„Die Höfe von Tauben erfüllt.“ (Teil I/II)
Teil I | Teil II
„Die Turteltaube steht für Glück, Liebe und Frieden“, sagt der Naturschutzbund Deutschland, der 2020 zum Jahr der Turteltaube erklärt hat. Das ist Laytmotif türkisch-deutsche Überlegungen zur Taube wert – und nicht, weil Deutschland und die Türkei sich gerade glücklich, liebe- und friedvoll wie die Turteltauben umturtelten. Das tun sie nicht. Grund genug war, dass die Turteltaube eng verwandt ist mit der – ja, sie heißt auf Deutsch wirklich so – Türkentaube. Und dass ihrer beider entferntere Verwandte, die Istanbul, Berlin und alle anderen Großstädte dieser Welt bevölkernde Stadttaube, aus dem „Orient“ zu uns gekommen ist, wie die Rassetaubenzüchter sagen. Eine Orientturteltaube gibt es übrigens auch.
Wenn man beginnt, sich gedanklich einem neuen Thema zu nähern, neugierig zu werden, sind dessen Protagonisten, seine Gegenstände plötzlich allgegenwärtig, kommen ins Bild, drängen sich auf. Die Taube, güvercin auf Türkisch, ist kein Beweis für diese These – denn sie ist auch so allgegenwärtig, fliegt ins Bild und drängt sich auf: Auf dem Berliner Alexanderplatz, in den Innenhöfen der großen Moscheen in Istanbul, als weiße Tauben an der Blauen Moschee, im Mauerwerk des S-Bahnhofs Schönhauser Allee, auf Berliner und Istanbuler Balkonen. Auf vielen Fotografien des großen Istanbuler Fotografen Ara Güler flattern Tauben, es gibt eine türkische Fernsehserie Güvercin, auf der vorletzten Berlinale hatte der Film Güvercin Premiere. Sezen Aksu, die „Stimme Istanbuls“, erinnert mit ihrem Song Güvercin an den erschossenen armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink. Güvercinlik, Taubenschlag, erfuhr man in der Londoner Ausstellung My Journey from Güvercinlik, hieß der Trafalger Square bei den türkisch-zypriotischen Einwanderern, die sich dort in den 1950er Jahren mangels anderer geselliger Orte trafen.
Ich hör Istanbul mit geschlossenen Augen;
Der kühle kühle Bazar,
Mahmutpascha zwitschernd und zirpend,
Die Höfe von Tauben erfüllt.
Orhan Veli: Ich hör Istanbul
Eine Taube soll es gewesen sein, die dem griechischen Helden Jason und seinen Argonauten einen sicheren Weg in den damals noch nicht türkischen Bosporus wies – der Vogel ist nicht nur leibhaftig allgegenwärtig, sondern seit langem auch in der kulturellen Ikonografie und Symbolik. Neben ihrer Rolle im Jahrtausende alten griechischen Mythos der Argonautensage war die Taube in den Riten Mesopotamiens und der antiken Levante präsent, sie war mit antiken Göttinnen der Liebe, Sexualität und des Krieges assoziiert. Wegweiserin ist sie nicht nur in der Argonautensage, auch in den islamischen Schriften wird ihr diese Rolle zuerkannt. Verehrt wird die Taube im Islam aber vor allem, weil sie dem Propheten Mohammed das Leben gerettet hat, wie eine zentrale islamische Geschichte will: Während der Hidschra, dem Auszug von Mekka nach Medina, versteckte sich Mohammed in einer Höhle vor seinen Verfolgern. Kaum in der Höhle, spann eine Spinne ihr Netz vor dem Eingang, und ein Taubenpärchen baute ein Nest, legte Eier und begann zu brüten – den Verfolgern so die Unberührtheit der Höhle vortäuschend.
Etwas komplexer und zentraler ist die Rolle der Taube im Christentum. 24 mal wird sie in der Bibel erwähnt: Noah ließ nach der Sintflut eine Taube von seiner Arche fliegen, „um zu sehen, ob das Wasser auf dem Erdboden abgenommen habe.“ Beim zweiten Mal kommt sie mit einem Olivenzweig zurück, Zeichen für Land.
Jemand ist gleichzeitig sein Vater, sein Sohn und eine Taube … Bitte was?
