„Schah matt!“, befahl der Sultan

Es begab sich aber am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass das Volk über einen neuen Sultan in Istanbul zu flüstern begann, einen Zaren in Russland, einen Kalifen in Bagdad. Alles Märchen? An die glaubt Laytmotif nicht, Zeit also, über Eure und Unsere Majestäten, über Herrschertitel in Ost und West nachzudenken – ganz beherrscht und untertänig natürlich.

Baba Sultan (Vater Sultan) Köfteci, Berlin-Wedding 2014

Baba Sultan (Vater Sultan) Köfteci, Berlin-Wedding 2014

Wir eröffnen mit Schach, dem königlichen Spiel, dem kriegerischen Spiel: Schach, der deutsche Name für das Spiel, ist direkt abgeleitet vom persischen Wort Schah (Šāh), der Herrscher. Wenn Schach auf Türkisch auch satranç heißt, nach dem alten indischen Namen des Spiels, spielt auf dem türkischen Schachbrett trotzdem der Schah die Hauptrolle: Er entspricht dort dem König der deutschen Schachvariante.

Der Padischah, „der über das Reich waltende Herrscher“, ist die Steigerungsform des Herrschertitels Schah. Bis 1922 war er einer der Herrschertitel der Sultane des Osmanischen Reichs. Sultan – arabisch für Gewalt und Herrschaft – allein war wohl nicht ausreichend, um der Machtfülle der osmanischen Herrscher gerecht zu werden. Die osmanischen Sultane waren über Jahrhunderte meist gefürchtete und mal mehr, mal weniger geachtete absolut herrschende Monarchen, die ihre von ihren Vätern geerbte Macht vor allem über eine komplexe Militär- und Staatsorganisation und über Netzwerke von Lehnsmännern und Günstlingen sicherten.

Ungestört von Verfassungen oder dem Prinzip der Gewaltenteilung genossen sie bei der Rechtsschöpfung sehr weitreichende Kompetenzen: Neben dem religiösen Recht (şeriat) galt das Sultansrecht (kanun), das die Verordnungen des Sultans enthielt (Faroqhi, Geschichte, S. 48). Dem Sultan gehörte bis auf Häuser und Gärten alles Land. Auch waren – anders als in Europa – alle Bewohner des Reichs  direkte Untertanen des Sultans. (Faroqhi, Geschichte, S. 22.)

Im Topkapı Sarayı, Sultanspalast, İstanbul, Sultanahmet, 2013

Im Topkapı Sarayı, Sultanspalast, İstanbul, Sultanahmet, 2013

Glanzvoller Höhepunkt der osmanischen Regentschaften war die 46 Jahre dauernde Herrschaft von Süleyman I im 16. Jahrhundert. In der westlichen Welt einigermaßen kniefällig und wohl auch neidvoll „der Prächtige“ genannt, mutet sein osmanischer Beiname ganz unverblümt-pragmatisch an: Ḳānūnī‚ der Gesetzgebende. Für das heutige Ohr eher blumig-pathetisch, war die Trauerode auf Süleyman der Rolle eines Sultans jedoch sicher angemessen: „Es ist wahr, dass er Schmuck und Zier des Glückes und der Würde war, denn ein Schah war er…“. (Kreiser, Istanbul, S. 192)

„Der Kalif tat die Pfeife ein wenig aus dem Mund und sprach: Warum machst du ein so nachdenkliches Gesicht, Großwesir?“ Wer das wissen möchte, muss das „Märchen von Kalif Storch“ des deutschen Romantikers Wilhelm Hauff von 1825 weiterlesen, in dem ein Kalif zu Bagdad in einen Storch verwandelt wird. Märchen eben – denn zu jener Zeit saß der Kalif, Stellvertreter Allahs auf Erden und Führer der Mehrheit der Muslime, nicht in Bagdad, sondern in Konstantinopel: Es war der osmanische Sultan Mahmut II. Seit der osmanischen Eroberung Kairos 1517 und damit der Übernahme des Kalifats bekleideten die Sultane das Amt des Kalifen. Diese Vormachtstellung im islamischen Kulturkreis – symbolisch übertragen jeweils bei Amtsantritt in der Zeremonie der Schwertumgürtung – behielten sie bis zur Abschaffung des Kalifats durch den Gründer der türkischen Republik Atatürk im Jahr 1924.

