West gewesen sein, auch wenn die bis heute oft kolportierte „Entdeckung“ der Tulpe für Europa durch Ghislain de Busbecq inzwischen gelegentlich angezweifelt wird: Möglicherweise hat sich der Gesandte die Entdeckung in seinen späteren Lebenserinnerungen nachträglich selbst zugeschrieben. Es existieren Berichte zu mindestens einer schon 1559 blühenden Tulpe in einem deutschen Garten, die zeitlich unmöglich eine Nachfahrin der Busbecq-Tulpen gewesen sein könne. Diese erste – dokumentierte – blühende europäische Tulpe wuchs in einem Garten bei Augsburg, gezeichnet von dem Schweizer Multigelehrten Conrad Gesner. Der deutsche Erstbeweis ist ein hübsches Detail, passend zu Laytmotif und seinen deutsch-türkischen Geschichten. Egal wie es sich nun genau zugetragen hat, findet die türkisch-persisch-asiatische Blume ihren Weg in die europäischen Gärten, Chroniken und Systematiken, als sich der Austausch mit dem Osmanischen Reich intensiviert, Lebensberichte aus Konstantinopel gerne gelesen werden und die Katalogisierung der Welt im Zuge der Aufklärung voranschreitet.

Conrad Gesner, Tulpe, 1559
Conrad Gesner, Tulpe, 1559

Die Blume, die in der Türkei bis heute Lale genannt wird, soll von de Busbecq auch ihren europäischen Namen bekommen haben: Tulipa Turcarum, Tulpe der Türken. Auch hier kann es sich um eine nachträgliche Zuschreibung handeln; verschiedene frühere Vorkommen des Namens Tulipa in Chroniken des 16. Jahrhunderts lassen an der Urheberschaft de Busbecqs zweifeln. Die Überlieferung will, dass die Blume wegen ihrer turbanähnlichen Form Tulipa genannt wurde oder weil Tulpen an Turbanen gesehen wurden und fälschlicherweise der Name des Turbantuchs – tülbent – auf sie übertragen wurde. Das zu dieser Zeit verbreitete osmanische Türkisch, mit persischen und arabischen Einflüssen, kannte das Wort dülbent oder tülbent als Stoff, aus dem Turbane gewickelt wurden. Tülbent meint im modernen Türkisch heute noch Batist, Musselin bzw. ein Schmucktuch (Beispiele). Es wird nun viel von einem Übertragungs- bzw. Übersetzungsfehler geschrieben, der zur europäischen Bezeichnung Tulipa für eine Blume führte, die in ihrer Heimat seit Jahrhunderten Lale heißt. Wenn denn wirklich ein Konstantinopel erfahrener europäischer Gelehrte der Tulpe Namensgeber war: Warum hat es dann der Gelehrte aus dem Norden offensichtlich nicht für notwendig befunden, ihren Namen in Konstantinopel zu verifizieren? Der erfundene Name verbreitete sich weltweit, Lale wird in der Folge in vielen Sprachen als Tulpe bekannt. Die Schwarze Tulpe, ein Roman von Alexandre Dumas und ein Film mit Alain Delon, heißt also La Tulipe noire auf Niederländisch und Französisch, The Black Tulip auf Englisch, Czarny tulipan auf Polnisch, Чёрный тюльпан auf Russisch – und auf Türkisch Kara Lale.