Marc-Uwe Kling, Qualityland
Nach der Geburt von Jesus, wird in der Bibel gesagt, „öffnete sich der Himmel und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen.“ Seitdem steht die Taube – oder besser schwebt sie zwischen Himmel und Erde – im Christentum für den Heiligen Geist. Ganz offiziell seit 1745, als Papst Benedikt XIV. verfügte, auf kirchlichen Bildern sei der Heilige Geist als Taube abzubilden. An anderen Bibelstellen wird sie geopfert.
Wenn nun schon von Tauben im Christentum die Rede ist: Die Kreuzritter brachten im 12. und 13. Jahrhundert von ihren Beutezügen in den „Orient“, unter anderem, Brieftauben mit nach Europa. Ringeltaube, Orientturteltaube, Brillentäubchen, Zahntaube und wie die mehr als 300 anderen wilden Taubenarten auch heißen mögen – in der Regel dürften die unzähligen Nachfahren der Haus- und Brieftauben unser Bild von der Taube bestimmen. Schon 5000 v. C. begannen Menschen diese Tauben zu halten – lange genug Zeit also, sie in die religiöse und kulturelle Praxis aufzunehmen.
Mein Täubchen im Felsengeklüft, im Versteck der Felswand, laß mich schauen dein Antlitz, deine Stimme mich hören! denn süß ist deine Stimme, dein Antlitz so lieblich!
Hoheslied
Die domestizierten Formen der Felsentaube waren genügsame, sich selbst versorgende Haustiere, gehalten zum Beispiel als Opfertiere, und als Masttauben, deren Fleisch lange als Nahrungsmittel geschätzt war und heute noch als Delikatesse gilt. Die Schwester der Masttaube, die Brieftaube, ist seit dem Altertum im Einsatz (mit Noah als Begründer der Taubenpost). Im arabischen Raum wurden ihre Flugstärke, ihr Heimattrieb und Orientierungssinn seit dem 9. Jahrhundert für die Nachrichtenübermittlung ausgenutzt. Die arabische Taubenpost war von einiger militärischer Bedeutung im Krieg gegen die europäischen Kreuzritter. Die erst später in die Geschichte eintretenden Osmanen nutzten den Ausdruck „einen Brief zu fliegen machen“, Verweis auf die Brieftaube, nannten sie „Propheten unter den Vögeln“, „Vögel glücklicher Vorbedeutung“ und „Engel der Könige“ – wenn man einer der „Mittheilungen des Ornithologischen Vereines in Wien“ aus den 1860ern Glauben schenken möchte. (Übrigens beendete die britische Armee erst 1948 ihr Brieftaubenprogramm.)
Ab den 1960er Jahren hielt eine türkische Zuchttaubenart, Kelebek (Schmetterling), Einzug im Ruhrgebiet. Sie begleitete die türkischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei auch ins Ruhrgebiet kamen und über die Jahre langsam sesshaft wurden. Die Brief- und Rassetaubenzucht war schon seit dem 19. Jahrhundert wichtige Freizeitbeschäftigung der Bergleute im Ruhrpott; der Zustrom erst ost-, später dann südeuropäischer und türkischer Arbeitskräfte sorgte für eine Vielfalt der Taubenrassen und für den Austausch in Taubenzüchtervereinen, die „riesige Integrationsmaschinen“ waren.
„Das Brieftaubenwesen ist hier sehr multikulturell.“
Die Brieftaube und der Pott
Der deutsche Staat hat heute genau geregelt, was ein Taubenzüchterverein ist: Er besteht aus mindestens sieben Personen, die Tauben züchten. Und was für welche: Damascener zum Beispiel, die wohl älteste Taubenrasse überhaupt, für die der Verband Deutscher Rassetaubenzüchter unter „Herkunft“ auf seiner Website bis heute ganz pauschal den „Orient“ nennt. Auch aus diesem „Orient“ stammend: der Orientalische Roller, in den 1870er-Jahren in Deutschland eingeführt und weitergezüchtet. Aus dem etwas präziser bezeichneten Kleinasien kommt das Orientalische Mövchen, das allerdings erst in England veredelt wurde und seit 1849 in Deutschland gezüchtet wird. Das Altorientalische Mövchen, ebenfalls in Kleinasien erzüchtet (was für ein Wort!) brauchte etwas länger, gelangte erst um die Jahrtausendwende über den Balkan nach Deutschland. Es gibt Anatolische Mövchen, seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland, Ursprungsrasse aller europäischen Schildmövchenrassen. Es wird die Seldschukentaube gezüchtet, eine alte Taubenrasse aus Konya, und der Anatolische Ringschläger, eine sehr alte Rasse aus Ostanatolien. Es gibt die Deutsche Schautaube, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Reisebrieftaube gezüchtet (wie vielleicht die Niederländische Schönheitsbrieftaube auch?). Es gibt die Berliner Kurze und die Berliner Lange, das Deutsche Nönnchen und den Deutschen Schautippler – und neben diesen schillernden, zum Artikel passenden Taubenrassen noch eine ganze Menge mehr.
