Laytmotif auf Reisen: Notizen aus İzmir, Antalya und İstanbul

İstanbul

„Siyasi manipülasyonun görsel dili“, die visuelle Sprache der politischen Manipulation, ist eine Überschrift im Flyer zur aktuellen Ausstellung bei Depo Istanbul. Sie zeigt Arbeiten von Ali Cabbar, nachgemalte und gezeichnete Wahlposter und Symbole politischer Parteien aus den letzten Jahrzehnten türkischer Politik, seit der Einführung des Mehrparteiensystems in der Türkei 1946. „Tipsiz/Ugly“ sind sie, so der Titel der Ausstellung, „they fail to stimulate real debate“ (Ausstellungsflyer) ist die These.

Ali Cabbar: „Tipsiz/Ugly“, Depo Istanbul, 2016

Ali Cabbar: „Tipsiz/Ugly“, Depo Istanbul, 2016

Irgendwie auch ein Kommentar zur gegenwärtigen Situation in der Türkei: In Istanbul, anders als in Antalya oder Izmir, wird großflächig und massenhaft für den Kampf gegen Terror und Putschversuche geworben. In der Metrolinie, die den Taksim quert, waren aktuell keine kommerziellen Werbungen zu sehen, in jedem Zug hängen Dutzende der immergleichen rot-weißen Plakate: „Biz Milletiz Türkiye’yi darbeye teröre yedirmeyiz“, „Wir sind ein Volk, das die Türkei nicht von Putsch und Terror vernichten lässt“. Der Satz wird z. T. außen an den Zügen wiederholt, in den Metrostationen und großflächigen Plakaten in der Stadt.

„Biz Milletiz Türkiye’yi darbeye teröre yedirmeyiz“, „Wir sind ein Volk, das die Türkei nicht von Putsch und Terror vernichten lässt“, Istanbul, 2016

„Biz Milletiz Türkiye’yi darbeye teröre yedirmeyiz“, „Wir sind ein Volk, das die Türkei nicht von Putsch und Terror vernichten lässt“, Istanbul, 2016

Am Atatürk-Kulturzentrum, seit Jahren geschlossen und nun wohl endgültig bald abgerissen, hängt eine Variante, die auch an den endlosen Ausfallstraßen Istanbuls zu sehen ist: „Hakimiyet Milletindir“, die „Souveränität/Herrschaft des/der Volkes/Nation“.

„Hakimiyet Milletindir“, die „Souveränität/Herrschaft des/der Volkes/Nation“, Atatürk-Kulturzentrum, Taksim, Istanbul 2016

„Hakimiyet Milletindir“, die „Souveränität/Herrschaft des/der Volkes/Nation“, Atatürk-Kulturzentrum, Taksim, Istanbul 2016

Auf dem wichtigsten Kulturevent Istanbuls in diesem Herbst 2016, der İstanbul Tasarım Bienali, der Design-Biennale, gibt es keine wie auch immer gearteten Plakate oder Botschaften zu sehen. An der Fassade des Hauptausstellungsortes hängen zwar ratlose Fragezeichen, die ausgestellten Arbeiten selbst haben, anders als bei den letzten beiden Ausgaben, kaum noch einen konkreten Bezug zu Design, Gestaltung und Formgebung, Lebenswirklichkeiten vor Ort: „Art meets science meets reflection meets speculation in a new kind of conversation about design“ ist die Biennale-Selbstauskunft, „Are We Human?” fragen die beiden Kurator*innen Beatriz Colomina und Mark Wigley in ihrem kuratorischen Manifest.

İstanbul Tasarım Bienali, Design-Biennale, 2016

İstanbul Tasarım Bienali, Design-Biennale, 2016

„Maymun Yasası / Ape Law“ von Forensic Architecture, co-kuratiert von Anselm Franke vom Hkw Berlin„ Eklembacaklınotlar/Spidernauts“ von Tomás Saraceno, Thomas Demand, Ali Kazma aus Istanbul mit einer Videoarbeit zum Global Seed Vault auf den Svalbard-Inseln, wo die Staaten der Welt Notreserven ihrer Pflanzensamen für den Katastrophenfall aufbewahren: alles Themen und Personen, wie man sie auch immer wieder auf einer „Essayausstellung“ in Berlin sehen könnte. In Istanbul aber eben nicht regelmäßig, weil es für diese Art von Kunst-Wissenschaft-Design keine permanenten Ausstellungsräume gibt – viele Schulklassen haben das zumindest an diesem Vormittag als Angebot der kulturellen Bildung rege wahrgenommen.

