Die wilden Hunde von Istanbul
Nein, kuscheln möchte man nicht mit ihnen. Dafür scheinen sie zu eigenwillig und zu verwahrlost. Menschliche Eigenschaften mag man auch nicht so gerne auf sie projizieren. Manche erregen Mitleid, denn sie zeigen Zeichen von Verwundungen, Krankheiten und Unfällen. Die meisten sind sich relativ ähnlich: groß gewachsen, von hellbrauner Färbung meistens, zuweilen auch dunkel oder schwarz. Manchmal gibt es Tiere mit kurzen Beinen und ungewöhnlich großem Körper. Trotz ihrer Blessuren wirken die wilden Hunde von Istanbul unabhängig und gelassen, so als könnte ihnen niemand etwas anhaben. Man findet sie überall: Zwischen geparkten Autos oder am frühen Morgen unter den Sitzen vor dem Starbucks am Taksimplatz. Oft liegen sie einfach so da und schlummern. Wenige scheinen sich an ihnen zu stören, aber es fällt auf, dass manche Menschen ihnen, durchaus verunsichert, bewusst aus dem Weg gehen.
Ganz so unproblematisch ist ihre Gegenwart in dieser Megastadt nicht. Angeblich sind manche Tiere so intelligent, dass sie grüne Ampeln verstehen können, aber häufiger jagen die Tiere beim Überqueren von Straßen Autofahrern einen gewaltigen Schreck ein, bereiten Anwohnern durch ihr Bellen schon einmal eine schlaflose Nacht oder fallen sogar einen Menschen an – auch wenn das viel seltener vorkommt, als man angesichts ihrer Allgegenwart vermuten könnte. Ich selbst habe in dem Viertel, in dem ich wohne, Tarlabaşı, einmal beobachtet, wie ein junger Mann tagsüber von zwei Hunden verfolgt wurde, zu Boden fiel und sich in ein Friseurgeschäft retten konnte. Es gibt keine zuverlässigen Bestandsaufnahmen, Schätzungen besagen, dass es sich um einhunderttausend Tiere handelt.
Ihre Position ist eigentümlich: Sie sind an die Nähe von Menschen gewöhnt, hängen sogar von ihnen ab, leben aber nicht direkt mit ihnen zusammen. Sie haben ihre Lektion gelernt, im Sinne ihres eigenen Überlebens. Ihr Futter finden sie auf zwei Wegen: In den ärmeren Vierteln Istanbuls werden die Mülltüten oft vor den Häusern abgestellt, wo sich bald Hunde und Katzen über sie hermachen, bevor die verbleibenden Haufen spätestens in den frühen Morgenstunden von der Müllabfuhr eingesammelt werden. Doch es gibt jetzt immer mehr Metallcontainer, deren Inhalt zumindest für Hunde unerreichbar ist. Für westliche Augen ungewohnt ist die an vielen Stellen zu beobachtende Sitte, sich eines Hundes quasi anzunehmen und ihn regelmäßig mit Futter zu versorgen, ohne ihn aber in die eigene Wohnung zu holen. Manche bauen den Hunden regelrechte Betten aus Karton, die dann ihr angestammter Platz an einem bestimmten Haus werden. Offenbar wollen tierliebende Menschen ihr Gewissen gegenüber den vernachlässigten Hunden beruhigen. Letztere sind in diesem Fall keine vollgültigen Haustiere, aber eben auch kein völlig „wild“ lebendes Tier. Spazierengeführt werden sie von ihren etwas unentschieden wirkenden „Inhabern“ ebenfalls nicht. In der Größe der Wohnungen kann diese Zurückhaltung eigentlich nicht begründet sein, denn in einer Gesellschaft, die kaum eine Single-Kultur kennt, sind fast alle für mehrköpfige Familien ausgelegt und selten unter achtzig Quadratmeter groß. Womit hat es also zu tun?
