Klein Turkije in Belgien? Laytmotif reist nach Gent.

Mai 2018: Gent | Leuven

Wenn Laytmotif reist, dann auf türkischen Spuren. Diesmal also Belgien. Wieso denn bloß Belgien? „Klein Turkije“ war der Auslöser für die Reise, eine Kneipenstraße im Zentrum der zweitgrößten belgischen Stadt Gent. Ist aber gar keine türkische Spur: „Klein Turkije“ heißt zwar übersetzt tatsächlich „Kleine Türkei“, „Küçük Türkiye“; der Name leitet sich aber von flämischen Worten ab: „Ter keie gaan“ vielleicht, „in Konkurs gehen“, passend zum Auktionsmarkt, der dort im Mittelalter stattfand.

Klein Turkije, Gent 2018

Klein Turkije, Gent 2018

Nächster Versuch auf dem Feld von Handel und Kommerz: Grand Bazar hieß um die vorletzte Jahrhundertwende eines der ersten Kaufhäuser in Gent. Das Kaufhaus ein Ableger des Großen Basars in Istanbul, Kapalı Çarşı? Nur sehr indirekt: Das französische „Grand Bazar“ war ein Name für die ersten Warenhäuser auf europäischem Boden, abgeschaut vom großen Vorbild in Konstantinopel/Istanbul. Sogar auf der Frankfurter Zeil gab es mal einen Grand Bazar. Gibt der berühmte Genter Altar der Brüder van Eyck in der Sint-Baafskathedraal (St.-Bavo-Kathedrale) etwas Türkisches her, „das weltweit vielleicht einflussreichste Gemälde der Welt“, wie das Genter Stadtmarketing stolz schreibt? Dieses verrätselte Kirchenkunstwerk zeigt – vielleicht – links unten Kreuzritter auf dem Weg ins Heilige Land, unter der christlichen Flagge. Kreuzritter, Haçlı, und der Kampf gegen sie spielen in der türkischen Politik heute noch eine wichtige Rolle – auf die Osmanen, die Konstantinopel erst 1453 einnahmen, dürften die Brüder van Eyck mit ihrem Altar aus den 1430ern aber nicht wirklich angespielt haben. Im Mittelpunkt des Altars steht ein Lamm, aus dessen Brust Blut in ein Gefäß fließt. Wenn auch beim islamischen Opferfest, Kurban Bayramı auf Türkisch, ebenfalls Lämmer geschlachtet werden, geht es doch bei Genter Altar um ein wichtiges christliches Symbol, die „Anbetung des Lammes“.

Halbmonde und Stern: Wappen in der Sint-Baafskathedraal, Gent 2018

Halbmonde und Stern: Wappen in der Sint-Baafskathedraal, Gent 2018

Geschichte oder Religion müssen allerdings auch gar nicht bemüht werden: Türkisches begegnet einem heute überall in Gent – die Stadt ist voll mit türkischem Leben. Wie in Kreuzberg weht der Ruf „Anne“ (Mutter) über die Straßen, abends treffen sich die türkischen Jungs am Korenmarkt, laute türkische Musik schallt aus dem roten Cabrio, das vollbesetzt immer wieder seine Runden dreht. Ein paar Schritte vom touristischen Zentrum sprechen viele Restaurantschilder türkisch: In der Oudburg-Straße gibt es das Café Aydın (Gold), das Örnek (Beispiel), das Ankara. In der Sleepstraat gibt es im Akdeniz (Mittelmeer) Restaurant Turkse Specialiteiten, bei Sultan’s   Ottomaanse Specialiteiten. Bei Urfa Kebap kann man Kebap kaufen, bei Dünya (Welt) Couture Mode und sich im Kapsalon (flämisch Friseur) Sempatik (sympathisch) die Haare schneiden lassen. In einem der alten Ziegelhäuser werden beim Emirdağ Köftecisi Köfte gebraten; mindestens fünf Restaurants mit dem Namen Gök (Himmel) sind über die Stadt verteilt. Das İstiklal Café steht neben einer typisch belgischen Frittenbude Frituur; in der Damportstraat, ebenfalls eines der türkischen Zentren Gents, bietet der Aile Kasabı ve Bakkalı Slagerij (Familien-Metzger und -Lebensmittelgeschäft) Halal-Fleisch an.