Sokaklar Bizimdir, Reclaim the Streets: Graffiti in Tophane, 2016

Sokaklar Bizimdir, Reclaim the Streets: Graffiti in Tophane, 2016

„Westliche“ Besucher waren diesmal auf der Biennale, im „Amüsierviertel“ Beyoğlu, in der touristischen Altstadt Sultanahmet kaum zu sehen – wie schon in Antalya waren gerade die für diese Zielgruppe gedachten Orte merklich leer, die Galerien, die Bierbars, die Design-, Bio- und Smoothieläden. Spürbar war das gerade im Gegensatz zur Geschäftigkeit der Restaurant- und Ladenviertel zum Beispiel in Kadıköy, den Tausenden, Millionen Menschen, die sich täglich in Metros, Metrobussen, den Geschäftsvierteln bewegen. Auch wenn jedoch die gegenwärtige politische Lage, die sich in den letzten Tagen mit neuen Verhaftungen nochmal zuspitzte, nicht wirklich zu Besuchen einlädt: Um besser zu verstehen, zu reden, sich auszutauschen, ist der Besuch vor Ort wichtig. Und weiter möglich.

Auch Istanbuler Hausfassaden: Wohntürme in Hadımköy, 1,5 Stunden mit dem Metrobus vom Zentrum

Auch Istanbuler Hausfassaden: Wohntürme in Hadımköy, 1,5 Stunden mit dem Metrobus vom Zentrum

Antalya

In Antalya kann man im Kreml wohnen, im Topkapı Saray, im Dogenpalast von Venedig. Und anderen Hotels, die Märchenschlössern nachempfunden sind. Während weiter an neuen Hotels gebaut wird, waren einige Hotels im vergangenen Sommer geschlossen, wegen fehlender Touristen aus Russland und Deutschland vor allem, und aus anderen Ländern. Eine Katastrophe für Tausende Hotelangestellte, die damit ohne Arbeit und Einkommen blieben.

Wenig deutsche Spuren in Antalya: Neue Volks Bazaar

Wenig deutsche Spuren in Antalya: Neue Volks Bazaar

In der pittoresken Altstadt von Antalya sind die Hotels und Restaurants geöffnet – und meist herrscht eine fast bedrückende Leere. Auch wenn die Saison für die Touristenmassen im November (trotz 28°) auch in den letzten Jahren wohl vorüber war, erfährt man in Gesprächen, wie spürbar das Ausbleiben der Urlauber in diesem Jahr war: Deutschlernende Schüler*innen könnten nicht mehr auf die Straße geschickt werden, um Deutsche zum Deutschsprechen zu treffen, man hätte sich in diesem Sommer fast gewundert, ausländische Tourist*innen zu sehen. Die Pubs der Altstadt sind am Wochenende trotzdem voll, traditionell kommen die jüngeren Einwohner*innen von Antalya zum Biertrinken und Flanieren, aktuell zum Halloweenfeiern.

Ministrand im Stadtzentrum

Ministrand im Stadtzentrum

Kaum hat man von dort das Hadrians-Tor zur eigentlichen Stadt passiert, taucht man in die typische türkische Großstadt ein, es wird Tee und Granatapfelsaft getrunken, Simit und Börek gegessen, eingekauft, geredet, spaziert – alles wie immer, wie es scheint. Nicht ganz, wenn man im Fernsehen die langen Diskussionssendungen zu den Vorteilen der Einführung eines Präsidialsystems verfolgt, die aktuellen Nachrichten zu weiteren Verhaftungen hört und beim Cumhuriyet Konseri zum Tag der Republik mit Candan Erçetin die großen Transparente mit den Namen der beim Putschversuch umgekommenen bzw. gefallenen Menschen liest.

