Gerechtigkeit, Demokratie, Glückseligkeit: In der Türkei wird gewählt. In Deutschland auch.
+++ Update III – nach der zweiten Wahl 2015: Die AKP gewinnt deutlich hinzu, erreicht 49,5% der Stimmen und damit die absolute Mehrheit. +++
+++ Update II – nach der Wahl und vor der Wahl: Alle Koalitionsgespräche sind ergebnislos verlaufen; am 1. November 2015 wird daher erneut gewählt. Parallel ist der Kurdenkonflikt neu aufgeflammt. +++
+++ Update nach der Wahl: Vier Parteien haben mehr als die erforderlichen 10% der Stimmen erreicht und werden im neuen türkischen Parlament vertreten sein: AKP 40,87 %, CHP 24,95 %, MHP 16,29 % und die HDP 13,12 %. +++
Schon wieder eine Wahl in der Türkei, nach der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr? Ja, und bei der türkischen Parlamentswahl 2015 werden erneut die Stimmen der Millionen im Ausland lebenden türkischen Wahlberechtigten – vor Allem in Deutschland – eine wichtige Rolle spielen. Die Wahl ist also Thema in Deutschland – versuchen wir also Übersetzungsübungen, Begriffsklärungen und Zahlenspielereien als Handreichung für den nächsten Small Talk in einem hippen Berliner türkischen Restaurant. Oder für tiefergehende Diskussionen nach dem nächsten Expertenpanel zur Türkei in einer der Berliner Stiftungen.
Am 7. Juni 2015 gehen die in der Türkei lebenden Wahlberechtigten an die Wahlurnen für die 18. Allgemeine Wahl zur Großen Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi, kurz TBMM). 53.741.838 wahlberechtigte Staatsbürger*innen gibt es: Vatandaş heißt Staatsbürger auf Türkisch (vatan = die Heimat); vatandaş steht auch für Mitbürger und für Landsmann/Landsmännin. Die knapp 2,8 Millionen außerhalb der Türkei lebenden Landsleute mit türkischem Pass, davon allein 1,4 Millionen in Deutschland, können schon jetzt und noch bis zum 31. Mai 2015 ihre Stimme (oy) z. B. in den türkischen Konsulaten abgeben.
Es wird davon ausgegangen, dass die Stimmen der Auslandstürken wahlentscheidend sein können: Kein anderes Land der Welt dürfte eine so große Zahl an Wahlberechtigten im Ausland haben wie die Türkei. Rechenübung: Wenn ein ähnlich hoher Prozentsatz amerikanischer Wahlbürger in Deutschland lebte, würden hier knapp 3,8 Millionen Amerikaner ihren Präsidenten wählen. Wie schon 2014 kommt deshalb also die türkische Politprominenz zum Wahlkampf – oder ganz zufällig vor den Wahlen – nach Deutschland. Präsident Erdoğan, früherer Ministerpräsident der AKP, z. B. im Mai nach Karlsruhe: Die Veranstaltung mit dem „Milletin Adamı“, dem, je nach Übersetzung, „Mann der Nation, des Volkes, der Leute“, wird live ins türkische Fernsehen übertragen (faz.net vom 10.05.2015). Der Präsident ist auf Türkisch cumhurbaşkanı, das Oberhaupt der Bevölkerung (cumhur); Türkiye Cumhuriyeti (T. C.) die Republik Türkei. Der türkische Präsident ist eigentlich in Wahlkämpfen zur Neutralität verpflichtet – eine für seine frühere Partei AKP günstig ausgehende Wahl wäre aber eine Voraussetzung für die Einführung eines Präsidialsystems, das dem Präsidenten der Türkischen Republik eine starke gestaltende Rolle geben würde.
Das Kürzel AKP ist in Deutschland inzwischen weitgehend geläufig: Man kennt Erdoğans regierende AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi), die bei der letzten Parlamentswahl 2011 knapp 50% der Stimmen gewann. A für adalet, Gerechtigkeit, K für kalkınma, Entwicklung. Zusammen ergibt das ein sauberes Wort, AK für rein und weiß. AK Parti, die reine Partei also. Erst 2001 gegründet, ist sie eine der jüngeren Parteien der Türkei. Die älteste ist die 1923 von Atatürk gegründete CHP. Die Cumhuriyet (Republik) Halk (Volk) Partisi war 2011 mit 26% zweistärkste Kraft. Drittstärkste war damals die Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung). Die erst 2012 gegründete Halkların Demokratik Partisi (HDP, Demokratische Partei der Völker), dem kurdischen Spektrum zugerechnet, war bei der letzten Wahl noch nicht dabei. Die spannende Frage bei dieser Wahl ist, ob die HDP mehr als 10% der Stimmen bekommt: In der Türkei gelangen nur die Parteien mit mehr als 10% der Stimmen ins Parlament. Die HDP im Parlament verringert für andere dort vertretene Parteien die Aussicht auf verfassungsändernde Mehrheiten.
