Turtelnde Türkentauben (Teil II/II)
Teil I | Teil II
Um wie vieles lieblicher, zuwendungsgeeigneter und weniger aufdringlich als die Stadttaube kommt die Turteltaube daher. Das gilt wahrscheinlich für jede der mehr als ein Dutzend Turteltauben-Arten – interessieren sollen uns aber die zwei, die in Europa vorkommen und die ihre Spuren in Deutschland und der Türkei hinterlassen haben: die gleich der ganzen Gattung ihren Namen gebende Turteltaube selbst und ihre enge Verwandte – die Türkentaube.
„Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste
Dahergerauscht ein Taubenpaar,
Läßt sich herab und wandelt nickend
Über goldnen Sand am Bach
Und ruckt einander an;
Ihr rötlich Auge buhlt umher“
Johann Wolfgang von Goethe: Adler und Taube
Auch wenn das Wort „Türkentaube“ buchstäblich nach sofortiger Auseinandersetzung ruft, soll dem Nabu-Vogel des Jahres 2020 Vortritt gewährt werden, der Turteltaube, auf Türkisch üveyik. Die Turteltaube war über Jahrhunderte in Deutschland Synonym für die Liebe: „Wie die Turteltäubchen“ wurde das Verhalten frisch oder anhaltend verliebter Menschen genannt, Bezug nehmend auf das zärtliche und treue Miteinander von Turteltaubenpärchen. „Turrr turrr“ gurrt die „gefiederte Liebesbotin“ (Nabu), das daraus entstandene Verb „turteln“ hat es in das Referenzwerk für die deutsche Sprache, den Duden, geschafft: „sich auffallend zärtlich-verliebt jemandem gegenüber verhalten“. Das türkische Verb üveymek, gurren, abgeleitet von üveyik, hat wohl keine solch starken Konnotationen, scheint einigermaßen selten gebraucht – mein türkischer Freund kennt es noch nicht einmal. Der Duden schreibt auch, turteln sei ein veralteter Begriff: Kein Wunder, seit 2015 steht die Turteltaube auf der internationalen Roten Liste vom Aussterben bedrohter Vogelarten. In Berlin gibt es die Turteltaube praktisch schon seit 1945 nicht mehr. Seit den 1980ern haben die Bestände der Turteltaube in Deutschland um 90% abgenommen, ähnlich in vielen anderen Ländern des nördlicheren Europas. Die meisten Paare nisten heute noch in Spanien, Frankreich und, schon an dritter Stelle, in der Türkei.
„Yok oluyor, UYAN! Üveyik Avına Dur De!“ – „Sie verschwindet, wach auf! Sag Stopp zur Turteltauben-Jagd!“ fordert eine Petition an das Innenministerium der Türkischen Republik Zypern. Schuld am Rückgang der Turteltaubenpopulationen ist neben verschwindenden Lebensräumen der massenhafte Abschuss auf ihren Reisen als Zugvögel. Als einzige „Langstreckenzieherin“ der mitteleuropäischen Taubenarten macht sie sich zweimal im Jahr auf einen weiten Weg, von ihren Brutplätzen im Norden zu ihren Überwinterungsgebieten im Süden und wieder zurück. Fatal für viele der Turteltauben: Auf ihren Routen über das Mittelmeer, in Spanien zum Beispiel, Italien und vor allem Malta, werden sie millionenfach von Hobbyjägern geschossen, legal, halblegal oder illegal – obwohl es seit 2018 einen EU-Aktionsplan zum Schutz der Europäischen Turteltaube gibt. Europaweit wollen Aktionen wie die der türkisch-zypriotischen Liebhaber der Turteltaube oder aktuell des Nabu, unterstützt vom Bundesumweltministerium, auf die Gefährdung des friedlichen und lieblichen Symbolvogels aufmerksam machen. In der Türkei wurde die Jagdsaison, auch auf die Turteltaube, in diesem Jahr am 22. August eröffnet.
Im Postkartenständer der kleinen Kirche des Storchendorfs Linum bei Berlin steckt eine Karte mit der Abbildung einer schlanken, beige-grau gefiederten Taube mit einem schwarz-weißen Halsband. „Türkentaube“ steht darunter – meine erste bewusste Begegnung mit dem Namen dieses Vogels. Gesehen hatte ich ihn schon vorher, und seitdem immer wieder: In Hinterhöfen Istanbuls, in Berlin-Kreuzberg, vielleicht auch auf Hotelbalkonen Gran Canarias (wenn es da keine Lachtaube war). Die Türkentaube – Turteltaubenart wie zum Beispiel auch die Orientturteltaube, oder die Halbmondtaube – mag in europäischen Stadtzentren nicht ganz so präsent erscheinen wie die Haustaube. Sie hat aber eine ähnliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen, vor allem in den letzten knapp hundert Jahren.
