Garnitür: Rein in die Kartoffeln

„Die Deutschen sind dumme Kartoffeln“, sagte der Satiriker Jan Böhmermann kürzlich in einem Interview zu seinem „Schmähgedicht“, das ihm eine Beleidigungsklage des türkischen Präsidenten eingebracht hatte. Die Komikerin Anke Engelke lässt in ihrem vielgesehenen Spot „Deutschkurs für türkische Mitbürger“ die Schülerin Gülay „Kartoffelfresserland“ als Name für Deutschland vorschlagen – zumindest deutsche Komiker also bedienen noch öffentlich das türkisch-deutsche Kartoffelklischee.

Gerade in Zeiten wieder zunehmender kulturell-nationaler Grenzziehungen lohnt es sich, auf die Ursprünge dieses von Türken und Deutschen gern nacherzählten Klischees zu schauen. Denn nach allem, was man hört und liest, spielt es heute nicht nur bei deutschen Satiriker*innen eine Rolle, sondern weiter auch auf Schulhöfen und bei deutschen Ministerinnen, die damit einen frühen Kartoffel-Selfie-Trend auslösten, ist in Kolumnen deutsch-türkischer Autor*innen zu finden, wird in Filmen und Romanen zum Thema. Die deutsch-türkische Autorin Aslı Sevindim widmet in ihren Buch „Candlelight Döner“ (noch ein Essensklischee…) das Kapitel „Mein Mann, die Kartoffel“ den Komplikationen deutsch-türkischer Eheschließungen und dann natürlich das ganze Buch den gegenseitigen Stereotypisierungen von Türken und Deutschen.

Kartoffeln, Berlin 2016

Kartoffeln, Berlin 2016

K-a-r-t-o-f-f-e-l: Der Klang des Wortes gibt doch irgendwie schon ein Bild mit. „Kartoffel“ sagend klingt der Stoffel auf, laut Duden eine „ungehobelte, etwas tölpelhafte männliche Person“, man sieht förmlich den Kartoffelstampf mampfenden Esser. „Hört“ regelrecht die rundliche bauchige blässliche Knolle. So deutsch… Heute vielleicht. Kartoffel, der auf Deutsch verbreitetste Name für die Erdknolle, leitete sich jedoch aus dem Italienischen ab: Über zahlreiche Zwischenstufen wie Holländische Tartuffeln, Taratoufflo, tartufo kommt er von tartufolo, dem italienischen Wort für Trüffel, einem unterirdisch wachsenden Pilz. Dass sich der Name im Deutschen für den offiziell Solanum tuberosum genannten Knolligen Nachtschatten durchgesetzt hat, ist eher Zufall. Erdapfel, regional unter anderem auch Aardäppel, wie meine Großmutter die Kartoffel noch genannt hat, war lange im Rennen. Und ist heute noch der offizielle Name auf Französisch: Pomme de Terre. Im Türkischen gibt es den Erdapfel auch, yer elması – dort ist es allerdings der Name für eine andere Knolle, die, die auf Deutsch Topanimbur heißt.

Ein anderer Obst-Namenszweig führt auf die türkische Spur: Grundbirne, Grundbeere, Grumbeere, Gromper, Grumbiere, Krumenbeeren, Krumir im Siebenbürger Sächsisch, Krumbiir – kommt das Türkei-Kennern irgendwie bekannt vor? Dieser Wortstamm hat über die Zeiten abgewandelt seinen Weg auch auf den lange Zeit osmanischen Balkan genommen, z. B. heißt die Kartoffel auf Serbokroatisch krumpir. Nicht weit bis zum Namen eines heute sehr populären türkischen Snacks: Kumpir, große Ofenkartoffeln mit allen möglichen Füllungen, Käse, Butter, Mezze, Salate. Gibt es natürlich unter diesem Namen heute auch – wie den Döner –in deutschen Großstädten mit türkischem Bevölkerungsanteil.

Als die Großmutter eines türkischen Freundes in den 1960ern nach Deutschland kam, fand sie die deutsche Sprache gar nicht so schwer: Die Kartoffel würde hier fast so heißen, wie sie sie nannte: kartol. Kartol ist der kurdische und ein regional türkischer Name für die Kartoffel, neben zum Beispiel qompîr, petetêz und petete. Offiziell heißt die Kartoffel auf Türkisch fast wie letztere, patates. Verwandt mit den englischen potatoes, fast identisch mit dem italienischen patate und gleich dem spanischen patates. Die spanischen Eroberer brachten im 16. Jahrhundert – neben viel Gold und Silber – sowohl die Knolle als auch ihren Inka-Namen papa aus Lateinamerika mit nach Europa und von da auf ihren globalen Siegeszug. Vermischt mit batata, dem indianischen Namen für die ähnliche Süßkartoffel, wurde sie zur patates, so oder so ähnlich in vielen Ländern der Welt.

