Laytmotif auf Reisen: Zeus in Berlin und Istanbul
„Was ist denn dort heute?“ werde ich im Museumshop auf der Berliner Museumsinsel gefragt, als ich erzähle, dass ich nach Pergamon fahre, dem heutigen Bergama im Westen der Türkei. Jedenfalls ist dort heute nicht mehr der hierzulande so genannte Pergamonaltar. Seit er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Auftrag der kaiserlich-preußischen Museen in Bergama ausgegraben und nach Berlin gebracht wurde, ist er – mit Unterbrechungen – seit Jahrzehnten Prunkstück der Berliner Museumsinsel, seit 1930 mit eigenem Museum. Eine Sondierungsreise für eine Studienarbeit (veröffentlicht 2024) soll es werden, die untersuchen wird, wie Objekte aus deutschen und türkischen archäologischen Museen zumindest im digitalen Raum wieder zusammenfinden könnten. Diese Objekte haben im Falle deutscher Museen oft zweifelhafte Erwerbsgeschichten, sind Ergebnis politischer Ränkespiele und deutscher (Kultur-)Diplomatie bis zum Beginn des I. Weltkriegs.
Archäologie scheint um Izmir populär zu sein: Schon in der Izban werden jedenfalls die Foça International Archaeology and Cultural Heritage Documentary Film Days im Oktober beworben, Großplakate werben in Izmir selbst mit einer griechischen Statue für „Travel to the Land of Myth“. Im Hotel in Izmir allerdings ist das kulturelle Erbe noch nicht so präsent, an der Rezeption weiß man jedenfalls nicht, wie man von Izmir am besten ins 78 km Luftlinie entfernte Bergama kommt. (Praktischer Tip: Izban bis nach Aliağa, mit dem 835er Bus direkt vom Bahnhof nach Bergama, alles mit der Izmirim Travelcard.)
Im Bergamaer Hera-Hotel – Sie wissen schon, Hera, Gattin und Schwester von Zeus – ist das antike Hellas natürlich überall, im Zimmer mit dem Namen „Zeus“, mit Zeus auf Pergament (so benannt nach Pergamon) oder in einem Abbildungsdetail des Berliner Pergamon-Altars. Das Hotel liegt am Fuß des Berges mit der Akropolis, der Oberstadt, wo bis heute das kulturelle Erbe vieler Nationen ausgegraben und erforscht wird.
Eine Schwebebahn bringt die Geschichtsinteressierten hinauf an Orte mit Steinen, die Geschichte erzählen, mit den Säulen des Tempels für Trajan und Zeus Philios, dem Athenaheiligtum und einem großen Amphitheater. Und zu einer Leerstelle, die auch neuere Geschichte erzählt: Das Podest, auf dem ehemals der Zeus-Altar (Zeus Sunağı oder Altarı) oder Große Altar (Büyük Sunak) stand, bis er vor vielen hundert Jahren abgetragen wurde, verfiel und zum Mythos wurde. Und den die Welt inzwischen eher als Pergamon-Altar in Berlin kennt.
Es wird auch deutsch gesprochen auf der Akropolis: Die Erklärtafeln informieren auf Türkisch, Englisch und Deutsch; das Copyright auf die große plastische Abbildung des besiedelten antiken Bergs besitzen die Pergamon-Grabung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) und die BTU Cottbus – Lehrstuhl Darstellungslehre. Denn in Pergamon gräbt das DAI bis heute; deutsche Ausgräber sind mit Unterbrechungen seit den 1860ern vor Ort. Im gerade erschienenen Buch „Die Schatzjäger des Kaisers: Deutsche Archäologen auf Beutezug im Orient“ über die Ausgrabungen des jungen Deutschen Reiches bis zum I. Weltkrieg wird auch beschrieben, wie die Reste des verschütteten Altars unter der Leitung von Carl Humann in den 1870ern ausgegraben und in ihrer Gänze – an gesetzlichen Regelungen vorbei, mittels politischer Einflussnahme des Deutschen auf das Osmanische Reich – nach Berlin transportiert wurden, um dort die junge Großmacht Deutsches Reich zu schmücken und sie auch als zivilisatorische Erbin der edlen Antike zu legitimieren. Wie es ähnliche Objekte der Konkurrenten in London und Paris schon taten.
Von all dem liest man bis heute nicht viel auf Wikipedia, wo der Abtransport der Altarfragmente weiter als Rettung vor der finalen Verwertung als Baumaterial durch die Einwohner Bergamas dargestellt wird. (So wie allerdings schon Byzantiner, Kreuzritter und andere das Akropolis-Baumaterial seit Jahrhunderten verwertet hatten). Klar, die sogenannten „Beutezüge“ der Großmächte bildeten auch die Grundlage für die Entdeckung, Erforschung und Sicherung vieler Objekte für die Nachwelt, für das Entstehen der wissenschaftlichen Archäologie insgesamt. So findet man auch auf der Infotafel am Standort des Altars auf der Akropolis keinen Verweis auf die politische Geschichte seiner Wiederentdeckung; es wird neutral mit Illustrationen und Informationen des wiederaufgebauten Altars in Berlin aufgeklärt. Auch der mitgehörte Audioguide einer türkischen Besucherin scheint vor allem die Verdienste Carl Humanns bei der Wiederentdeckung neutral zu würdigen. Pointe: Carl Humann liegt bis heute in Sichtweise der Altar-Leerstelle unter einer großen Marmorplatte begraben.