Wenn die Türkentaube auch auf englisch einigermaßen prosaisch nur Eurasische Halsbandtaube heißt, Eurasian collared dove, klingt ihr Ursprung in einigen europäischen Sprachen an: La tórtola turca ist sie im Spanischen, oder paloma turca de collar, auf französisch Tourterelle turque und italienisch tortora orientale. Ursprünglich besiedelte die Türkentaube ein Gebiet, das vom europäischen Teil der heutigen Türkei bis nach Japan reichte. Türkentaube hat allerdings nicht nur geografische, sondern auch kulturelle Konnotationen: Der deutsche Name wurde dem Vogel erst auf dem 8. Internationalen Ornithologenkongress 1934 – unter dem Präsidium des deutschen Ornithologen Erwin Stresemann – in Oxford offiziell verliehen, „wodurch die enge Verbundenheit dieser Art mit dem türkischen Volkstum zum Ausdruck kommen würde“ (Kasparek, Türkentaube). Ein Name, der sich dann von dort aus auch in anderen europäischen Sprachen durchgesetzt haben dürfte. Dem vorangegangen waren ein paar Jahrzehnte Erforschung der jüngeren Geschichte des Vogels: Eine Theorie ist, das er mit den osmanischen Eroberungszügen ins südliche Europa, auf den Balkan und nach Griechenland gelangte. Seine Ausbreitung vor allem in den Gebieten des damaligen Osmanischen Reichs, der besondere Schutz, der ihm in diesen Gebieten von den Behörden gewährt wurde, die lange Tradition der Käfighaltung des Vogels im Orient ließen Wissenschaftler schlussfolgern, dass der Vogel nicht nur geografisch eng mit der Türkei verbunden sein musste, sondern auch kulturell mit den „Türken“, ihren Vorläufern, den „Osmanen“, oder gleich noch weiter gefasst, den „Muslimen“ an sich. Der Naturschutzbund Deutschland zum Beispiel schreibt auf seiner Website, „wie heute noch in manchen Gebieten des Orients, stand die Art bei den Moslems in hohem Ansehen“. Belegen lässt sich diese Verbindung mit nur einer Bevölkerungsgruppe offenbar nicht: Die Taube generell wurde traditionell auch im (vor)muslimischen und (vor)christlichen Orient verehrt, die Türkentaube speziell wurde im Osmanischen Reich und davor sowohl von Moslems als auch von Christen im Käfig gehalten. Schon vor den Osmanen kannten die Griechen diese Taubenart, die sie Decaocto nannten. Der älteste überlieferte Name der Türkentaube ist „die Griechin“, in osmanisch-arabischen Gebieten wurde sie mit den Griechen in Verbindung gebracht. Der Naturschutzbund schreibt auch, „während des Zusammenbruchs des [Osmanischen] Reiches bis zum Ersten Weltkrieg richtete sich der Zorn [der Christen] gegen die einstmalige Kolonialmacht nun auf die unschuldige Taube. In vielen Gebieten wurde sie vollständig ausgerottet, nur in Orten mit islamischer Bevölkerung wie Sarajevo und Mostar konnte sie überleben.“ Auch das dürfte, wenn überhaupt, dann nur punktuell stimmen, kann offensichtlich nicht mit Fakten belegt werden, wie die für Detailinteressierte überhaupt sehr lesenswerte, umfassende Dissertation „Dismigration und Brutarealexpansion der Türkentaube (Streptopelia decaocto)“ notiert.
