„Lassen Sie sich vom Orient verzaubern“*
„Ich bin in Konstantinopel geboren, mein Vater war ein Dragoman bei der Pforte und trieb nebenbei einen einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und seidenen Stoffen.“** Geheimnisvoller und rätselhafter solle Laytmotif doch bitte sein, wünscht sich ein Freund, mehr Geschichten erzählen, fantasieren, weg von Volkshochschule und Sprachenseminar. Diesen Wunsch wollen wir gern versuchen zu erfüllen. Sie haben es geahnt: Was liegt näher, als sich dem Orient zu widmen?
Zum Wort „Orient“ fallen einer durchschnittlichen deutschen Familie in einer – womöglich doch repräsentativen – Blitzumfrage folgende Begriffe ein: Sinnlichkeit, Duft, Pferde, Tausendundeine Nacht, Mond, Halbmond und Stern, Kamel, Wüste, Samarkand, Gewürze, Beduinen, Turban, Harem, Pluderhosen, orientalisches Essen, Frauen mit Kopftuch, Bauchtanz, Türkei, andersfarbige Menschen, anderes Klima.
Und Krummsäbel.
Herrjemine! Hay Allah!
(Im türkischen Ausruf des Erstaunens steckt noch so ein – sensibles – Stichwort zum Orient. Weil aber das deutsche Herrjemine laut Duden ursprünglich auch mal Herr Jesu Domine geheißen hat, wollen wir hier mal beide vorsätzlich benutzen.)
Also: Hay Allah, Herrjemine, Orient, dieses harmloses kurze Wörtchen – und schon die durchschnittliche deutsche Kleinfamilie fackelt ein solches Begriffsfeuerwerk ab? Hier helfen jetzt keine Märchen aus 1001 Nacht weiter, das braucht Analyse und Struktur, das braucht… Volkshochschule, nein, die reicht nicht, das braucht Universität, Politikinstitute, Sprachforscher, Soziologen, das braucht akademische Debatten… [Laytmotif hat sich jetzt verausgabt…]
Und das gibt es alles natürlich schon: Wissenschaftler, Theoretiker, Künstler, ja, auch Märchenerzähler, und ungezählte andere Berufsgruppen setzen sich auf vielen Ebenen mit dem komplexen Begriff des „Orient“ auseinander.
Der Orient, das Morgenland, war zunächst – neben dem Okzident, dem Abendland, und zwei weiteren – eine von vier Weltgegenden, mit der im Römischen Reich die Welt unterteilt wurde. Ganz geografisch-kartografisch: Orient leitet sich von lat. sol oriens ab, „aufgehende Sonne“, also da, wo der Morgen ist. Immer gegenüber liegt der Okzident, das Abendland, von sol occidens „untergehende Sonne“. Na, da haben wir es doch schon: Der Orient liegt immer östlich vom Standpunkt des Betrachters, da, wo die Sonne aufgeht. Und die Grenze zwischen Orient und Okzident läuft immer genau durch den Betrachter hindurch. So flexibel war es aber schon bei den Römern nicht: Auch wenn es keine festgelegte Grenzlinie gab, gehörte doch Konstantinopel und das Oströmische Reich und alles was danach noch in Asien kam, zum Orient, Rom und das Weströmische Reich mit dem westlichen Europa zum Okzident.
In der heutigen Türkei bzw. dem Osmanischen Reich wurde das im römisch-lateinischen wurzelnde Wort Orient ursprünglich nicht benutzt. Das persische Wort Şark bezeichnete lange den Osten; zwischen Garp, dem Abendland, und Konstantinopel fuhr der Şark Ekspres. In der modernen Türkei benennt heute das türkische Wort Batı, Westen, den Okzident, Doğu, Osten, den Orient. Das Verb dazu ist doğmak, geboren werden, Sonne aufgehen – also eine ganz ähnliche sprachliche Methode der geografischen Verortung wie im lateinischen Sprachraum.
Die Geschichten und die Märchen vom Orient werden seit mehr als 2000 Jahren erzählt, aufgeladen durch schreckliche Kriege, angereichert durch märchenhafte Geschenke, garniert mit strategischen Verheiratungen, beeinflusst durch sentimentale, frisierte oder prahlerische Reiseberichte. Protagonisten, Geschichtenerzähler und Gegenstand sind neben vielen anderen Drei Heilige Könige – die „Magier aus dem Osten“, Sultane und ihre (Lieblings-)Gemahlinnen, Kaiser und Kaiserinnen, Könige und Königinnen, Zaren und Zarinnen, Kreuzritter, die Türken vor Wien, Botschafter und Gesandte, Orientreisende, bekannte und unbekannte Dichter, Maler, „Gastarbeiter“, postmigrantische TheaterautorInnen.