Insgesamt 19 Parteien treten bei der Wahl an. Wegen der 10%-Hürde werden wohl – neben einer kleinen Zahl unabhängiger Kandidaten – nicht mehr als die vier eben genannten Parteien im türkischen Parlament vertreten sein. Das Parteienspektrum liest sich an vielen Stellen nicht viel anders als bei Wahlen zum deutschen Bundestag: Es gibt konservative, sozialdemokratische, liberal-konservative, zentralistische, nationalistische, nationalistisch-konservative, nationalistisch-populistische, marxistisch-leninistische, humanistisch-sozialistische Parteien. Daneben aber gibt es auch kemalistische und sozialistisch-kemalistische Parteien (nach Mustafa Kemal Atatürk), patriotisch-laizistische (Laizismus, die Trennung von Religion und Staat), kurdisch-nationalistische, rechtsextrem-islamische, islamistische, radikalislamische, neoosmanische, islamisch-konservative und nationalistisch-islamistische Parteien. Wobei keine Partei eine Religion im Namen trägt, anders als in Deutschland die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Christlich-Soziale Union (CSU).
Parteien, die wie in Deutschland die Grünen, die Tierschützer oder die ökologische Partei ausdrücklich den verantwortungsvollen Umgang mit der Natur thematisieren, treten nicht an. In Deutschland versucht die Rentner-Partei die ca. 21% über-65-Jährigen der deutschen Bevölkerung zu erreichen. In der Türkei sind nur 7,2% älter als 65; eine eigene Partei lohnt sich da wohl noch nicht. Eine Piratenpartei, also eine Partei mit einem Fokus auf die Herausforderungen der digitalisierten Gesellschaft, steht nicht auf dem Wahlzettel.
Neben den schon genannten Parteien lassen sich die Liberaldemokratische (LDP, Liberal Demokrat Parti), Demokratische (DP, Demokrat Parti) und die Kommunistische Partei (KP, Komünist Parti) wählen, auch eine Volkspartei (MİLLET, Millet Partisi), eine Partei der Mitte (MEP, Merkez Parti) und – nicht mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands oder ihrer Nachfolgerin zu verwechseln – die Große Einheitspartei (BBP, Büyük Birlik Partisi) und die Demokratische Linkspartei (DSP, Demokratik Sol Parti).
Auf dem „Rechtsweg“ sind mit der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AK Parti) die Partei des Rechten Weges (DYP, Doğru Yol Partisi), die Partei für Recht und Freiheiten (HAK-PAR, Hak ve Özgürlükler Partisi) und die Partei für Recht und Gerechtigkeit (HAP, Hak ve Adalet Partisi).
In der Türkei ist die Nation ein großes Thema; Parteiennamen spiegeln das wider. Für Heimat, Heimatland und Vaterland gibt es im Türkischen zwei Begriffe. Einmal yurt (auch die Wurzel für das deutsche Wort Jurte) und einmal das schon genannte vatan, das im Staatsbürger, vatandaş, steckt. [Ich hoffe, die feinen Unterschiede irgendwann zu begreifen…] Also gibt es auch zwei Parteien, die Yurt Partisi (YURT-P) und die Vatan Partisi, mit den findigen deutschen Übersetzungen Heimatpartei und Heimatspartei. Nationalismus, Türkei und das türkische Kernland Anatolien sind die Signale, die – neben der aktuell im Parlament vertretenen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) – auch die Namen der Partei der Unabhängigen Türkei (BTP, Bağımsız Türkiye Partisi) und der Anatolien-Partei (ANA PAR, Anadolu Partisi) aussenden.
Die TURK PARTİ täuscht in dieser Aufzählung: TURK ist die Abkürzung für Toplumsal Uzlaşma Reform ve Kalkınma Partisi (Gesellschaftliche Versöhnungs-, Reform- und Entwicklungspartei). Und auch der marxistisch-leninistischen Volksbefreiungspartei (HKP, Halkın Kurtuluş Partisi) dürfte es eher um die Befreiung der Menschen als um die Befreiung der Nation gehen.
Zumindest vom poetischen Namen her eine Ausnahmeerscheinung: Die Glückseligkeitspartei (SP, Saadet Parti). Saadet ist ein altes arabisch-osmanisches Wort für Glück bzw. Glückseligkeit, Dersaadet (von der-i saadet, Tor der Glückseligkeit) eine alte osmanische Bezeichnung für İstanbul.
Parteivorsitzende, Abgeordnetenzahlen, mehr harte Informationen? Wikipedia türkisch und deutsch halten sie bereit. Die deutsche Wikipedia weiß, anders als die türkische, auch etwas zur politischen Ausrichtung der Parteien. Und zeigt die Parteienlogos: Viel Sonne, Mond und Sterne, einige Pferde und Vögel, eine Glühbirne – da kann nur die Sonnenblume der Grünen versuchen mitzuhalten.
Gerechtigkeit, Demokratie, Glückseligkeit: Den Stimmen der türkischen Wahlberechtigten im Ausland, die sich nach dem 31. Mai auf den rechten Weg in die Heimat machen, in die Türkei, nach Anatolien, sei eine gute und ungestörte Reise gewünscht!