Tophane, Istanbul
Tophane, Istanbul

Wie und wann nun die nun neu benannte Tulpe genau ihren Weg durch Europa nahm, und wann sie dann in Holland, dem heutigen Tulpen-Epizentrum ankam, dazu gibt es verschiedene Theorien. Die zustimmungsfähigste scheint heute zu sein, dass Busbecq seine Tulpensamen und Tulpenzwiebeln in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit Charles de l’Ecluse (oder Carolus Clusius) teilte. Clusius war kaiserlicher Hofgärtner in Wien und wurde 1593 Professor an der Universität im holländischen Leiden, wo er Tulpen zu wissenschaftlichen Zwecken zu züchten begann. Die Schönheit der Blume löste Begehrlichkeiten aus; auf sie hatten es bald nichtakademische Interessenten abgesehen, die wohl Tulpenzwiebeln aus Clusius’ Garten stahlen, der Beginn einer so wohl nicht vorhersehbaren Kommerzialisierung der Tulpe. Aber warum ist nun ausgerechnet dieses winzige Land irgendwo in Europa zum Zentrum des Tulpenfiebers geworden? Zuallererst sicherlich, weil die Pflanzen in den sandigen Böden holländischer Regionen, mit einem hohen Grundwasserspiegel, Wachstumsbedingungen vorfanden, die denen in ihrer Heimat ähnelten, sie dort also gut gezüchtet werden konnten. Dass die kurzblühende, unproduktive und unzuverlässige Schmuckpflanze zum zunächst sehr teuren Objekt der Begierde werden konnte, liegt auch an der Wirtschaftskraft der Sieben Vereinigte Provinzen (dem Vorläufer der heutigen Niederlande) im „Goldenen Zeitalter“ des 17. Jahrhunderts. In Zeiten des Aufstiegs zu einer Kolonialmacht strömten riesige Gewinne in das Land, der moderne Kapitalismus entwickelte sich, immer mehr Menschen konnten sich Luxusgüter leisten – die exotische, gerade bekannt gewordene Tulpe war eines davon. In einer Quasi-Republik, in der potenziell jede*r die Möglichkeit hatte, reich zu werden, wurde die Tulpe zum Luxusgut, und damit auch zum Spekulations- und Handelsobjekt. In einer Zeit, als sich im Osmanischen Reich vor allem der Sultan und wenige reiche Vasallen Luxus leisten konnten, konnten und wollten bürgerliche Tulpen-Liebhaber in den Niederlanden besondere Züchtungen besitzen.

Semper Augustus, Großes Tulpenbuch, 17. Jahrhundert. © Norton Simon Art Foundation
Semper Augustus, Großes Tulpenbuch, 17. Jahrhundert. © Norton Simon Art Foundation

Die Tulpe wurde auf allen gesellschaftlichen Ebenen zur Modeblume, seltene Züchtungen wie die Semper Augustus für die Superreichen, die einfacheren Sorten für die Ärmeren. Die heute weltberühmte niederländische Malerei wird im „Goldenen Zeitalter“ allgegenwärtig: Kunst und Kultur erlebten eine global vorher oder nachher nicht gesehene Blütezeit. Tulpen gehörten auf die holländischen Stillleben: Bis heute stellen die üppigen Blumenstillleben von Malern wie dem Blumenmaler Jan Brueghel d. Ä. eine Verbindung zwischen Tulpen und den Niederlanden her. Auch der deutsche Maler Jacob Marrel wird heute für seine Tulpen-Zeichnungen erinnert: Kunstwerke, die in Katalogen der Tulpenzüchter eine Blume bewarben, die nur einen Monat im Jahr wirklich zu bewundern ist. Rembrandt selbst hat wohl nie Tulpen gemalt, eines seiner berühmtesten Gemälde hat allerdings einen Bezug zur Tulpe: „Die Anatomie des Dr. Tulp“ von 1632. Der im Gemälde dargestellte Arzt und Anatom Claes Pieterszoon hatte sich den Nicolaes Tulp aus Verbundenheit zur Tulpe gegeben.

Jacob Marrel, Blad uit een tulpenboek, ca. 1640. Rijksmuseum Amsterdam
Jacob Marrel, Blad uit een tulpenboek, ca. 1640. Rijksmuseum Amsterdam

In Finanzwirtschaftsseminaren ist bis heute das Tulpenfieber, der Tulpenwahn, die Tulpomanie in den 1630ern Lehrbeispiel für eine riesige Spekulationsblase. Prinzipien des heutigen Aktienhandels hielten Einzug in den Tulpenhandel: Optionsscheine auf Tulpenknollen, die noch in der Erde steckten, Weiterverkauf von Tulpen, die man nur auf dem Papier besaß, die Beleihung künftiger Tulpenverkäufe, die Investition vieler, auch kleinerer Vermögen in den Tulpenhandel, der Markteintritt von Spekulanten. Drei Jahre lang, zwischen 1634 und 1637, wurde eine Blase aufgeblasen, die zu exorbitanten Tulpenpreisen in den Niederlanden führte. Eine Tulpenzwiebel konnte den Wert eines Amsterdamer Stadthauses haben. Eindrucksvoller fast, was in „Tulipomania“ zum Wert einer einzigen Tulpenzwiebel auflistet wird – und es sind hier noch nicht einmal alle Positionen zitiert: 8 fette Schweine, 4 fette Ochsen, 12 fette Schafe, 24 Tonnen Weizen, 48 Tonnen Roggen, zwei Tonnen Butter, 1000 Pfund Käse, ein Schiff usw. … (Tulipomania, S. 182). Im Februar 1637 endete der Tulpenwahn abrupt: Innerhalb weniger Tage fielen die Preise für Tulpen auf bis zu 1% ihres Werts, der Markt für Tulpen brach zusammen. Diese Phase der Kommerzialisierung der Tulpe ging erstmal zu Ende.

