Turkish eggs und Sultana Isabel: Reisenotizen aus London

„Turkish eggs“ sollten es nun endlich mal sein bei diesem Besuch in London, in der türkischen Küche Çılbır genannt. „For Çılbır, pronounced ,chulburr’, is a revelation and a complete sensation“, wie die BBC schreibt. Ich werde die Sensation auch diesmal nicht erleben – im schicken Berber & Q. im überhaupt schicker werdenden East London stehen sie leider nicht mehr auf der Karte. Wenn die auch sonst die gewisse „orientalische“ Note hat, mit persischen Oliven, Hummus, Haloumi, Shakshouka und Baba Ghanoush, genossen unter Fez-Barlampen, mit Blick auf „Hasan Atila“ auf einem Schildfragment. Das gehört zum zeitgenössischen „Orient“ in London, zusammen mit der nicht weit entfernten Ramadan-Moschee, geführt vom UK Turkish Islamic Trust UKTIT, mit der Süleymaniye-Moschee, dem geschäftigen türkischen Grillrestaurant Mangal Ocakbaşı, dem Restaurant Istanbul und einem Hamam zum Beispiel. Der „Orient“, ein zunehmend kritisch diskutierter Name für diesen geografisch-kulturellen Raum, ist im London dieser Tage The East: In den beiden Ausstellungen London’s Theatre of the East und Inspired by the East bekommt man eine Idee, wie und wann dieser Osten London und Europa zu prägen begann.

Fez-Leuchte, Berber & Q, Haggerton, London 2020
Hamam in Dalston-Kingsland, London 2020
Hamam in Dalston-Kingsland, London 2020

Im Dr Johnson’s House, einem inmitten der Hochhäuser um die Fleet Street übrig gebliebenen, Jahrhunderte alten englischen Wohnhaus, finden sich in der Ausstellung London’s Theatre of the East allerlei Stücke mit Bezug in den islamischen Kulturraum: Ein alter Stich mit einem Bettler mit Turban vor der Londoner Royal Exchange, erstmals gedruckt 1790. Das Bild eines anderen Mannes mit Turban, Abd el-Ouahed ben Messaoud ben Mohammed Anoun, erster Botschafter des Sultanats Marokko in London. Gewürze aus 1001 Nacht und Seidenkleider, die mit ihnen gefärbt wurden. Die Ausstellung zeigt historische und zeitgenössische Annäherungen von Ost und West, ausgehend von Irene, dem einzigen Theaterstück von Samuel Johnson. Dr Johnson schrieb nicht nur das für lange Zeit Maßstäbe setzende Wörterbuch der englischen Sprache, sondern mit Irene auch eines der so genannten Turkish plays. In diesem gereimten Trauerspiel, uraufgeführt 1749, erobert Mehmet II. – Mahomet Emperor of the Turks – Konstantinopel und nimmt die Greek Lady Irene zu seiner Sklavin. Außerdem treten u. a. auf der First Visier Cali Bassa, Mustapha, a Turkish Aga, ein paar Greek Noblemen und ein Eunuch. Das „orientalische“ Setting war perfekt – es rettete das Stück aber nicht davor, dass es heute als das erfolgloseste jemals von einem major author geschriebene Stück bezeichnet wird. Im Rahmenprogramm der Ausstellung wurde es das erste Mal seit 270 Jahren wiederaufgeführt.

Irene, London 2020

England vertiefte Ende des 16. Jahrhunderts seine Beziehungen in die islamische Welt, ins Osmanische Reich und nach Marokko. Abd el-Ouahed ben Messaoud ben Mohammed Anoun kam 1600 als marokkanischer Botschafter nach London, um mit Queen Elisabeth I. über Handelsbeziehungen zu verhandeln. Er soll Vorbild für Shakespeares Othello gewesen sein – die zunehmende Sichtbarkeit des Ostens in London spiegelte sich auch im Theater dieser Zeit wieder: „Moorish characters“ wurden en vogue, es entstand ein ganz neues Genre, eben die Turkish plays des 17. und 18. Jahrhunderts, die das englische Theater entscheidend prägten. Eines der frühesten Beispiele ist The Tragedy of Selimus, Sometime Emperor of the Turks. Das Stück, wohl von Robert Greene und Thomas Lodge veröffentlicht 1594, nimmt Anleihen am Leben des osmanischen Sultans Selim I. und spielt erstmals komplett im Osmanischen Reich. Das Arab British Centre ist Ko-Veranstalter der Ausstellung; für arabisch-britische Künstlerinnen ist Johnsons Stück Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen dem Britischen Empire und dem muslimisch-arabischen Raum. Sultana Isabel war dort der Name für Königin Elizabeth I., Sultana Isabel heißt auch der Beitrag der britisch-libanesischen Designerin Nour Hage: eine Ankleidepuppe mit dem typischen elisabethanischen Kragen, allerdings gefärbt mit Indigo und Kurkuma, eingeführt auf den neuen Handelsrouten. Hannah Khalil, eine palästinensisch-irische Dramatikerin, untersucht in ihrem Stück Margaret White and the Alcoran of Mahomet die Umstände der ersten englischsprachigen Veröffentlichung des Koran 1649. Und die marokkanisch-britische Künstlerin Saeida Rouass sampelt in ihrer Arbeit Irene Retold den Text von Irene. Was wird wohl in 200, 300 Jahren zur türkischen Prägung des Berliner Gorki Theaters geschrieben und ausgestellt werden?