Kolega: Kumpir mit Humus und Grillgemüse, Südblock, Berlin 2016

Kolega: Kumpir mit Humus und Grillgemüse, Südblock, Berlin 2016

Die Frucht und ihr Name, weder deutsch und noch nicht mal europäisch – wie konnte sie zum Inbegriff des Deutschtums werden? Um 1570 in Europa angekommen, trieb die Pflanze erstmal langsam in alle Richtungen des Kontinents aus. Bis ins 17. Jahrhundert zunächst als Blütenpflanze geschätzt, Schmuck von botanischen Gärten und Edelfrauen, begann sie im 18. Jahrhundert als Nahrungsmittel zu reüssieren. In Sachsen begann man 1716 mit dem Anbau im größeren Stil, bevor dann ab 1738 in Preußen die Grundlage für die deutsche Vereinnahmung der Kartoffel gelegt wurde. König Friedrich II. von Preußen hielt die Kartoffel wegen ihrer Anspruchslosigkeit und Nahrhaftigkeit, im Vergleich z. B. zu Getreide, für ideal zur Massenversorgung einer wachsenden Bevölkerung, in Zeiten von Kriegen und Hungersnöten. „Wegen Anbauung der Tartoffeln“: Mit den „Kartoffel-Befehlen“, Anordnungen und Rundschreiben, verordnete und förderte Friedrich der Große ab 1746 gezielt den massenhaften Anbau der Pflanze. „Kartoffelfresser“ waren zu dieser Zeit die Preußen, so genannt von den Schwaben und Bayern.

Im Schweinsgalopp – ja, zu Schwein und Kartoffel wird es später noch etwas zu sagen geben – im Schweinsgalopp also, und nur die Ackerkrume an der Oberfläche kratzend, soll es nun von da über die nächsten 200 Jahre Industrie-, Gesellschafts- und Kartoffelgeschichte gehen: Deutschland wurde in dieser Zeitspanne bis zum II. Weltkrieg zum hochindustrialisierten Staat, indem sich im 19. Jahrhundert landwirtschaftliche Revolution, die Phasen der Industrialisierung und eine Bevölkerungsexplosion gegenseitig bedingten. Während der landwirtschaftlichen Revolution vergrößerten sich landwirtschaftliche Anbauflächen generell, neue, mechanisierte Anbau- und Erntemethoden verhalfen zu mehr Erträgen für die Großbauern, vergrößerten aber im Gegenzug die wirtschaftliche Not der Kleinbauern. Verschiedene Industrialisierungsphasen, besonders die Hochindustrialisierung ab 1870, verwandeln Deutschland von einen stark agrarisch geprägten Land in einen modernen Industriestaat. Automatisierung von Produktionsprozessen, z. B. die Fließbandfertigung, Steinkohleförderung und Stahlproduktion, der Maschinen- und später Rüstungsbau, der Handel: Hamburger Hafen, Thyssen, Krupp, Siemens, Bergmann Borsig und all die anderen Unternehmen waren bald angewiesen auf Millionen – vor Allem ungelernter und natürlich hungriger – Arbeitskräfte.

In dieser Zeit noch keine Vertragsarbeiter aus der Türkei, sondern zunächst beschäftigungslose Bauern aus deutschen Landen, später erste Arbeitsmigranten z. B. aus Polen, drängten in die schnell wachsenden Städte und Industrieregionen. Auch weil das Durchschnittsalter stieg, wuchs die Bevölkerung rasant. Das Stadtproletariat als neu entstandene Unterschicht hatte kaum Zugang zu Fleisch, Obst und Gemüse, die nicht in ausreichender Menge und günstig produziert werden konnten. Anders als die Kartoffel: Wenn nicht wie zur potatoe famine, der Kartoffelhungersnot, in Irland 1845 und 1852, durch Missernten reduziert, lieferten Kartoffeln verlässlich als Hauptnahrungsmittel Energie, auch Spurenelemente und Vitamine – in dieser Kombination unentbehrlich als Armenessen für die Millionen Tagelöhner des Kapitalismus, die anderswo auf dem Globus Reis oder Bohnen aßen. Dafür wurden Kartoffeln, Kartoffeln, Kartoffeln auf immer größeren Flächen und nach den neuesten Anbaumethoden angebaut.