Sultanahmet, Istanbul
Sultanahmet, Istanbul

„Was mein Mund nicht sagen kann, sagen Tulpen aus Amsterdam“: In diesem deutschen Schlager aus den 1950ern wird die holländische Tulpe als Liebesbotin besungen – hier klingt fast ein wenig von der uralten Bedeutung der Tulpe als mystischer Liebesbeweis in Persien und der Türkei an. Das Lied entstand nach einem Besuch des Komponisten im niederländischen Keukenhof, wo im Frühjahr heute Millionen Blumenzwiebeln verpflanzt werden – Hauptakteurin ist die Tulpe. Neben dem Käse von Frau Antje ist die Tulpe aus Holland in den letzten Jahrzehnten zu einem der Lieblingsklischees der Deutschen über ihr Nachbarland geworden. Denn die Kommerzialisierung der Tulpe in den Niederlanden war mit dem Ende des Tulpenwahns natürlich nicht endgültig beendet: Nach dem Zusammenbruch entstand aus den Resten des Tulpenhandels über die Jahrhunderte allmählich ein wichtiger, solider Wirtschaftszweig. Die Blume der Poesie, Mystik und Liebe ist zum Produkt geworden, irgendwie auch zum Symbol des Überflusses in der Konsumgesellschaft. Heute sind die Niederlande weltgrößter Produzent von Tulpenknollen und exportieren 3 Milliarden Knollen pro Jahr. Das Land ist der global größte Schnitttulpenproduzent. 80% der heute verkauften Tulpen stammen aus den Niederlanden, mit Deutschland als wichtigstem Abnahmeland.

Die Tulpe ist nach der Rose zweitbeliebteste Schnittblume – wenn es sie das ganze Jahr über gäbe, würde sie wohl auch noch die Rose überholen. In der Natur blüht die Tulpe zwischen Ende März und Anfang Mai. Kommerzielle Tulpenzeit ist heute allerdings bereits zwischen Neujahr und Muttertag Mitte Mai (in Deutschland übrigens populär gemacht vom Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber). Die großen industrialisierten holländischer Schnitttulpenproduzenten produzieren je bis zu 100 Millionen Tulpen in einer Saison: In Gewächshäusern, auf mehreren Etagen, mit LED-Licht und künstlicher Kälte für die Zwiebeln, gleich nachdem sie nach der Blüte aus der Erde kamen, damit sie in den Gewächshäusern zeitiger das Gefühl bekommen, der Frühling kommt. „Die Zukunft wird industriell sein“ oder „nur noch wenig mit Landwirtschaft zu tun“ wird in diesem Film über einen deutschen Tulpenzüchter gesagt. Pflanz- und Ernteroboter übernehmen vollautomatisch. Die Zukunft der Tulpe liegt in der substratlosen Zucht, ohne Erde, auf Etagenrosten. Vielleicht wird man damit die Tulpensaison noch weiter ausdehnen können: In Weltregionen ohne die typische Tulpenjahreszeit Frühling könnte die Tulpe doch eigentlich das ganze Jahr über monetarisiert werden. Dass es ein Interesse an der und Möglichkeiten für die Tulpe auch in diesen Regionen gibt, zeigen Unternehmen wie der Schnittblumenvermarkter Black Tulip Flowers aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit Farmen in Kenia und Äthiopen und Handelspräsenzen z. B. in Malaysia, Katar, Saudi-Arabien und Indien.