„Explosionsartig“ nennt meine Postkarte die weitere europäische Ausbreitung der Türkentaube seit den 1930er Jahren, „spektakulär“ ein interkulturelles Webmagazin, eine der „spannendsten Entwicklungen einer Vogelart in Europa in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts“ eine
Mitteilung der Berliner Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft, „stürmisch“ und „nahezu einmalig“ die genannte Dissertation – innerhalb eines historisch kurzen Zeitraums von nicht einmal 100 Jahren breitete sich die Türkentaube von ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet nach ganz Nordeuropa und von dort über den Atlantik sogar nach Amerika aus. Entsprechend vielfältig ist die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit dem Phänomen Türkentaube. Wichtigste identifizierte Voraussetzung: Wie die Haustaube ist die Türkentaube in einer langen Brutsaison mit in Extremfällen bis zu 8 Bruten pro Jahr sehr „produktiv“; die Jungen können zudem im Jahr ihres Schlüpfens schon geschlechtsreif sein. Die deutlich verstärkte Ausbreitung des Vogels nun könnte Folge einer Mutation gewesen sein, ein verändertes Klima mehr Bruten ermöglicht und für neue Nahrungsquellen gesorgt haben. Die Aufzucht in Käfigen und ihre anschließende Freilassung, ein erweiterter Maisanbau nach dem II. Weltkrieg und fehlende Feinde in den neuen urbanen Siedlungsgebieten werden als Gründe genannt. Als Standvogel zieht die Türkentaube zudem nicht wie die Turteltaube zweimal im Jahr tausende Kilometer hin und zurück, ist kein Ziel für die Hobbyjäger Europas. Dass die Türkentaube zum Beispiel in Deutschland grundsätzlich bejagt werden kann, hat ihr nicht geschadet – die Bejagung ist allerdings in vielen Bundesländern, zum Beispiel in Berlin, ohnehin ausgesetzt.
„Denn die Person, die Sie sahen, ist die famose Kumru – die schmachtende Turteltaube genannt – […], die alle Ehemänner mit Schrecken erfüllt, […] weil sie alle Weiber in den Harems verführte.“
Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Der Vorläufer
Fürst von Pückler-Muskau, der aristokratische Weltreisende, hat 1836 auf der damals noch osmanischen Insel Kreta eine Begegnung mit einer Frau namens Kumru. Kumru war damals und ist heute der offizielle türkische Name der Türkentaube, die natürlich im Osmanischen Reich und heute in der Türkei nicht Türkentaube genannt wird, Türk güvercin – soweit geht die angebliche türkische Vereinnahmung des Vogels nicht. Kumru, mit arabisch-persischen Wurzeln, ist heute noch ein beliebter türkischer Mädchenname – und sicher nicht, weil mit Kumru die Eigenschaften assoziiert werden, die Pückler-Muskaus Orientfantasien seiner Kumru andichteten. Schließlich ist Kumru ist kein Kuckuck, kein beutemachender Adler, keine treulose Blaumeise, sondern eine Turteltaubenart. Als solche nimmt Kumru in der Türkei die Rolle ein, die die Turteltaube in Deutschland hat bzw. hatte, ein leise gurrender Vogel, der seinem Partner verliebt den Hals krault. „Sevgilisine düşkünlüğüyle bilinen bir kuş“ liest man auf einer türkischen Website, ein Vogel, der für seine große Anhänglichkeit an seine Geliebte, seinen Geliebten bekannt ist. In vielen Gedichten spielt Kumru eine Rolle, z. B. im Kumrulu Şiir (Gedicht mit der Taube) des türkischen Dichters Orhan Veli Kanık. Çifte kumrular – wortwörtlich übersetzt eher unromantisch „doppelte Türkentauben“ – ist die türkische Entsprechung zum deutschen „wie die Turteltäubchen“, für zwei Menschen, die nie getrennt sind, deren große Zuneigung zueinander offensichtlich ist. Die Tochter von Fazil Say, dem großen türkischen Pianisten und Komponisten, heißt Kumru – wie eine seiner Klavierballaden. Vielleicht sollte man Kumru Ballad hören, um ein wenig von dem Assoziationsraum Kumru/Turteltaube ahnen zu können.
Im Berlin Kumru İzmirli Mustafa Usta in Berlin-Neukölln hängt eine Fahne des Izmirer Fußballvereins Karşıyaka SK an der Wand, neben Schwarzweiß-Fotografien von Tarık Akan und anderen türkischen Schauspielerinnen und Schauspielern. Und es wird ein besonderes Sandwich angeboten, ein Brötchen aus Kichererbsenmehl, mit verschiedenen Wurstsorten, Tomate und Käse überbacken. Wenn man „Kumru“ im deutschsprachigen Internet googelt, findet man erstmal nicht die Turteltaubenart, sondern diese lokale Izmirer Sandwichspezialität gleichen Namens. Das Brötchen soll einer Taube ähneln, daher der Name des Sandwichs – das sieht man weder, noch schmeckt man es. Auch wenn es schmeckt. „Der neue Döner?“ fragt der Business Insider, „Berliner Trendfood Kumru“ bzw. „Döneralternative Kumru“ jetzt auch in Hessen – dass der „Siegeszug“ des Kumru-Sandwichs in Deutschland dem seiner gefiederten Namensvettern oder dem des Döners gleichen könnte, darf noch bezweifelt werden.