Das Verhältnis zu Hunden in der Türkei hat mehrere Ebenen. In seinem Roman „Rot ist mein Name“ versetzt sich Orhan Pamuk in einen Hund und fragt sich, worin die Feindschaft der Menschen ihre Wurzel hat: „Warum wird jemand nach seiner Waschung vor dem Gebet durch unsere Berührung wieder unrein, und warum gibt es die Vorschrift, euren Kaftan wie kopflos grillenhaftes Weibervolk siebenmal zu waschen, wenn die feuchten Haare eines Hundes am Saum jenes Kaftans eben einmal entlangstreichen? Und die Lüge, dass ein Topf, den ein Hund ausgeleckt hat, entweder fortgeworfen oder von neuem verzinnt werden muß, kann nur von den Verzinnern herumerzählt werden. Oder vielleicht von den Katzen.“
Obwohl es dafür keine direkt zurückzuverfolgende Grundlage im Koran gibt, gelten die Tiere, insbesondere ihr Speichel, strengen Muslims als unrein. Sie halten die Vierbeiner nicht zu Hause, weil sie den Gebetsteppich verunreinigen könnten, aber auch weil es in der Türkei bis in die jüngste Zeit keine Tradition für Hunde als Haustiere gab. Recht verbreitet ist auch die Vorstellung, dass „köpekler“, wie man die Hunde hier zu nennen pflegt, das Kommen von Engeln verhindern. Solche Zuschreibungen haben aber nicht für alle Türken Gültigkeit. In den westlich geprägten Stadtvierteln Istanbuls findet man das ganze Spektrum von Rassehunden, Kampfhunde übrigens inbegriffen. Hier sind sie begehrtes Statusobjekt und etliche Geschäfte verkaufen Zubehör für die Hundehaltung. Manchmal gibt es jedoch Probleme mit religiösen Nachbarn, die sich dann an der Haltung von Hunden stören. „Viele wollen einen Hund, wissen aber nicht, wie sie damit umgehen sollen“, sagt Bilge Okay von der Hundeschutzgesellschaft SHKD, die sich für einen würdigen Umgang mit den Tieren einsetzt.
Auch wenn diese Art der Haustierhaltung jüngeren Datums ist, hat die Hundezucht an sich in der Region eine lange Tradition. Einer der ältesten Belege für die Domestizierung von Hunden überhaupt konnte für Çayönü – im Osten der Türkei und nahe an der Grenze zu Syrien – für die Zeit vor etwa zwölftausend Jahren nachgewiesen werden. Man denke auch an eine bekannte Rasse wie den prächtigen Kangal, ein sehr großes, kurzhaariges Tier. Er zählt zu den anatolischen Hirtenhunden der Nomaden noch aus einer Zeit, bevor sich der islamische Glauben verbreitete und einer der zwölf Monate mit dem Hund verbunden gewesen sein soll.
Doch zurück zu den wilden Hunden von Istanbul. Ihre Gegenwart in der Stadt reicht lange zurück, aber darüber, woher sie ursprünglich kommen kursieren Legenden: Ist ihre ursprüngliche Heimat Turkmenistan? Sind sie schon mit den Truppen von Mehmed II., dem Eroberer im 15. Jahrhundert in die Stadt gekommen? Wo immer auch ihre genauen Wurzeln, seit Jahrhunderten sind sie fester Bestandteil des Stadtbildes und schleichen im Schatten der Häuser entlang. Beobachtungen mal verdutzter, mal befremdeter oder verängstigter Besucher fehlen in kaum einem Reisebericht. Jean de Thévenot hielt im 17. Jahrhundert die Beobachtung fest, dass reiche Bürger den Hunden der Stadt ihr Vermögen vermachten, um ihren Fortbestand zu sichern. Und Joseph Pitton de Tournefort konnte sich, ebenfalls zu dieser Zeit, von Metzern überzeugen, die Fleisch speziell für die Fütterung verkauften. Er sah auch, wie man die Wunden der Tiere versorgte und Strohmatten sowie kleine Hütten für sie bereitete. Sogar das legendäre Pera Palas, das beste Hotel am Platze, nahm sich der Hunde an und gab ihnen regelmäßig Futter. Edmondo de Amicis, ein italienischer Reisender, der seine Beobachtungen zur Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Büchlein „Constantinopoli“ zusammenfasste, ging so weit, die Stadt als „riesigen Zwinger“ zu bezeichnen. Und Grigor Yakob Basmajean, ein in Edirne geborener und später zum Protestantismus konvertierter Orientkenner, vertrat 1890 die Auffassung, es gebe keine andere Stadt auf Welt, wo es eine derartig hohe Zahl von Hunden gebe wie am Bosporus. Die Hunde waren derartig allgegenwärtig, dass Straßenbahnangestellte sie mit langen Stöcken von den Schienen vertreiben mussten, als die Fahrzeuge noch von Pferden gezogen wurden. Oft lieferten sie sich untereinander Kämpfe und wurden dabei von Schaulustigen beobachtet. Nachts sei ihr Jaulen ständig zu hören gewesen, und weil es so viele waren, habe sich das zu einem konstanten Geräusch verdichtet, „wie die Froschlaute, die man in der Entfernung hört“, wie ein anderer Beobachter bildhaft schrieb. Es klingt so, als haben die Hunde den Ton in der Stadt angegeben und nicht die Oberhäupter. In populären Schattenspielen wurden die als Puppen dargestellten Hunde armen Menschen gleichgestellt.
