Unter der Mondsichel: Von Türkenmadonnen, Croissants und Mondgesichtern

„Interessiert Dich das Stadtwappen von Halle, weil es so türkisch aussieht?“, fragt ein Freund. Ja, wie sollte eine türkeiflaggenrote Mondsichel mit je einem Stern darüber und darunter im Wappen einer ostdeutschen Provinzmetropole auch nicht zum Nachdenken über das universale Mondsichelsymbol anstiften? Warum wird der Halbmond, die Mondsichel, türkisch hilal, denn nun heute überhaupt oft für türkisch gehalten, in der zugespitzten Version für muslimisch? Ein genussvoller Biss in ein Croissant, das in Österreich gelegentlich „Türken-Kipferl“ heißt, und auf geht es zur Mondfahrt.

Stadtwappen von Halle, Moritzburg, 2017

Stadtwappen von Halle, Moritzburg, 2017

Vor ein paar Jahren entwarf ein Münchner Werbefachmann das Stadtmaskottchen Münchner Kindl neu, als tolerantes Open Kindl, weiter mit dem Kreuz als Zeichen des Christentums auf dem Gewand, neu mit dem Davidsstern für das Judentum und der Mondsichel für den Islam. Für einige Bewahrer des Abendlands ein Sakrileg, das Zeichen des Islam auf der offiziellen Wappenfigur des katholischen München – zumal das Kindl ja ursprünglich seine Karriere vor Hunderten Jahren als Mönch mit schwarzer Kutte begann. Für Aufregung sorgte der islamische Bezug dieser Mondsichel – dabei ist ein anderes Mondsichelsymbol seit langem ein starkes Zeichen in katholischen Landen: Die Mondsichel-Madonna, Maria, die Mutter Gottes, die, umkränzt von Sternen auf einer Mondsichel steht. Seit 1616 schaut eine solche Maria an der Münchner Residenz von ihrer Mondsichel, und auf dem Münchner Marienplatz funkeln seit den 1630ern hoch oben auf der Marien-Säule die Mutter Gottes und der Halbmond: Patrona Bavariae. Es gibt eine solche Madonna im Wiener Stephansdom, im kleinen thüringischen Probstzella, im andalusischen Malaga, in anderen Städten und Dörfern in Österreich, Deutschland, Spanien und mehr katholischen Landen. Albrecht Dürer erschafft Anfang des 16. Jahrhunderts seine Maria auf der Mondsichel, Kunstdrucke davon und von diversen anderen Mondsichelmadonnen gibt es bis heute – viel Mondschein also im Abendland.

Patrona Bavariae auf dem Marienplatz, München 2017

Patrona Bavariae auf dem Marienplatz, München 2017

Frau auf Mondsichel: Den Beinamen „Türkenmadonna“ wird die Mondsichelmadonna erst lange nach den ersten Beschreibungen dieses Typs der Mariendarstellung bekommen. Erstmal wird – schon vor 2000 Jahren – in der christlichen Offenbarung des Johannes von einer Apokalyptischen Frau gesprochen, „mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt“. Weil nichts unmöglich ist im Himmelreich begann um die 1000 Jahre später, im 12. Jahrhundert, die Wandlung von der schwangeren Apokalyptischen Frau zur Apokalyptischen Madonna/Mutter, die Jesus schon geboren hat und auf dem Arm trägt. Ein paar Jahrhunderte lang, wird der Mond, auf dem sie weiter steht, oft auch als Vollmond mit Gesicht dargestellt. Die erste bekannte Holzplastik dieses Madonnentyps, die Erfurter Hirschmadonna von 1370, kann wohl nur deshalb als erste plastische Mondsichelmadonna bezeichnet werden, weil sich die Mondsichel als eine Art Hut auf ein gutmütiges Vollmondgesicht legt. Im 15. Jahrhundert erfreut sich dann nicht nur Maria, sondern auch ihre Darstellung nun auf einer nach oben geschwungenen Mondsichel stehend, so großer Beliebtheit, dass Mondsicheln auch nachträglich noch unter den Füßen vieler Marienstatuen angebracht werden.