Sultan Bayezit II., London 2020

Am British Museum grüßt ein weiterer Mann mit Turban, der ganz typisch dargestellte Sultan Bayezit II. Seine Majestät der Sultan wirbt für die Ausstellung Inspired by the East, organisiert zusammen mit dem Islamic Arts Museum in Malaysia. Dass dieser Sultan wirklich typisch ist, kann bezweifelt werden – das Gemälde entstand in der Schule des Italieners Veronese im 16. Jahrhundert. Heute ist es im Besitz des Islamic Arts Museum Malaysia – das islamische Land Malaysia sammelt Kunstwerke von Europäern, wie sie sich die islamische Welt vorstellten: „So now we have Eastern eyes romanticising the views of Western Romantic painters of the East“ wie londonist.com schreibt. Eine weitere Ausstellung also zu den Verquickungen von Ost und West, zum „Orientalismus“ als Kunststil, der Themen aus dem weiten Gebiet Osmanisches Reich, Naher Osten, Nordafrika und weiter südlich für europäische Augen darstellte, imaginierte und re-imaginierte, adaptierte, interpretierte und das oft falsch. Eine Karte in der Ausstellung nennt London, Mekka und Kuala Lumpur als Bezugspunkte, eine Linie von Europa über den Nahen Osten nach Malaysia, wo für Briten historisch immer noch der „Orient“ ist.

In der Ausstellung „Inspired by the East“, London 2020

Das British Museum ist ein Magnet für Touristen und Londoner, schon kurz nachdem sich die Türen an diesem Sonntag öffnen, bilden sich lange Schlangen an den Sicherheitsschleusen. In der Ausstellung hat sich ein interessiertes Publikum versammelt, Bildungsbürgertum, das schon seinen Kindern die Haddsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, erklärt. Mit Blick auf Gemälde, die spanische, österreichische, deutsche, italienische Künstler so malten und adaptierten, wie sie sich diesen Kulturraum vorstellten bzw. vorstellen wollten. In Antoni Maria Fabrés i Costas Gemälde Der Wächter von 1887 ist z. B. ein Mann vor Elementen der maurischen Alhambra in Spanien zu sehen, ausgestattet aber mit einem türkischen Gürtel und Schwert – Hauptsache „orientalisch“. Im Kapitel Reorientation erfährt man, wie, nach Jahrhunderten des auswärtigen Blicks, östliche Künstler im 19. und 20. Jahrhundert begannen, mit westlichen Techniken selbst orientalisierende Kunst zu produzieren: Der berühmte Schildkrötenerzieher von Osman Hamdi Bey hätte gut hierher gepasst: Osman Hamdi Bey aus Konstantinopel erlernte die Malkunst in Paris und Wien, sein 1906 entstandenes Ölgemälde zeigt – neben den Schildkröten – einen Mann in „oriental attire“ wie das Istanbuler Pera-Museum schreibt, umgeben und bekleidet mit verschiedenen Versatzstücken osmanisch-türkischer Kultur.