Sowie Millionen toter Soldaten, Legionäre und Zivilisten aus unzähligen Schlachten zwischen und um Orient und Okzident.
Die Stadt, die nacheinander bzw. parallel Byzanz, Konstantinopel, İstanbul hieß, war zu jeder Zeit ein zentraler Schauplatz der Beziehungen zwischen Abendland und Morgenland. Um die erste Jahrtausendwende vermählte der deutsche Kaiser Otto I. seinen Sohn mit der Nichte des byzantinischen Kaisers, Theophanu; mit ihr kamen aus Konstantinopel byzantinische Künstler, Buchmaler und Goldschmiede und ihre Kunst nach Mitteleuropa. Und obwohl sich die Orientkreuzzüge des 11. bis 13. Jahrhunderts eigentlich gegen die muslimischen Staaten der Region richteten, wurde auch die damals größte christliche Stadt der Welt Konstantinopel am Ende des Vierten Kreuzzugs 1204 durch die fränkischen Kreuzritter erobert und geplündert. Vor allem im Gefolge der Kreuzzüge schwappte eine Welle von Reiseberichten, die oft ausgeschmückte Reisefantasien waren, nach Europa: Die Sarazenen, damals Sammelbegriff des Abendlandes für die muslimischen Völker des Morgenlandes, verkörperten in den Darstellungen und Romanen wahlweise die vorgebliche Kriegslüsternheit und moralische Verdorbenheit, den vermeintlichen unanständigen Reichtum des Morgenlands. Im Name Sarrazin lebt diese Episode der europäischen Außenwahrnehmung fort.
Nach der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmet II., den siebten Sultan des osmanischen Reiches, wird die Stadt sichtbar und deutlich geprägt von einer anderen Religion – in Form von Moscheen – und einer anderen Staatsform – v. a. in Gestalt des Topkapı Sarayı. Über Jahrhunderte lang war der Topkapı-Palast der Wohnsitz der Sultane mit dem mythenumranken Harem. Und Zentrum der politischen Macht: Der für europäische Ohren exotische Begriff „Hohe Pforte“ bezeichnet im Arabischen ganz allgemein das Eingangstor zu Palästen, hier zum Topkapı, und wurde in aller Welt zum Synonym für die Sultansherrschaft. Das über lange Zeit riesige osmanische Reich wird oft als deckungsgleich mit dem Orient wahrgenommen.
Die vielen „Türckenkriege“ zwischen den Osmanen und dem christlichen Europa seit 1453, und v. a. die Wiener Türkenbelagerungen 1529 und 1683 prägen das Gedächtnis ganzer Generationen, die europäischen Sprachen und Volkslieder – der Krieg der Religionen wird dabei immer wieder wie zu Kreuzritterzeiten beschworen. Aber Orient und Islam hin, Okzident und Christentum her: Die „Hohe Pforte“ wurde schon recht bald, ab 1528, in verschiedenen Konstellationen in das europäische Bündnissystem integriert, in wechselnden Allianzen gegen oder mit den europäischen Mächten. Es geht immer um Gebietsansprüche, Handelsinteressen, Seewege nach Indien, im Mittel- und im Schwarzen Meer, um Gold, hinter den Kulissen begleitet von regen diplomatischen Aktivitäten. Und neben ihren konkreten Pflichten lassen sich orientalisierende europäische Botschafter bei der Hohen Pforte in osmanischen Gewändern malen, sie und ihre Maler bringen ein idealisiertes Orientbild mit nach Europa. Die osmanischen Abgesandten nach Europa bieten im Gegenzug bei ihren Einführungen allen orientalischen Pomp auf.
Turquerie, Turkomanie, „alla turca“, Türkenmoden und „Türkenverehrung“, „Der kleine Muck“ – „schnellster Mann des Orient“ (Gorki-Programmheft #2 2014) – im orientalischen Kunstmärchen von Wilhelm Hauff, Goethes „Westöstlicher Diwan“, melancholische Reiseberichte und Panoramabilder aus Konstantinopel, geglättete europäische Übersetzungen der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die europäische orientalisierende Malerei, Mode und Architektur – der Orient beeinflusst über Jahrhunderte, besonders stark im 18. und 19. Jahrhundert, Kunst und Kultur des Okzident.