Während im 15. Jahrhundert also überall in christlichen Landen Mondsicheln populär werden, auf denen Frauen stehen, erobern im selben Jahrhundert, genau am 29. Mai 1453, die osmanischen Heere Konstantinopel. Unter Mehmet II. – aber auch schon unter dem roten Mondsichelbanner? Das ist gut möglich: Wenn man einer Legende Glauben schenkt, sah der Begründer der osmanischen Dynastie, Osman I., schon irgendwann zwischen 1258 und 1326 in einem Traum die Mondsichel, den ganzen Himmel überspannend – ein gutes Omen für ein weltumspannendes Reich, wie er fand, ein würdiges Symbol für seine Dynastie.

Graffiti In Istanbul, 2017

Graffiti In Istanbul, 2017

Die zwei Monde des Mars heißen Phobos und Deimos, griechisch für Furcht und Schrecken – mit dem Donnerschlag der Einnahme von Konstantinopel 1453 beginnen die „Türkenkriege“ und drei Jahrhunderte der Furcht und des Schreckens im Abendland. Und die beiden Monde aus „Abendland“ und „Morgenland“ treffen direkt aufeinander. Thessaloniki, Venedig, Malta, Zypern, Ungarn, Polen, Schweden, die Ukraine, Russland, und – natürlich die „Türken vor Wien“ 1529 und 1683: Halb Europa war in die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich involviert und hatte Gelegenheit, sich mit den Mondsichelbannern der Osmanen vertraut zu machen. Die Mondsichel wird zum Inbegriff des Schreckens; Hieronymus Bosch platziert schon 1500 eine rote Fahne mit Halbmond als Zeichen des Verderbens in seinem Gemälde Ecce Homo.

Und die Päpste erinnern sich an ein starkes Symbol: Die christliche Muttergottes, die die Mondsichel mit Füßen tritt, ein Bild, das die Gläubigen in vielen ihrer Kirchen schon sehen und das im Kampf gegen die „Ungläubigen“ nur noch aktiviert werden muss. 1571 siegt die Heilige Liga in der Seeschlacht von Lepanto über die osmanische Flotte, 1572 führt in Erinnerung daran Papst Pius V. das Marienfest ein, bis heute als Rosenkranzfest offizielles Fest im katholischen Kalender. Die Mondsichelmadonna wird umgedeutet zur „Maria vom Siege“, „Jungfrau vom Siege“, „Unsere liebe Frau vom siegreichen Rosenkranz“, „Unsere Liebe Frau vom Siege“ oder „Mutter vom großen Sieg“ – der Feind in Gestalt des Halbmondes zu ihren Füßen. Neben der kirchlichen Neuinterpretation älterer Mondsichelmadonnen entstehen neue, deutlich den Sieg betonende „Türkenmadonnen“: Bei Dürer 1511 noch die kindliche Mutter auf der Mondschaukel [Abbildung], wird sie in vielen Kirchen und öffentlichen Plätzen zur Siegerin: Die Mondsichel wird dann zum Beispiel voller und bekommt die Gesichtszüge eines Osmanen; die in Krems an der Donau Ende des 17. Jahrhunderts aufgestellte Maria steht direkt auf einem liegenden Osmanen [Abbildung]; aus derselben Zeit hält die Madonna in Kirchsahr ein Schwert statt eines Zepters in der Hand – und das Jesuskindlein den abgeschlagenen Kopf eines fremden Kriegers mit Schnurrbart [Abbildung]. Von Gegnern der katholischen Kirche und ihrer Päpste hingegen wird der Halbmond auch schonmal zum Protestzeichen umfunktioniert: Die protestantischen Geusen, niederländische Kämpfer gegen die Inquisition und für gleiche Rechte für Protestanten, verwenden einen Halbmond mit Inschrift als ihr Abzeichen: „Lieber Türke als Papist“ („Liver Turcx dan Pavs“).

Roter Halbmond, Izmir 2015

Roter Halbmond, Izmir 2015

Im Bäckerhandwerk wird der Halbmond, in Form des Croissants, zum Triumphsymbol. Das Croissant heißt mit vollem französischen Namen croissant de lune, auf Deutsch zunehmende Mondsichel. Und auf Österreichisch bis heute noch gelegentlich: Türken-Kipferl. Nach einer populären Legende hat zur Zeit der zweiten Türkenbelagerung Wiens 1683 ein Bäcker der Stadt bei seiner frühmorgendlichen Arbeit die tunnelgrabenden Osmanen gehört, die Stadt alarmiert, die den Angriff abwehren konnte. Zur Erinnerung wurde das mondsichelförmige Gebäckteil erfunden, das über eine Prinzessinnenverheiratung nach Frankreich kam, und von dort seinen Weg in die Welt nahm. Ins Türkische z. B. als kruvasan. 1683 wird nach dem Ende der Belagerung dann nun auch endlich, wie schon zur ersten Belagerung 1529 gefordert, der „Mondschein“ vom Wiener Stephansdom entfernt, ein „haidnisch Zeichen“, das mit Mondsichel und Sternensonne so gar nicht mehr auf diese römisch-katholische Kathedrale zu passen schien [Abbildung und ausführliche Darstellung hier].