Cumhuriyet Konseri zum Tag der Republik mit Candan Erçetin

Cumhuriyet Konseri zum Tag der Republik mit Candan Erçetin

Auch auf dem Konzert, nach mehrfachen Sicherheitskontrollen und umringt von hunderten Türkeifahnen, meint man – neben einer großen Begeisterung – die Spannungen zu spüren, zwischen den Verteidiger*innen der Atatürkschen Republikidee, den Unterstützer*innen der heutigen Republikidee, verwoben mit der Ablehnung militärischen Eingreifens, in welcher Form auch immer.

Atatürk-Denkmal in Antalya

Atatürk-Denkmal in Antalya

Auf der Buchmesse, die in der Glaspyramide, Cam Piramit, von Antalya stattfindet, drängen sich unzählige einheimische Bücherfans; das Buchangebot und die Autor*innen vor Ort bilden das gesamte, auch politische, Spektrum ab. Im Antalya Culture and Arts, Antalya Kültür Sanat, stellen Absolventen der Sparte Bildende Kunst der Akdeniz-Universität aus, unterstützt vom Pera-Museum in Istanbul – in dem großen Haus ist man alleine mit Reinigungskräften und über Besucher eher verwunderten Servicepersonal.

Antalya Culture and Arts, Antalya Kültür Sanat

Antalya Culture and Arts, Antalya Kültür Sanat

Die Expo Antalya hat man nach ihrem offiziellen letzten Tag am 30.10. auch für sich allein: „Blumen und Kinder: Eine grüne Welt für kommende Generationen“ war das Motto – Deutschland war mit einem merkwürdigen Plastikzelt vertreten, während andere Länder ganze Paläste bauten. Bleiben wird der monumentale Aussichtsturm, ein neues Wahrzeichen der Stadt, mit Blick auf die unmittelbar angrenzenden weiten landwirtschaftlichen Flächen, die endlosen Gewerbe- und Einkaufszentren an den Ausfallstraßen, die großen Wohngebiete für die schnell wachsende Stadt – und natürlich die Märchenschloss-Hotels am Meer.

Turm auf der EXPO Antalya 2016

Turm auf der EXPO Antalya 2016

İzmir

Das Flugzeug nach İzmir ist an einem Sonntagnachmittag im Oktober 2016 nur halb gefüllt; es gibt türkeistämmige Reisende, aber genauso viele deutsche Jugendliche und Touristen auf dem Weg in ein angekündigt unruhiges Land. Das Flugmagazin ist beruhigend durchweg unpolitisch, rein türkischsprachige Anzeigen (Ertürk, Göktürk, Aytürk Salami) wechseln  sich mit deutsch-türkischen ab („Yeni: Mediterraner Genuß für Zuhause“ – Labne  peyniri) für die bi-nationalen Reisenden zwischen Deutschland und der Türkei.

Wimpel und Werbung in İzmir, 2016

Wimpel und Werbung in İzmir, 2016

In İzmir scheint alles wie immer: Entspannte Stadt am Meer, an der Strandpromenade Kordon sitzt abends die jüngere Generation am Meer und trinkt Bier, die eher ältere in den Birahanes und zapft Bier aus dem Biraver, eine Ableitung vom russischen Samovar (semaver). Touristen bummeln, schauen sich orientalisierende Ausstellungen an, im Opernhaus wird „Zaide“ gegeben, Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel-Fragment über eine gescheiterte Flucht aus einem Sultanspalast.

Konzertbühne am Kordon, İzmir 2016

Konzertbühne am Kordon, İzmir 2016

Überall sind die Vorbereitungen auf den Tag der Republik am 29. Oktober spürbar: Wimpel-Ketten werden gehängt, Konzertbühnen für die Republik-Konzerte aufgebaut, Banner gehängt, Straßenlaternen geschmückt. Besonders liebevoll in İzmir, Hochburg der Verehrung des Republikgründers Atatürk.

Atatürks Silhouette im Halbmond, Kordon, İzmir 2016

Atatürks Silhouette im Halbmond, Kordon, İzmir 2016

Andere Portraits und Namen sind seit dem letzten Jahr hinzugekommen: Auch in İzmir wird nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 mit Namen geehrt: Es gibt nun einen Gedenkwald „15 Temmuz Demokrasi ve Şehitler“ (15. Juli Demokratie und Märtyer), mindestens eine Schule trägt den Namen eines beidem Putschversuch Getöteten, Ömer Halisdemir.