Aile Kasabı ve Bakkalı Slagerij, Gent 2018

Aile Kasabı ve Bakkalı Slagerij, Gent 2018

1964 kamen die ersten türkischen „Gastarbeiter“ nach Belgien; drei Jahre nach Deutschland hatte auch Belgien einen entsprechenden Vertrag mit der Türkei abgeschlossen. Sogar König Baudouin empfing wohl die ersten Arbeiter aus der Türkei, die den Arbeitskräftemangel wie in den anderen boomenden Nachkriegsindustrien Europas ausgleichen sollten. Belgien war dabei übrigens das einzige europäische Land, das ausländischen Arbeitskräften auch den Familiennachzug erlaubte. Viele türkische Arbeiter kamen auch nach Gent, bedeutendes belgisches Industrie- und Hafenzentrum mit großer Vergangenheit. Gent, seit dem Mittelalter immer wieder einer der wichtigsten Wirtschaftsstandorte Europas, war die erste industrialisierte Stadt Europas; eine reiche Textilindustrie gründete im mittelalterlichen Tuchgewerbe und auf einem aus England geschmuggelten Webstuhl. Parallel zu Produktion und Handel wuchsen der Hafen und ein Kanalnetz, das ihn mit dem Meer verbindet. Bürgerhäuser und die großen Kirchen St. Bavo, St. Niklas, die St. Jakobs und St. Michael zeugen von einer reichen Vergangenheit – die Moschee (Moskee) Tevhid Camii in der Francisco Ferrerlaan in Wondelgem von der Gegenwart. Wondelgem, ein eingemeindeter Vorort von Gent, liegt in der Nähe der früheren großen Industriestandorte, in der Nähe zum Hafen und den Verbindungskanälen zwischen ihm und den Fabriken. In Wondelgem sieht man türkische Fahnen, türkisches Leben spielt sich auf den Stufen vor den kleinen Arbeiterhäusern ab. Die kleinen verglasten Schreine an den Hausfassaden, in denen sonst Madonnen stehen, sind dort leer.

Tevhid Camii / Moschee, Gent 2018

Tevhid Camii / Moschee, Gent 2018

Gegenüber vom İsparta-Dönerladen steht das historische Vooruit Feestlokaal, das der türkisch-kurdische Künstler Ahmet Öğüt als „Castle of Vooruit“ 2012 in einer Ballonnachbildung über Gent schweben ließ. Gebaut wurde es 1911 bis 1914 als Arbeiter-Kulturzentrum von Vooruit, einer Genter Kooperative, Gewerkschaft und Konsumgenossenschaft. Gent ist die Stadt der ersten sozialistischen Arbeitervertretungen und modernen Gewerkschaften auf europäischem Boden überhaupt – Ahmet Öğüts „Castle of Vooruit“ mag da als Statement eines türkeistämmigen Künstlers zum Beitrag türkischer Arbeiter zum wirtschaftlichen Erfolg Gents gelten. Im Mai 2018 ließ der Künstler das Castle in einer NGBK-Ausstellung noch einmal über Kreuzberg schweben – hier soll es laut der Veranstalter auch für die Gentrifizierung Kreuzbergs und die Verdrängung türkischer Mieter stehen. Vielleicht ja auch als Zeichen für den Beitrag türkischer Arbeiter zum wirtschaftlichen Erfolg Berlins.

Vooruit Feestlokaal, Gent 2018

Vooruit Feestlokaal, Gent 2018

Heute leben in Gent etwa 20.000 Menschen mit Türkei-Hintergrund, um die 10% der Stadtbevölkerung. Afiyet olsun: Saliha Özdemir beschreibt in ihrer Arbeit „Sharing Turkish tastes in Ghent: Aesthetic narratives of food, migration and memory“ die Anfänge der Community, die Sehnsucht nach der Heimat, die Sehnsucht nach dem eigenen Essen, das Leben in und mit einer zunächst fremden Umwelt. Laytmotif führt ihr Text zum „Frituur bij Sint-Jacobs – Verse Frieten sinds 1953“, einer der typisch belgischen Imbisse, mit frischen Fritten seit 1953. Das Gebäude ist umgeben von traditionellen Ziegelhäusern, in seinen Fenstern spiegelt sich Sint-Jacobs, eine der Genter Hauptkirchen. Wenn sich auch bei Frituur bij Sint-Jacobs die Auslagen ganz klassisch mit aller Art belgischer Frittierware biegen, wird doch hinter dem Tresen türkisch gesprochen. Der Traditionsfrittur gehört inzwischen türkischen Betreibern – es gibt also neben dem ganz traditionell-belgisch mit Bier gekochten Gulasch Stoverij auch Merguez und Shoarma Schotel (Teller) und Oliven im Salat.

Also doch irgendwie Klein Turkije in Gent.

Graffiti und Dünya Couture, Gent 2018

Graffiti und Dünya Couture, Gent 2018

Mai 2018: Gent | Leuven

Zum Weiterlesen:
Tina De Gendt: Turkije aan de Leie. Kroniek van 50 jaar migratie. Het verhaal van Turkse gastarbeiders in ‚het New York van België‘ (2014)
Gent (Wikipedia, Stand 09.07.2018)
Genter Altar, himmlisches künstlerisches Highlight. Altniederländische Malerei mit Weltruhm (visit.gent.be, Stand Mai 2018)
Saliha Özdemir: Sharing Turkish tastes in Ghent. Aesthetic narratives of food, migration and memory (PDF)
Turks in Belgium (Wikipedia, Stand 12.04.2018)
Johan Vandewalle, Universität Gent, und Linda Gezels: Haydi: Türkçe Konusalim (2008)