Der Umgang mit ihnen war stets von Ambivalenz geprägt. Einerseits fester Bestandteil eines romantischen Stadtbildes wurden sie in Karikaturen aus osmanischer Zeit neben Cholera, Verbrechen und Frauen in europäischer Kleidung als Bedrohung dargestellt, der es galt Einhalt zu gebieten. Immer wieder gab es Versuche, sie einzufangen und aus der Stadt zu entfernen. Sultan Abdülaziz verfügte im späteren 19. Jahrhundert, Hunde einzusammeln und auf die Insel Hayirsiz, einen kargen, schräg abfallenden Felsen im Marmarameer zu deportieren. Auch Sivriada, ein winziges Eiland, auf das schon byzantinische Herrscher Verbrecher verbannt hatten, geriet 1911 in die Schlagzeilen, als der Gouverneur von Istanbul Zehntausende von Hunden dort aussetzen liess. Eine vergilbte Postkarte zeigt hunderte von Hunden am Strand, die weithin zu hören gewesen sein sollen. Ein unmittelbar folgendes Erdbeben wurde dann jedoch als Zeichen Gottes gegen diese Handlung gesehen, so dass die Hunde wieder zurückgebracht wurden.
Die Versuche, der Hundeplage in der Stadt Einhalt zu gebieten, setzten sich fort und waren mehr oder weniger von Erfolg gekrönt. Ihre Präsenz galt immer auch als Beleg dafür, dass es nicht gelang, Ordnung herzustellen und die Sicherheit der Bewohner zu garantieren. Städte wie New York und Paris waren Vorbild, dort hatte man das Problem im Griff. Mary Mills Patrick, eine Amerikanerin, die am Women’s College lehrte, dankte dem jungen türkischen Regime kurz nach der Revolution für seine Anstrengungen, schließlich seinen die Hunde in einer zivilisierten Stadt „am falschen Ort“. Ganz verschwunden sind die Hunde auch in den darauffolgenden Jahrzehnten nie. Andererseits wurde ihre zeitweise Eliminierung als barbarischer Akt gedeutet. Bis zum Jahr 2004, als man endlich ein Gesetz zum Schutz der Tiere erlaß, wurden immer wieder mit einer großen Strychnindosis versetzte Fleischbällchen verteilt. Solche drakonischen Interventionen gehören heute aber der Vergangenheit an.
Die Situation dürfte sich erst grundlegend ändern, wenn das Müllproblem der Stadt anders gelöst wird und Abfälle nicht mehr einfach am Straßenrand abgeladen werden, wie es in vielen Stadtteilen der Fall ist. Dann wird es eng für die Hunde. Tierschützer fordern heute, die Hunde konsequent einzufangen, gegen Tollwut zu impfen, zu sterilisieren und zu markieren, bevor sie in ihrem Revier wieder in die Freiheit entlassen werden. Das ist auch die Strategie, die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen wird. Doch es gibt eine Grauzone beim Umgang der Stadtverwaltung mit dem Problem. Oft, so Tierschützer, würden die Tiere nach der Sterilisierung durch wenig erfahrene Tierärzte in Zwingern zusammengepfercht, in Lastwagen verfrachtet und im fünfzehn Kilometer nordöstlich von Istanbul gelegenen Belgrad Wald kurz vor der Schwarzmeerküste ausgesetzt, wo sie sich mit Wildtieren bekämpfen und oft verhungern. „Im Grunde wäre es besser, die Tiere einzuschläfern als sie in der ungewohnten Wildnis auszusetzen, aber das wiederum widerspricht der religiösen Haltung derjenigen, die diese Einrichtungen betreiben“, sagt Bilge Okay. Da Promenadenmischungen bei statusbewußten Türken als Haustiere wenig beliebt sind, haben einige dieser Hunde eine neue Heimat in Deutschland gefunden, wo man sie sozusagen adoptiert hat. Das ist allerdings mit Behördengängen und hohen Kosten verbunden, zumal die Hunde nicht einfach per Luftfracht verschickt werden können, sondern einen Begleiter an Bord benötigen, der sie überführt und übergeben kann.
Auch frei herumlaufende Katzen gibt es heute überall. Ihnen geht es besser. Niemand trachtet ihnen nach dem Leben. Doch das ist ein anderes Kapitel aus dem Leben von Tieren und Menschen in Istanbul.
Von Bernd Brunner
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