Auch im kleinen verschlafenen archäologischen Museum Bergamas wird dieser Aspekt der Altar-Geschichte nicht weiter thematisiert. Auch hier wird mit einem Modell, vielen Fotos und Daten aus Berlin gearbeitet und zur Antiken-Ausfuhr lediglich gesagt: „In 1880 he [Humann] transported the frieze blocks which he found to Germany somehow“. Wie dieses somehow des Transports tonnenschwerer Steinfragmente vom steilen Berg, über die Ebene bis zu den Frachtschiffen in der Ägäis Ende des 19. Jahrhunderts aussah, lässt eine Lore am steilen Berg und eine historische Abbildung im Museum ahnen und wird im Schatzjäger-Buch detailreich beschrieben.
Eher wenige, kleine, fragmentarische Pergamon-Funde sind im Bergamaer Museum zu sehen. Und auch mindestens eine Kopie: Die Kopie des Kopfes von Alexander dem Großen. Das Original, gefunden in Pergamon, ist heute eine der Attraktionen der Istanbuler Archäologischen Museen. In Istanbul, früher Konstantinopel und Byzanz, ist Archäologie heute zunehmend sichtbar Thema – schließlich erklärt das Tourismusmarketing die Türkei auch zur Wiege der Zivilisationen. Gerade die großen Bauprojekte bringen in den letzten Jahren immer neue archäologische Schichten der hier vorbeigezogenen Zivilisationen ans Tageslicht. In den Stationen von Marmaray, der Metro, die unter dem Bosporus hindurchführt, wird dazu berichtet; ein Modell zeigt in Zeytinburnu diese Zivilisationsschichten der neolithischen, griechisch-römischen und osmanischen Perioden im Rahmen eines künstlerischen Projekts. Um Haydarpaşa herum, von deutschen Firmen Anfang des letzten Jahrhunderts gebauter Bahnhof, inzwischen stillgelegt und im Umbau, finden gerade gut dokumentierte Ausgrabungen statt.
Das archäologische Interesse war hier nicht immer so ausgeprägt: Dass in osmanischer Zeit so viele antike Objekte außer Landes gebracht werden konnten, nach London, Paris, Wien und Berlin zum Beispiel, war auch Folge der anfänglichen Gleichgültigkeit von Sultan, osmanischer Regierung und Behörden gegenüber dieser vor-osmanischen Geschichte. Antiken eigneten sich damals als Gastgeschenke des Sultans, als Gegenwert von Tauschgeschäften, Objekte, für deren Ausfuhr sich Behörden leicht bestechen ließen. Erst die deutliche Gier der europäischen Großmächte nach antiken Funden im Osmanischen Reich und dessen Bestreben, in punkto Repräsentation mit den europäischen Hauptstädten gleichzuziehen, änderten die Sicht auf diese Vergangenheit. Verschiedene osmanische Gesetze zur Verhinderung übermäßiger Antikenausfuhr wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlassen, bis zum Gesetz von 1906, das jegliche Ausfuhr verbot (, das aber auch weiter umgangen wurde).
Explizit wurde das Interesse spätestens mit der Eröffnung des Archäologischen Museums in der imperialen Hauptstadt Konstantinopel 1891. Dessen Gebäude selbst hat die Form eines der berühmten Sarkophage aus Sidon, die aus dem heutigen Libanon, damals Osmanisches Reich, in die osmanische Hauptstadt gebracht worden waren und heute Highlights der Istanbuler Sammlungen sind. So wie auch andere Objekte aus osmanischen Provinzen wie Bergama das Hauptstadt-Museum groß und prestigeträchtig gemacht haben. Dieses unbedingt empfehlenswerte Museum ist überhaupt nicht verschlafen, eine großartige Inszenierung vergangener Zivilisationen: Mit Zeus und Hera und anderen großformatigen Darstellungen der jeweiligen Epochen an den Wänden, perfekter Ausleuchtung der Objekte, auf Wirkung bedachter Skulpturengruppierungen, umfangreichen Erklärungen auf türkisch und englisch, einem Raum, der am Beispiel von Troja (rabiat ausgegraben von Schliemann) heutige Techniken und Entwicklungen der Archäologie zeigt.
Auch in Istanbul werden übrigens einige Teile des Pergamon-Altars ausgestellt; definitiv können sie wegen ihrer kleinen Zahl nicht im Zentrum der Präsentationen stehen. Und – anders als im Bergamaer Museum – werden in Istanbul die Gründe für Leerstellen in den Sammlungen thematisiert: Im Museumsshop stapelt sich das gerade wieder neu aufgelegte Buch „Tears of Anatolia. Our historical artifacts that were taken abroad“ („Anadolu’nun Gözyaşları: Yurtdışına Götürülmüş Tarihi Eserlerimiz“). Es beschreibt historische Grabungshintergründe und listet Objekte aus dem Osmanischen Reich in europäischen und amerikanischen Museen: In Berlin, München, Wien, Kopenhagen, London, Oxford, Paris, Amsterdam, Athen, dem Vatikan, in Baltimore, Washington, Chicago, New York – die Liste ist lang. Eines der Bücher ist nun in Berlin, zum Nachdenken darüber, was heute in Sachen eines gemeinsamen kulturellen Erbe getan werden kann.
PS: In meiner Masterarbeit Ein transnationaler digitaler Museumsraum. Neue Perspektiven der digitalen Grunderschließung am Beispiel zweifelhaft erworbener archäologischer Objekte aus dem Gebiet der heutigen Türkei untersuche ich den Umgang mit archäologischen Objekten im digitalen Raum.