Sultan? Emir? Kalif? Streetart Berlin-Wedding, 2014

Sultan? Emir? Kalif? Streetart Berlin-Wedding, 2014

Antike Säulen, Männerfreundschaften und Waffenbrüderschaften führen von den Sultanen zu den Kaisern. Die Eroberung von Konstantinopel, Sitz der Oströmischen Kaiser, war wichtigstes Ziel der frühen Osmanen. Nach der Einnahme 1453 und der Niederlage des letzten Kaisers Konstantin XI., dem eigentlichen Beginn des Osmanischen Reichs, integriert Mehmet II. antike Säulen aus den Palästen der Stadt in die von ihm neu errichteten Gebäude. Historiker deuten dies als Signal Mehmets II., sich in die Nachfolgerschaft der Oströmischen Kaiser zu stellen (Faroqhi, Reich, S. 41). Das war ziemlich am Anfang – und am Ende? In der Endphase des Osmanischen Reiches freundete sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. mit den Osmanen an: Berühmt gewordene Reisen führten ihn 1889 und 1898 an den Bosporus; eine letzte 1917, auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs, bevor die Koalition aus Deutschland, Österreich-Ungarn, dem Osmanischem Reich und Bulgarien 1918 besiegt wurde.

Vierbund im Ersten Weltkrieg: Kaiser Wilhelm II. (Deutsches Reich), Sultan Mehmed V. (Osmanisches Reich), Zar Ferdinand I. (Bulgarien), Kaiser Franz Joseph I. (Österreich-Ungarn) Credits: von B. B. & O. L. G. M. B. H. (my archive) [Public domain], via Wikimedia Commons

Vierbund im Ersten Weltkrieg: Kaiser Wilhelm II. (Deutsches Reich), Sultan Mehmed V. (Osmanisches Reich), Zar Ferdinand I. (Bulgarien), Kaiser Franz Joseph I. (Österreich-Ungarn)

Kaiser hat es auf dem Schachbrett nie gegeben, seit 1918 – Ende einer vielhundertjährigen Geschichte – gibt es auch keine mehr in Europa. Kaiser ist das vermutlich älteste lateinische Lehnwort im deutschen Sprachraum, vor Christi Geburt für „Herrscher“ übernommen von Cäsar, dem Beinamen von Julius Cäsar. Car, auf Deutsch Zar, ist die slawische Ableitung für die bulgarischen, russischen und serbischen Kaiser. Carigrad, Kaiserstadt, heißt İstanbul auch heute noch in slawischen Sprachen.

„Gehorche!“ All diese gekrönten und beturbanten Häupter beherrschten die Befehlsform, den Imperativ. Abgeleitet vom lateinischen imperium für Befehl, Herrschaft, Reich. Nicht nur als  Kategorie der deutschen Grammatik weiter im Sprachgebrauch, sondern zum Beispiel auch in den Worten Imperialismus, Imperium und dem englischen emperor für Kaiser. Und es hat sich mit Osmanlı İmparatorluğu (Osmanisches Reich) auch ins Türkische eingeschmuggelt.
„Itaat et!“ Im Türkischen wird hingegen in der Befehls- und Aufforderungsform Emir befohlen. Im deutschen Sprachraum vor allem bekannt durch die diversen arabischen Emirate und den Blödelreim „Da sprach der Scheich zum Emir, erst zahl‘n wir und dann geh‘n wir.“

Rose & Crown & Turks im Royal Borough of Kensington and Chelsea, London 2014

Rose & Crown & Turks im Royal Borough of Kensington and Chelsea, London 2014

Jetzt hätten wir doch fast den König vergessen, die wichtigste Figur auf dem deutschen Schachbrett. Der König war im Altgermanischen ursprünglich ein aus vornehmem Geschlecht stammender Mann. Und der kommt weder im türkischen Schach noch als Wort in der türkischen Sprache vor. Dort wird für den König die altslawische Adelsbezeichnung Kral benutzt, im Alltag zum Beispiel in kral sofrası, Königstafel, für ein besonders opulentes Buffet, von dem wir wie die Könige aßen, krallar gibi yedik. Eine weibliche Form gibt es, für ausländische Herrscherinnen, auch: Kraliçe Elizabeth II. ist der Beweis.

Kral am Lampenmast, Berlin-Mitte 2014

Kral am Lampenmast, Berlin-Mitte 2014

„Gestern erst hörte ich die Königin sagen, du verdientest geköpft zu werden!“, wird Alice im Wunderland mitgeteilt. Das überlegt die Herzkönigin, eine Spielkarte. Die beiden englischen Schachköniginnen in Lewis Carrolls Nachfolgegeschichte „Alice hinter den Spiegeln“ sind weniger mordlustig. Königinnen sind schon im deutschen Schach nur noch Damen, im türkischen gibt es keine Frauen auf dem Brett.  Dort spielt der Wesir (türk. Vezir) an der Seite des Schah, vergleichbar einem Minister in Sultans Diensten, der im Osmanischen Reich half, des Sultans Willen auszuführen.

