Laytmotif in Thessaloniki: Ein Minarett, Hamams, Exil eines Sultans – und natürlich Atatürk.
Laytmotif fährt ins griechische Thessaloniki, im Flugzeug hört man viel Türkisch, im Hotelzimmer nebenan dann auch. „Atatürk’ün izinde Balkanlar“, der „Balkan auf den Spuren Atatürks“, wie es auf einem Reisebus steht: In Thessaloniki, türkisch Selanik, steht das Geburtshaus von Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei. Das Geburtshaus des „Vaters der Türken“ in Griechenland? Heute ja, damals – 1881 – nein: Thessaloniki gehörte fast 500 Jahre, von 1430 bis 1912, zum Osmanischen Reich. Davor war es über Jahrhunderte zweitwichtigste Stadt im byzantinischen Reich, nach Byzanz, dem späteren Konstantinopel und heutigen Istanbul. 1908 begann von Thessaloniki aus die Bewegung der Jungtürken mit Enver Pascha und Mustafa Kemal, später Atatürk, das politische System des Osmanischen Reichs zu verändern; 1912 fällt die Stadt im ersten Balkankrieg an die Griechen.
Türken/Muslime waren hier nie in der Bevölkerungsmehrheit – die größte Bevölkerungsgruppe waren über lange Zeit die Juden: Noch 1913 gab es neben 38.000 Muslimen und 21.000 Christen 50.000 Juden. Zum „Jerusalem des Balkans“ wurde Thessaloniki ab 1492, als Tausende sephardische Juden auf der Flucht vor den katholischen Herrschern der iberischen Halbinsel per Dekret von Sultan Bayezit II. hier Aufnahme fanden. [mehr]. Davor kamen viele muslimische Zuwanderer aus dem osmanischen Anatolien. Nach 1912 wird Thessaloniki Ziel von christlichen Flüchtlingen der Balkankriege, des I. Weltkriegs und des Griechisch-Türkischen Kriegs 1919-1922. Griechenland verlor diesen Krieg, im Vertrag von Lausanne wird 1923 ein Bevölkerungsaustausch auf Basis der Religionszugehörigkeit vereinbart: Mehr als eine Million orthodoxer Christen müssen das Gebiet der Türkei verlassen, 400.000 Muslime das Gebiet Griechenlands, Heimaten beider Bevölkerungsgruppen jeweils seit vielen hundert Jahren. Viele der Türkei-Aussiedler siedeln sich in und um Thessaloniki an.
In die Türkei gehen müssen aus Thessaloniki auch die Dönme (von dönmek: sich drehen, wenden), zum Islam konvertierte Juden. Bis zur deutschen Besatzung ab April 1941 verlassen viele jüdische Familien zudem wegen Repressalien griechischer Nationalisten die Stadt, ab 1943 werden etwa 50.000 Juden, praktisch die gesamte jüdische Bevölkerung, in insgesamt 19 Zügen mit Viehwaggons nach Deutschland transportiert und dort umgebracht. Heute zählt die jüdische Gemeinde etwa 1.500 Mitglieder.
Rom, Byzanz, das Osmanische Reich, Religionen, Kriege, Aufnahme und Vertreibung, Alltag, Menschen – Thessaloniki liegt an der Kreuzung von Nord und Süd, West und Ost, besteht aus vielen Schichten unter der momentan letzten, der EU-europäisch-griechischen; die Stadt ist spürbar Geschichte und erzählt Geschichten:
· Es gibt einen Busstreik, weil Busfahrer seit drei Monaten keinen Lohn bekommen haben – also geht kein Bus vom Flughafen. Mein Taxifahrer heißt Kioseoglou, das türkische -oğlu ein Verweis auf Vorfahren in der Türkei.
· Es gibt genau ein Minarett in Thessaloniki, das an der Rotunda, einem Gebäude, von dem man nicht so recht weiß, ob es zu weltlichen oder zu religiösen Zwecken ungefähr im 3. Jahrhundert von den Römern gebaut wurde. Nach der Christianisierung diente die Rotunda für mehr als 1.200 Jahre als Kirche, bevor sie 1590 zur Moschee mit angebautem Minarett wurde. Alte Ansichten, z. B. im Jüdischen Museum Thessalonikis und in Atatürks Geburtshaus, zeigen ein mit Minaretten gespicktes Stadtpanorama.