Schüssel, Persien 19. Jahrhundert

Neben Gemälden sind architektonische und handwerkliche Objekte mit einer Ost-West-Geschichte zu sehen: Eine französische Fliese mit einem Stilmix orientalisierender Muster, in Europa hergestellte Lampen, die ägyptische Glaslampen aus dem 13. Jahrhundert oder Keramiklampen aus dem türkischen Iznik des 15. Jahrhunderts imitieren. Unter der Headline “East looking West looking East” wird eine Schüssel gezeigt, hergestellt im 19. Jahrhundert in Persien, inspiriert von österreichischer, deutscher und französischer Keramik, hergestellt im 18. Jahrhundert für den Export in den Nahen Osten. Die wiederum auf Originalen aus dem Nahen Osten basierten. Woher kam die Inspiration konkret? Z. B. indem Muster und Formen aus dem islamischen Kulturraum ihren Weg in europäische und amerikanische Musterbücher nahmen, von wo aus sie für Kunst und Handwerk adaptiert und kopiert wurden.

Musterbuch „Turkish“, London 2020

„Melling saw the city like an Istanbullu but painted it like a clear-eyed Westerner“
Orhan Pamuk

Im letzten Ausstellungskapitel stellen zeitgenössische Künstlerinnen mit Wurzeln in diesem imaginierten Kulturraum die Tradition des „Orientalismus“ in Frage. İnci Eviner aus der Türkei nimmt sich dafür zum Beispiel Mellings Zeichnung Harem an, mit vollem Namen Intérieur d’une partie du Harem du Grand-Seigneur vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Bei akg images ist die Zeichnung unter Völkerkunde/Türkei gelistet. Anton Ignaz Melling, 1763 geboren in Karlsruhe, wird als Antoine Ignace Melling zu einem der „Künstler der Levante“, lebte 18 Jahre in Konstantinopel und war „imperial architect“ von Sultan Selim III. und Hatice Sultan. Für die hatte er einen Palast entworfen, inklusive Harem, den er aber natürlich nach seiner Eröffnung nicht mehr betreten durfte. Zumindest also wie die Bewohnerinnen in der Haremsarchitektur lebten und miteinander umgingen, war seine Spekulation. „Sieht aus wie ein Gefängnis“, hört man vor dem Bild, und das ist er ja irgendwie auch, ein Harem. Und dieser hier verzichtet dann auch alle orientalisierende Schwelgerei, hat eine fast gotische Strenge. In der beherrschte Haremsdamen sich still vergnügen, lustwandeln, spielen. İnci Eviner ersetzt sie in ihrer Videoarbeit von 2009 durch „active women who are protesting, praying and trying to escape“.

İnci Eviner: Harem, London 2020

Der wie immer strategisch günstig am Ausstellungsausgang gelegene Shop lockt mit Artikeln aus 1001 Nacht – ich kann einer hübsch gemusterten Schale mit dem Label Images d’Orient nicht widerstehen. Die kostenlos zugänglichen ständigen Ausstellungen des Museums sind inzwischen voller Menschen. Es werden dort viele kulturelle Artefakte aus dem Kulturraum des Ostens ausgestellt: Gestohlen von kolonialen Mächten, geplündert, erworben, je nachdem, wen man fragt. Die Türkei fordert heute weltweit regelmäßig Werke zurück, die sie für unrechtmäßig außer Landes gebracht hält. Auch Ausstellungsstücke aus dem Britisch Museum gehören dazu, wurden schon restituiert oder werden zurückgefordert. Kunst und Kultur wird hier deutlich als politisches Thema sichtbar, zeigt die Verwicklung von Ost und West, die Verbindungslinien zwischen Ost und West. So hätte ich mir z. B. hier auch die Abteilung Anatolia and Urartu ansehen können. Das ist die frühere Ancient Turkey Hall, die auf Initiative armenischer Gruppen umbenannt wurde. Eine „altertümliche Türkei“ gibt es nicht, war eine Zuschreibung britischer Museumsmacher. Urartu existierte, war ein altorientalisches Reich um den heute türkischen Vansee, historisch besiedelt von Armeniern. Im Februar 2020 fand in der Anglo-Turkish Society das Symposium „Archaeology in Anatolia“ statt – wurde dort wohl auch über die politischen Verwerfungen gesprochen, die sich auf den Ausgrabungsfeldern in der Türkei auftun? Leider verpasse ich auch dieses Symposium, nicht nur die Turkish Eggs. Zum Abschied von London muss es das inoffizielle Nationalgericht der Briten sein, Fish and Chips – den Mezze-Grill Kasan direkt gegenüber, der sich Ottoman Cuisine attestiert, besuche ich dann nächstes Mal.

Zum Weiterlesen:
Jerry Brotton: This Orient Isle. Elizabethan England and the Islamic World (Penguin, 2017)

Turkish Play: Politisches Wortspiel in Sandwich-Werbung, London 2020