Man in the Moon, London 2016

Man in the Moon, London 2016

Gerade der „Mondschein“ auf dem Wiener Stephansdom weist mit seiner Mondsichel und seiner Sonne / seinem Stern auf ältere Ursprünge der Mondsymbolik: In einer Interpretation steht die Sonne für den Papst, der Mond für den Kaiser. Im alten Rom für Kaiser und Kaiserin: Sonnen- und Mondgottheiten gibt es, seit Menschen Götter im Himmel vermuten. Schon vorislamische arabische Völker sollen die Mondsichel verehrt haben: Hilal wird im vorislamischen Arabien sowohl ein Mondgott als auch die Sichel des Neumonds genannt; in Persien ist sie auf Münzen zu sehen. Auch für die vorislamischen Türken war sie Teil der Mythologie. Im später von den Osmanen eingenommenen Byzanz/Konstantinopel war sie schon seit vorchristlichen Zeiten Teil der Stadtsymbolik, wohl zu Ehren von Diana eingeführt. Die römische Diana, Göttin der Jagd mit dem Halbmond-Symbol, und ihr griechisches Pendant Artemis waren Mondgöttinnen, weibliche jungfräuliche Gottheiten, und damit wohl auch „Mütter“ der christlichen Apokalyptischen Frau auf der Mondsichel. Dass die Monde, auf denen die frühen Madonnen stehen, bisweilen ein Gesicht haben, und „gesichtige“ Mondsicheln in europäischen Stadtwappen bis heute in Benutzung sind, mag auf göttliche Ursprünge verweisen.

Laß mich nicht so der Nacht, dem Schmerze,
Du Allerliebstes, du mein Mondgesicht!
O du mein Phosphor, meine Kerze,
Du meine Sonne, du mein Licht!
Aus Johann Wolfgang von Goethe, „West-östlicher Divan“, „Nachklang“

Stadtwappen von Glauchau, 2017

Stadtwappen von Glauchau, 2017

Wo auch immer die Quelle für die osmanische Mondsichel liegt – weil Sultane davon träumten, weil schon die frühen Türkenstämme den Mond verehrten, weil die Stadtsymbole Konstantinopels nach der Einnahme in die osmanische Bilderwelt übernommen wurden – jedenfalls beginnt mit den Osmanen der Siegeszug als globales Icon. Zuerst Zeichen der Elitetruppe der Sultane, der Janitscharen, später von Sultan Selim I. (1512-1520) zum offiziellen Staatssymbol erklärt, also vor der ersten Belagerung von Wien 1529. Seit Beginn des 19. Jahrhundert allerdings erst sind Mondsichel mit Stern auf rotem Grund offiziell Flagge der osmanischen Armee, heute des türkischen Heeres und natürlich der Türkischen Republik insgesamt [mehr zur Flagge auf Laytmotif]. Und der Halbmond leuchtet auf den Flaggen von Staaten, die auf dem Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reichs entstanden bzw. sich mit diesem und seiner Auslegung des Islams verbunden fühlen, z. B. Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Tunesien.