Du sollst fliegen, Friedenstaube, allen sag es hier, dass nie wieder Krieg wir wollen, Frieden wollen wir.
„Kleine weiße Friedenstaube“ (DDR-Kinderlied)
Ein knuspriges Sandwich ….. – hat sich Laytmotif verirrt, verflogen beim Taubenthema? Wie schlägt man nun einen eleganten Bogen von der Döneralternative Kumru wieder hin zum Auslöser dieses Artikels, zur symbolisch aufgeladenen (Turtel-)Taube, die für „Glück, Liebe und Frieden“ steht? Kühn und flink wird die Flugübung sein, wie die der türkischen Kelebek (Schmetterlinge), einer seit den 1970er Jahren auch in Deutschland gezüchteten Sturzflugtaubenart: schnellen Fluges von da nach dort, in Schrauben um die eigene Achse drehend, senkrecht nach oben fliegend, im Sturzflug nach unten, Purzelbäume schlagend – um endlich zurück zum Schlag zu kommen. Also aufgelassen: Sandwich-Invasion wird der Siegeszug des Kumru-Brötchens gelegentlich genannt; Medienthema sind auch immer wieder Taubeninvasionen, egal ob Stadt- oder Türkentaube. Eine Invasion ist ein „feindliches Einrücken von militärischen Einheiten in fremdes Gebiet“ sagt der Duden – kriegerische Begrifflichkeiten eng verbunden mit der Taube, der Friedensbotin? Eine weiße Taube mit einem Zweig im Schnabel ist, neben zwei Einhörnern, Wappentier von Törökszentmiklós, auf Deutsch Türkischsanktniklas: Dieser ungarische Ortsname kombiniert türkisch mit einem christlichen Heiligen, Folge der (überwundenen) osmanisch-türkischen Besetzung Ungarns im 16. und 17. Jahrhundert. Die Taube wird hier als christliches Friedenssymbol gebraucht – endlich Frieden, aus Sicht der Christen. Über die Jahrhunderte hat es das Sinnbild des Heiligen Geists, die Taube aus Noahs Arche mit dem (antiken, vorchristlichen) Olivenzweig im Schnabel inzwischen zu globaler Anerkennung geschafft: Pablo Picasso entwarf das Zeichen der weißen Friedenstaube für den Weltfriedenskongress 1949 (und nannte seine Tochter im selben Jahr Taube, Paloma). Gemeint haben kann Picasso wohl nicht die Straßentaube, die in bis zu 2000 Kämpfe pro Jahr verwickelt ist, eher schon die Turteltaube – wenn es die auch nicht in reinweiß gibt. War Mutter Teresa, geboren 1910 im Osmanischen Reich, eine Friedenstaube? Zumindest bekommt sie 1979 den Friedensnobelpreis. 2002 war ein türkischer Ministerpräsident als Kandidat dem Nobelpreis noch einmal nah, Bülent Ecevit, der im selben Jahr von der erstmals bei Parlamentswahlen angetretenen AKP aus dem Amt befördert wurde. Ara Güler nun ist der Verfasser einer Fotobiografie über Ecevit, mit dem Titel „Beyaz Güvercinli Adam“, „Mann mit der weißen Taube“. Punktlandung. Angekommen.
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Zum Weiterlesen:
Dennis Betzholz: Allahs Vögel (welt.de, 27.3.2016)
Max Kasparek: Dismigration und Brutarealexpansion der Türkentaube (Streptopelia decaocto) [Dismigration and Expansion of the breeding range of the Collared Dove (Streptopelia decaocto)] (Januar 1995)
Rolf Kaufmann: Taube (symbolonline.de, Stand 20.11.2011)
Gabriela M. Keller: Die Tauben von Tripoli (welt.de, 24.4.2011)
Katrin Lankers: Tauben (planet wissen, 25.8.2020)
Tauben (Wikipedia, Stand 8.9.2020)
Türkentaube (Wikipedia, Stand 13.7.2020)
Turteltaube (Wikipedia, Stand 25.5.2020)
Die Turteltaube: Unsere kleinste heimische Taube stürzt ab (nabu.de, Stand 19.9.2020)