Ab dem 19. Jahrhundert stellt sich mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches – das Bild vom kranken Mann am Bosporus wird gebräuchlich – die so genannte „Orientalische Frage“, Oberbegriff für Diplomatie und kriegerische Auseinandersetzungen um Einfluss im sich auflösenden Großreich und an seinen Rändern, v. a. dem Balkan. Die letztendlich im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918 mit Millionen Toten münden. Und der Gründung der modernen Türkei unter Atatürk.
Weg vom Morgenland im Rücken: Atatürk richtet diesen neuen Staat konsequent Richtung Westen, zum Abendland, aus. Neben unzähligen anderen gesellschaftlichen Reformen wird das arabische durch das lateinische Alfabet ersetzt, der Einfluss arabischer Sprachelemente insgesamt zurückgedrängt. Neben dem Tragen des Kopftuchs an staatlichen Einrichtungen, dem Tragen von Turbanen und Pluderhosen wird per Hutgesetz 1925 auch die arabisch-türkische Kopfbedeckung Fez (Fes) verboten – ein herber Umsatzverlust übrigens für die Union-Fez-Fabrik GmbH und andere Fez-Fabriken im brandenburgischen Guben, bis dahin Weltmarktführer der Fez-Produktion und des Fez-Exports in die arabische Welt.
Und heute? „Oryantal“ für orientalisch hat den Weg in die türkische Sprache gefunden, vor Allem als Label für Produkte für Orientbegeisterte, mit einem Hauch von Orient, Oryantal Müzik und Oryantal Dans zum Beispiel. Klischees vom Orient werden überhaupt gerne kommerziell bedient: Orienthäuser in İstanbul, Berlin und anderswo bieten orientalische Genüsse wie Bauchtanz, Derwische und sinnlich-kulinarische Köstlichkeiten, Orientteppiche werden weiter gerne gekauft. Etwas Französisch zum Orient bietet sich immer an, der Orient-Express fuhr schließlich auch von Paris: In Confiseries Orientales werden Pâtisseries Orientales angeboten, die auf Englisch Turkish Cookies heißen mögen und auf Türkisch sowieso Kurabiye.
Der Orient – heute nur noch Folklore? Auch wenn sich DER Orient heute in die Türkei, den Nahen Osten, Arabien und viele andere Teilgebiete aufgesplittert hat, ist in unserer Wahrnehmung übrig geblieben, dass sich die Welt seit Jahrhunderten in mindestens zwei Hälften spaltet. Die von Edward Said in den 1970ern ausgelöste Orientalismus-Debatte thematisiert kritisch, auf welchen Ebenen mit welchen Interessenslagen die Konzepte vom Orient weiter benutzt werden, wo Klischees der Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen, Ausgrenzung und Diskriminierung dienen, Feindseligkeit und Krieg gerechtfertigt wird.
Herrjemine! Hay Allah!
Ein paar neue Denkanstöße für die Orientalismus-Debatte haben Sie nun vielleicht bekommen – Sie können sich jetzt weiter ganz reflektiert mit dem Orient beschäftigen, analysieren und strukturieren. Sie können darüber hinaus aber auch tiefer in eine spannende, Ihnen etwas fremde, geheimnisvolle Welt, eintauchen, Neues kennenlernen, angeregt werden, fantasieren. Bitte lassen Sie sich also auch vom Orient verzaubern!
Quellen:
* Infoflyer eines thüringischen Restaurants: „Orientalischer Abend: Begleiten Sie uns auf eine kulinarische Reise und lassen Sie sich vom Orient verzaubern!“
** Wilhelm Hauff: Die Geschichte von der abgehauenen Hand (in „Die Karawane“, 1825)
Karlsruher Türkenbeute, Kunst & Kultur
Karlsruher Türkenbeute: Turquerie, Turkomanie, „alla turca“ – Die Türkenmoden Europas
Karlsruher Türkenbeute: Zeitgenössische literarische Zeugnisse von Europäern und Osmanen
Şenol Özyurt: Die Türkenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (W. Fink, 1972)
Orient (Wikipedia, Stand 5.12.2013)
Römisches Reich (Wikipedia, Stand 3.1.2014)
Sarazenen/Personennamen (Wikipedia, Stand 24.11.2013)
Technisches Museum der Hutindustrie, Guben, Brandenburg
Türkenkriege (Wikipedia, Stand 5.1.2014)