Zwei Kartoffeln, Berlin 2016

Zwei Kartoffeln, Berlin 2016

Der Sprung Deutschlands unter die wichtigsten Industrienationen zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde nicht unwesentlich befördert durch Wirtschafts-, Rüstungs- und Handelsprojekte mit dem riesigen Osmanischen Reich. Das zwar willkommener Absatzmarkt war, aber selbst die Industrialisierung verpasst hatte, 1876 den Staatsbankrott erklären musste und bis zur Gründung der Türkischen Republik 1923 von seinen Gläubigern abhängig blieb. Geprägt von Handwerk und Landwirtschaft, gab es keinen Bedarf für ein „neues“ Massennahrungsmittel wie die Kartoffel. Erst 1850 wurde überhaupt in Istanbul begonnen, Kartoffeln als exotisches Gemüse zu verkaufen. Ab den 1870ern wurde die Knolle langsam bekannter im Land. Bis 1895 ins Osmanische Reich importiert, begann erst danach die Eigenproduktion im Flusstal von Sakarya, wo es heute noch einen Bezirk mit dem Namen Patates Hali gibt.

„Gut versorgt im deutschen Land, wenn Kartoffelkarte zur Hand“ (Feldpostkarte von 1916): Kartoffeln waren auch Grundnahrungsmittel in zwei mörderischen Weltkriegen und in den Hungerjahren jeweils danach. Nachdem Hitlerdeutschland 1945 im II. Weltkriegs kapituliert hatte, sicherten in den ersten Nachkriegsjahren bis zum Beginn der Marshallplan-Hilfen aus den USA vor allem rationierte Kartoffeln und Steckrüben das blanke Überleben. Wo es irgend möglich war, wurden Kartoffeln angebaut, auch im Berliner Tiergarten. Bis in die 1960er dienten Kartoffelferien, die heutigen Herbstferien, dazu, auch Schulkinder für die Ernte mit der gesamten Familie freizustellen; in der DDR sammelten Kinder noch bis in die 1960er zum Schutz der Pflanzen Kartoffelkäfer. In den 1950er Jahren war die Kartoffel eines der essentiellen Lebensmittel: 186 kg Kartoffeln betrug der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch 1950 in Westdeutschland.

Kartoffel-Ernte im Berliner Tiergarten, Oktober 1946. © Bundesarchiv

Kartoffel-Ernte im Berliner Tiergarten, Oktober 1946. © Bundesarchiv

Was sahen die türkischen Vertragsarbeiter, die in der Folge des Anwerbeabkommens 1961 nach Deutschland kamen, auf den Tellern ihrer deutschen Kollegen, in den Kantinen der Werke im wieder erstarkten Ruhrgebiet, bei den neuen Autobauern in Stuttgart, München und Wolfsburg, im Hamburger Hafen? Kartoffelsuppe, Kartoffelbrei, Kartoffelpuffer, Bratkartoffeln, Pellkartoffeln, Kartoffelsalat. Und am Sonntag Salzkartoffeln oder Kartoffelklöße – oder zu besonderen Anlässen Kartoffelkroketten – als Zutat zu Fleisch und Gemüse. In den Gemüseläden Kartoffeln, neben Weiß-, Rot-, Rosenkohl und Karotten, noch nicht begleitet von Südfrüchten, Tomaten, Zucchini. Auch wenn der Kartoffelverbrauch Anfang der 1960er inzwischen schon auf 130 kg/Jahr gesunken war, dürften Kartoffeln tatsächlich allgegenwärtig gewesen sein. Kein Reis, keine Nudeln, kein Gyros, keine Pizza, sowieso kein Döner im Brot: Italiener und Griechen waren zu kurz vor den Türken gekommen, als dass ihre Essensgewohnheiten die deutsche Küche hätten kulinarisch prägen können, lange bevor es vietnamesische Bootsflüchtlinge und Vertragsarbeiter getan haben, vor einer vom Konsum getriebenen Globalisierung und ihrem Südfrüchtehandel, vor einer international betriebenen industriellen Landwirtschaft für die reiche westliche Welt.

In dieser Zeit wurzelt das Kartoffel-Klischee: Erst wenn große Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Gewohnheiten und Kulturen unmittelbar aufeinander treffen, können sich solche Alltagsklischees entwickeln. In den 1960ern mit dem Zustrom italienischer, griechischer und türkischer Arbeitskräfte entstehen die Bilder von „Spaghettifresser“, „Kartoffelfresser“ und „Knoblauchfresser“. Die auch in die Heimatländer wieder mit zurückreisen: Der SPIEGEL berichtet schon 1963, dass 500 deutsche Italien-Urlauber ihren Urlaub abbrachen, vertrieben von deutschfeindlichen Demonstrationen der Italiener: „Kartoffelfresser raus!“. Die Kartoffel ist als Symbol für den ungeliebten Deutschen also auch in anderen Ländern zu finden – und sie ist Stereotype für den „hässlichen Deutschen“ selbst bei manchen Deutschen, solchen, die sich für kartoffelferner, aufgeschlossener, internationaler einschätzen: Jörg Immendorfs Gemälde „Der Deutsche Kartoffelfresser“ von 1991 zum Beispiel ist bei einem großen Bildarchiv u. a. mit den Schlagworten „Gesellschaft“, „Gesellschaftskritik“, „Glatze“ und eben „hässlicher Deutscher“ gelabelt.