Keine Frau auf dem türkischen Schachbrett also, zumindest nicht sichtbar. In der ältesten konstitutionellen Monarchie der Welt, Großbritannien, prägten Königinnen offiziell ganze Zeitalter:  Elizabeth I. in einer Zeit, in der Gegenspielern durchaus auch Köpfe abgeschlagen wurden – bzw. Gegenspielerinnen wie der schottischen Königin Maria Stuart. Und Queen Victoria, die sich ab 1877 auch mit dem Titel der Kaiserin von Indien schmückte.  Im Russland des 18. Jahrhundert war Zarin Katharina die Große mächtige Gegenspielerin der Sultane in den türkisch-russischen Kriegen. Unter ihr verlor das Osmanische Reich die Krim an Russland.
Die osmanischen Sultansgemahlinnen und -mütter hingegen agierten im hermetisch abgeschlossenen Harem, Sklavinnen aus allen Ecken des Reiches, die nach langen Auswahlprozessen mit den Sultanen verheiratet worden waren. In Zeiten schwacher oder minderjähriger Sultane prägten diese Gattinnen und Mütter (Valide Sultan) die Regierungsgeschäfte im Hintergrund entscheidend mit. Hürrem Sultan, auch Roxelane genannt, und Kösem Mahpeyker, stehen exemplarisch dafür. Eine ganze Regierungsperiode heißt in der offiziellen Geschichtsschreibung Weiberherrschaft (kadınlar saltanatı).

Sultanine bezeichnet im Deutschen eine große Rosine, nicht die Frauen um den Sultan: Die Zugehörigkeit zur osmanischen Dynastie zeigte das den eigentlichen Namen der Gattinnen, Mütter und Töchter nachgestellte Sultan an. Aus dieser Tradition heraus wurde ab den Jahren der türkischen Republik Sultan zum weiblichen Vornamen – 2013 auf Rang 10 der am häufigsten vergebenen. Einen männlichen Vornamen Sultan gibt es nicht.

Hotel und Juwelier Prens, Berlin-Neukölln 2014

Hotel und Juwelier Prens, Berlin-Neukölln 2014

Wo Sultane und viele Gemahlinnen, da auch viele Nachkommen – im Herrschaftsgefüge von Bedeutung waren dabei nur die Şehzade (Schehsade) genannten männlichen Kinder. Die in den Zeiten gefährlich lebten, als die Prinzenmorde zur Beseitigung überflüssiger Thronanwärter praktiziert wurden, später auch, als diese in Prinzenkäfigen weggesperrt wurden. Da dürfte es für die wirklichen, die europäischen Prinzen und Prinzessinnen gemütlicher zugegangen sein, wie auch die türkische Sprache anerkennt: Ein feststehender Begriff für ein Glücksversprechen, eine Glücksehnsucht ist im Türkischen nicht ein Şehzade, sondern ein Prinz (prens) auf dem weißen (beyaz) Pferd (at), beyaz atlı prens. Ausländische royale Königssprösslinge sind in der Türkei also der prens und die prenses. Und es gibt auch ins Türkische integrierte Märchenfiguren wie die Pamuk Prenses, die Baumwollprinzessin, das deutsche Schneewittchen. Und weil das Konzept der Kleinstaaterei kein osmanisches ist, musste ein türkisches Wort erfunden werden: prenslik, das Fürstentum.

Circus Krone: Eure Gunst Unser Streben

Circus Krone: Eure Gunst Unser Streben

Ach, so viele Informationen – da fühlt man sich ganz matt. Dass das Wort matt vom persischen Schachausdruck „šāh māta“ (Der König ist tot) in die deutsche Sprache gelangte, dort zunächst die allgemeine Bedeutung entkräftet annahm und später auch glanzlos, kann Ihnen vielleicht später mal ein Fakir erklären. Im deutschen Sprachgebrauch benutzt für einen, der auf Nadelkissen rastet, bedeutet das türkische Wort fakir einfach arm.

Quellen:
Carigrad (Wictionary, Stand 20. Mai 2014)
Lewis Carroll: Alice’s Abenteuer im Wunderland. Achtes Kapitel: Das Croquetfeld der Königin (Projekt Gutenberg)
Suraiya Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reiches (C. H. Beck, 2000)
Harem (Wikipedia, Stand 3. September 2014)
Kaiserzeit – Wilhelm II. (Deutsches Generalkonsulat Istanbul 2014)
Klaus Kreiser: Istanbul: Ein historischer Stadtführer (C. H. Beck, 2009)
Liste osmanischer Titel (Wikipedia, Stand 14. August 2014)
Osmanisches Reich (Wikipedia, Stand 3. September 2014)
Padischah (Wikipedia, Stand 4. August 2014)
Satranç (Vikipedi, Stand 4. Juli 2014)
Schach (Wikipedia, Stand 7. September 2014)
Şehzade (Wikipedia, Stand 4. August 2014)
Sultan (Karlsruher Türkenbeute Glossar, Stand 8. September 2014)
Sultan (Wikipedia, Stand 23. August 2014)
Weiberherrschaft (Wikipedia, Stand 31. Oktober 2013)