Mondsichel mit dem Profil Atatürks, Izmir 2016

Mondsichel mit dem Profil Atatürks, Izmir 2016

Mit den Gebietsgewinnen des Osmanischen Reiches, mit der osmanischen Eroberung Ägyptens 1517 und der damit verbundenen Übernahme des Kalifentitels – Stellvertreter Allahs auf Erden und Führer der Mehrheit der Muslime – verbreitet sich der Halbmond als religiös-islamisches Zeichen, wird zu einem der bedeutendsten Embleme des Islam. In der islamischen Kunst schon dekoratives Element gewesen, z. B. im Felsendom von Jerusalem und der Ka’ba in Mekka, kommt die Mondsichel mit den Osmanen nach Europa. Weithin sichtbares Zeichen war und ist sie vor allem als Abschlusselement von Minaretten: Wo neue Moscheen gebaut wurden oder Kirchen in Moscheen umgewandelt, geht der Halbmond auf: nach der Einnahme Konstantinopels wurden die Kreuze der Hagia Sophia gegen Halbmonde ersetzt; auf der großen Moschee des Paschas Gasi Kassim in Pécs strahlte der Halbmond für die Ungarn (und bekam nach der Rückeroberung und Umwandlung in eine Kirche einfach ein Kreuz darauf gesetzt). Vorläufiger Höhepunkt ist seit 2012 die gigantische Mondsichel auf dem Uhrturm in Mekka, in 600 m Höhe und mit integriertem Gebetsraum.

Ein Mond auf einem Uhrturm, Zeit und Ewigkeit, sich regelmäßig wiederholende Mondphasen: Der Mond hat lange, und noch vor der Sonne, den Alltag der Menschen strukturiert, Menschen zum Himmel schauen lassen. Wenn auch in der Türkei der Mondkalender längst im nicht-religiösen Bereich dem Gregorianischen Kalender Platz gemacht hat [mehr auf Laytmotif], ist die Sichel des Neumonds weiter Start eines neuen islamischen Kalendermonats. Einige Koran-Passagen schreiben einen Mondkalender vor. Der wichtigste Monat im Kalender, der Fastenmonat Ramadan beginnt natürlich auch mit der Sichtung der Sichel des aufgehenden Monds bzw. wenn ihre theoretische Sichtung vorausberechnet und das dann von berufenen Stellen auch bestätigt wird. Für Deutschlands Muslime legt das der Deutsche islam-wissenschaftliche Ausschuß der Neumonde (DIWAN) fest.

Rathaus Halle an der Saale, 2017

Rathaus Halle an der Saale, 2017

Im protestantischen Halle an der Saale spielen Islam und der Ramadan eine eher untergeordnete Rolle, auch wenn dort eine Mondsichel allerorten das Stadtbild prägt. Ach ja, und eigentlich sollen das im Hallenser Wappen gar keine Mondsichel und Sterne sein, sondern – als Zeichen der Salzstadt Halle – Salzkristalle und der Querschnitt der Siedepfanne. Als ich der Museumswärterin in Halle beim Fensterfotografieren sage, ich möchte über den Halbmond schreiben, in Christentum und Islam, und gerade das Wappen von Halle erinnere mich so an die türkische Flagge, sagt sie: „Schreiben Sie das bloß nicht!“ Es scheint, dass sich das Mondsymbol dem „Morgenland“ nun eindeutig zugeordnet hat. Im Tourismus-Logo der offiziellen Stadtmarketing-Website von Halle jedenfalls gibt es zwar den Stern, den Halbmond aber schon nicht mehr – ein Stück weniger Orient im Abendland.

PS: Ein Kreuz mit dem Halbmond: Das dem Halbmond gegenüberstehende ikonische Symbol ist natürlich das christliche Kreuz. Das Rote Kreuz mit seinem muslimischen Pendant Roter Halbmond, die Kreuzritter und ihre Fahnen, das Eiserne Kreuz und das der heutigen Bundeswehr, Staatsflaggen mit dem skandinavischen Kreuz, das geplante Kreuz auf dem Humboldtforum in Berlin, die Wirmerflagge, eine alternative Nationalflagge eines Hitler-Widerstandskämpfers des 20. Juli 1944 mit einem schwarz-rot-goldenen Kreuz, die heute gerne von populistisch-patriotischen Gruppierungen geschwenkt wird – das ist ein Thema für einen ganzen eigenen Artikel.0

PPS: Im Mai 2017 diskutieren Politiker, Künstler, Museumsdirektoren, Architekten, die Öffentlichkeit überhaupt, ob die Replik des Berliner Schlosses, das künftige Humboldtforum, von einem Kreuz gekrönt sein sollte – die preußischen Könige waren natürlich Monarchen von Gottes Gnaden. Der Zentralrat der Muslime regt statt des Kuppel-Kreuzes eine Kombination aus Kreuz, Halbmond und Davidstern an. Laytmotif ist aber für das Mikroskop, das der nicht-religiöse Humanistische Verband vorschlägt.