Ein Klischee, vom französischen cliché, Abklatsch, ist eine, wenn auch hartnäckige, so doch abgegriffene, eingefahrene, überkommene, unschöpferische Vorstellung, schreibt der Duden. Deutsche verbrauchten 2015 noch ca. 58 kg Kartoffeln pro Kopf, weniger als die Hälfte als zum Zeitpunkt der ersten Gastarbeiter aus der Türkei 1961 – ein hinterer Platz in Europa. Deutschland produzierte 2014 „nur“ noch 11 Mio. Tonnen Kartoffeln, nach ca. 30 Mio. 1961. In der Türkei verdreifachte sich die Kartoffelproduktion von 1,4 Mio. 1961 auf ca. 4,2 Mio. Tonnen 2014. Wenn man nur den lapidaren, kurzen türkischen Wikipedia-Eintrag mit den mehreren ausschweifenden deutschen zur Kulturgeschichte der Kartoffel vergleicht, scheint man der Kartoffel in der Türkei trotzdem weiter einigermaßen gleichgültig gegenüberstehen. Und wundert sich dort, dass hierzulande die Kartoffel nicht Gemüse ist, sondern „garnitür“, Beilage. Und das ist sie oft ganz klassisch weiter, trotz raffinierten Kartoffelgratins, Fisch in Kartoffelkruste, Kartoffel als Zutat zu mediterranem Ofengemüse. „In meinem Büro reden alle immer nur von Kartoffeln mit Quark.“, sagt ein türkischer Freund in Berlin.

Keine Kartoffel, sondern Leberwurst, Dresden 2016

Keine Kartoffel, sondern Leberwurst, Dresden 2016

„Die Kartoffel als beleidigte Leberwurst“ war in einem türkisch-deutschen Kulturmagazin kürzlich zu lesen. Dort kommen also – nur das Bier fehlt – zwei Deutschenklischees schön zusammen: Kartoffel und Wurst. Seit Kartoffeln in der Schweinemast eingesetzt werden, wurde auch dadurch Schweinefleisch erschwinglicher. Während der Kartoffelverbrauch seit 1961 massiv sank, hat sich der Schweinfleischverbrauch seitdem bis in die 1990er verdoppelt, sinkt seitdem nur langsam. Die richtige Bezeichnung für Deutschland war im Spot „Deutschkurs für türkische Mitbürger“ also theoretisch folgerichtig nicht Kartoffelfresserland, sondern Schweinefresserland.

PS: Wenn die Kartoffel auch in der Folge grausamer spanischer Eroberungs- und Christianisierungsfeldzüge der Spanier von Lateinamerika nach Europa und in die übrige Welt kam, kam sie doch zu spät, um in den religiösen Schriften der Weltreligionen noch eine (kontroverse) Rolle einnehmen zu können. Die Kartoffel ist – es soll auch mal übertrieben werden – geradezu Inbegriff globaler Toleranz, eine anspruchslose Pflanze, die weltweit in jeder Kultur auf jedem Boden wächst. Anders als das Schwein. Das Schwein als Abgrenzungssymbol und Klischee ist nun ein ungleich delikateres Thema als die Kartoffel; es wird in diesen Zeiten zunehmender nationaler Selbstvergewisserung verstärkt zur religiös-kulturellen Abgrenzung benutzt. Aber das ist Stoff für einen eigenen Artikel.

Zum Weiterlesen:
Alman mutfağı (Vikipedi, Stand 04.06.2016)
Jan Böhmermann: „Die Deutschen sind dumme Kartoffeln“ (stern.de, 04.05.2016)
Maria Fiedler: Knolle in der Krise (Tagesspiegel, 06.02.2015)
Kulturgeschichte der Kartoffel (Wikipedia, Stand 19.11.2016)
Land des Lärms (Italien/Fremdenverkehr, DER SPIEGEL, 13.05.1964)
Patates (Vikipedi, Stand 05.10.2016)
Patatesin Tarihi (bugraderci.blogspot.de, 03.06.2012)
Potatoe (Food and Agriculture Organization of the United Nations, Stand 22.11.2016)
Henri Tartaglia: Endlich ein deutscher Internet-Trend: Kartoffel-Selfies! (vice.com, 19.05.2014)
Filiz Taşdan: Wenn aus der Kartoffel eine beleidigte Leberwurst wird. (renk-magazin.de, 21.04.2016)