Der Verband Deutscher Brieftaubenzüchter e.V. (mit der schönen Internetadresse brieftaube.de und Sitz in Essen, im Herzen des Ruhrpotts) wacht über die Einhaltung der Brieftaubenregeln, der Verband Deutscher Rassetaubenzüchter e.V. über die Zuchtregeln für sogenannte Schönheitstauben, Hoch- oder Kunstflugtauben, für Purzler und Roller. Klingt alles sehr deutsch, gibt es aber auch auf türkisch: In der Türkei kümmert sich die Türkiye Güvercin Sevenler Federasyonu, die Föderation der Taubenliebhaber, um ihre gefiederten Freunde, oder auch der Ankara Kanatlı Hayvanlar ve Güvercin Sevenler Derneği, der Ankara Geflügel- und Taubenliebhaberverband.
Ein Paria ist jemand, der von der Gesellschaft ausgestoßen ist, sagt der Duden, unterprivilegiert. Als Pariaform werden in der Zoologie rückverwilderte Haustierarten bezeichnet – und die Stadttaube nun ist so ein Paria, ausgestoßen aus der bis hierher beschriebenen Welt der sich nützlich oder schön machenden Tauben: Die Stadttauben von Berlin und Ankara, Venedig und London sind samt und sonders verwilderte Nachfahren von entflogenen oder ausgesetzten Haus-, Brief- und Zuchttauben. Weil ihre Vorfahren über die Jahrtausende mit dem Ziel einer hohen Vermehrungsrate züchterisch optimiert wurden, brütet die Stadttaube heute bis zu acht Mal im Jahr, bei brütender Hitze und klirrender Kälte. Sie beginnt mit der nächsten Brut, während die vorherige noch heranwächst, ist schon mit 6 Monaten für ihre erste Brut bereit. Sie kann nicht anders. In extra eingerichteten, „betreuten“ Taubenschlägen wollen heute Städte die Taubenpopulationen mit verschiedenen Maßnahmen kontrollieren. Erst in diesem Frühjahr meldete der Hamburger Tierschutzverein das Aus für den Taubenschlag auf der Centrum-Moschee im Hamburger Viertel St. Georg, der Bauarbeiten weichen muss. Auf der Moschee auch wegen der besonderen Rolle der Taube im Islam geduldet, wird es wegen der in der Bevölkerung weitverbreiteten Antipathie gegen die Stadttaube schwer werden, einen Ersatzstandort zu finden – um wie vieles lieblicher, zuwendungsgeeigneter und weniger aufdringlich kommen dagegen ihre Artgenossinnen daher, die Turteltauben, von denen im zweiten Teil dieses Artikels die Rede sein wird.
Teil 1 | Teil 2
Zum Weiterlesen:
Dennis Betzholz: Allahs Vögel (welt.de, 27.3.2016)
Max Kasparek: Dismigration und Brutarealexpansion der Türkentaube (Streptopelia decaocto) [Dismigration and Expansion of the breeding range of the Collared Dove (Streptopelia decaocto)] (Januar 1995)
Rolf Kaufmann: Taube (symbolonline.de, Stand 20.11.2011)
Gabriela M. Keller: Die Tauben von Tripoli (welt.de, 24.4.2011)
Katrin Lankers: Tauben (planet wissen, 25.8.2020)
Tauben (Wikipedia, Stand 8.9.2020)
Türkentaube (Wikipedia, Stand 13.7.2020)
Turteltaube (Wikipedia, Stand 25.5.2020)
Die Turteltaube: Unsere kleinste heimische Taube stürzt ab (nabu.de, Stand 19.9.2020)