Sultanahmet, Istanbul
Sultanahmet, Istanbul

Die internationale Registrierungsstelle für Tulpensorten liegt aber immer noch im Globalen Norden, bei der Koninklijke Algemeene Vereeniging von Bloembollencultuur (Königlicher Allgemeiner Verband der Blumenzwiebelzüchter), die die global gültigen Klassifizierungslisten herausgibt. Es gibt heute weltweit ca. 150 Tulpenarten mit mehr als 4.200 Sorten. Wie auch bei anderen Kategorisierungen und Systematisierungen von Pflanzen und Tieren, die von den „Entdeckern“ aus dem Globalen Norden vorgenommen wurden, scheint auch die Tulpe komplett vereinnahmt worden zu sein: Es gibt heute Klassen wie die geflammten Rembrandt-Tulpen, Darwin-Hybridtulpen, Tulipa eichleri, Tulipa fosteriana, Tulipa kaufmannian, Tulipa majorlettii, Tulipa batlinii und Tulipa tubergeniana – Lale jedoch lässt sich in den offiziellen Namen nicht finden. Die Namen bestimmter Zuchttulpen verweisen nur sehr punktuell in den Kulturraum der Entstehung ihrer Vorfahren. Es gibt Tulpen namens Abba, Montreux, Lady Montgomery, Red Riding Hood, Line Dancer, Carnival de Nice, Willem van Oranje, aber nur einige wenige mit Namen wie Abu Hassan oder Arabian Mystery (vgl. 1800flowers.com). Wie wäre es, wenn eine Namensverbindung heutiger Tulpen mit den Leistungen persischer und osmanischer Tulpenzüchter der Vergangenheit hergestellt würde? Zum Beispiel über solche poetischen Namen, wie sie die Osmanen hatten: Nur-I-Adin, das Licht des Paradieses, Dur-i-Yekta, die Unvergleichliche Perle, Halet-efza, die Vermehrerin der Lust, und viele andere.

Eminönü, Istanbul
Eminönü, Istanbul

In Istanbul gibt es erst seit 2006 wieder ein stadtweites Tulpenfestival. Im Emirgan-Park, im Gülhane-Park, in Sultanahmet und in anderen Parks der Stadt blühen einen Monat lang geschätzte 30 Millionen Tulpen. Sie symbolisieren dort zumindest für einige (vgl. diese Reisewebsite) auch heute noch das Paradies auf Erden, weibliche Schönheit und Perfektion, irgendwie so, wie die Jahrhunderte zuvor auch schon. Als ich meine türkische Freundin frage, was sie mit der Tulpe verbinde, sagt sie ganz spontan: „Lalenin Türk kültüründe, Osmanlı’da, tasavvufta özel bir yeri vardır.“, „Die Tulpe hat einen besonderen Platz in der türkischen Kultur, im Osmanischen Reich und im Sufismus.“ So historisch, so mystisch-spirituell – sicher musste sie nicht wie ich viele Artikel lesen, um das zu wissen. Es wäre interessant herauszufinden, wie sich das Konzept von Tulpe und Lale in Ost und West, in der Türkei und in Deutschland (dem Land Pilstulpe, einem Bierglas in Tulpenform) unterscheidet. Laytmotif war noch nicht im holländischen Keukenhof, aber zur Tulpenzeit in Istanbul. Und hat irgendwie das Gefühl, dass Istanbul für Tulpen in Istanbul die harmonischere Umgebung ist. Beim nächsten Besuch dort sollte ich das Istanbul Lale Müzesi besuchen, das Istanbuler Tulpen-Museum.

Zum Weiterlesen und -hören:
Randel A. Agrella: Brief History of Tulips (motherearthgardener.com, 2016)
Amsterdam Tulip Museum: The Tulip in Turkey (amsterdamtulipmuseum.com)
Turhan Baytop: The Painted Garden. Turning the Pages of the Book of Tulips (cornucopia.net, 1997)
Sehr lesenswert:
Mike Dash: Tulipomania (Indigo, 2000)
Sehr hörenswert:
Axel Eggebrecht: Tüchtige Schönheit: Die Geschichte der Tulpe (NDR Feature, 1963)
Niki Gamm: The Sultan who gave the world the Lale Devri (hurriyetdailynews.com, 2013)
Klassifizierung der Tulpen (kiepenkerl.de)
Brigitte Musche: Die ältesten Hinweise auf die Tulpe (JSTOR, 2006)