· Es gibt junge Männer, die genauso auch auf Izmirs Strandpromenade bummeln oder ihre Autos zeigen könnten, die dort allerdings kein Kreuz um den Hals oder vorne im Auto trügen.
· Es gibt mit CrossRoads ein Fotografie-Projekt, bei dem griechische und türkische Einwohner Thessalonikis gemeinsam mit syrischen Geflüchteten aus dem Softex-Camp arbeiten. Im Zentrum von Thessaloniki sieht man keine Geflüchteten, weil Softex weit vor den Toren der Stadt liegt.
· Es gibt das Exil des Sultans Abdülhamid II., die Villa Allatini, 1898 gebaut für die osmanisch-jüdische Mühlendynastie, später im Besitz des osmanischen Heeres. Von den Jungtürken 1909 abgesetzt, wurde der Sultan von Seiner Majestät (des Deutschen Kaisers) Schiff – SMS –Loreley nach Thessaloniki gebracht. Und 1912 wieder zurück nach Istanbul.
· Es gibt eine Hagia Sophia, die im 7. Jahrhundert nach dem Vorbild ihrer berühmten Istanbuler Schwester errichtet wurde und wie diese während der Herrschaft der Osmanen zur Moschee umgewandelt wurde. Während die Istanbuler Hagia Sophia heute Museum ist, ist die in Thessaloniki wieder dunkle, weihrauchgeschwängerte, goldblitzende Kirche voller Mosaiken und ohne Minarette.
· Es gibt viele alte Männer mit nicht gestutzten, zerzausten Bärten, die auch islamische Würdenträger sein könnten, wenn sie nicht orthodoxe Priester mit schwarzer Kappe und schwarzem Gewand wären.
· Es gibt Kirchen, z. B. die Demetriosbasilika, für deren Wiederaufbau auch Grabsteine des 1942 von den deutschen Besatzern gewaltsam aufgelösten jüdischen Friedhofs mit 300.000 bis 500.000 Gräbern benutzt wurden.
· Es gibt Märkte, die aussehen wie die in Istanbul, auf denen auch „Hadi, hadi“ gerufen wird, wo aber Schweineköpfe enthäutet werden. Es gibt Supermärkte, die „Bazaar“ heißen.
· Es gibt im alten Hafen ein Zollhaus aus osmanischer Zeit, das der italienischstämmige osmanische Jude Eli Modiano bauen ließ. Der seit Jahrhunderten für den Balkan überaus wichtige und heute etwas weiter westlich liegende Hafen soll dieser Tage auf Druck internationaler Gläubiger privatisiert werden; ein deutsches Konsortium ist aussichtsreichster Kandidat für die Übernahme.
· Es gibt Frauen in langen schwarzen Gewändern, die nur das Gesicht freilassen. Nur das Kreuz auf ihrem Stirntuch unterscheidet diese Nonnen von Frauen im Tschador.
· Es gibt eine zu einem Kino umfunktionierte Moschee, die Hamza Bey Moschee, die als wahrscheinlich erste Moschee nach der osmanischen Übernahme 1430 errichtet wurde. Nach dem Verlassen der Muslime wurde sie für Jahrzehnte zum Kino, zeitweise auch zu einem für „Erwachsenenfilme“, und ist bis heute vor Allem unter ihrem Kinonamen bekannt: Alkazar, abgeleitet von den muslimischen Festungen auf der Iberischen Halbinsel. Ihre nächste Bestimmung ist historisch wertvolle Metrostation – falls der Metrobau, behindert durch Geldmangel und archäologische Schichten, jemals fertiggestellt wird.
· Es gibt Simit, Börek, Yaprak Sarması (gefüllte Weinblätter), Baklava und Döner, die aber hier so nicht heißen.
· Es gibt eine Moschee, die Yeni Camii, die 1902 von einem italienischen Architekten für die Gemeinschaft der Dönme, zum Islam konvertierte Juden, errichtet und nach deren Ausweisung 1923 zum Archäologischen Museum umgewidmet wurde. Die Minarette wurden entfernt.
· Es gibt seit 1900 die Villa eines jüdisch-osmanischen Kaufmanns, die Villa Mehmet Kapanci, im Stil der Wiener Moderne und des Art Nouveau, mit gotischen und neo-arabischen Elementen. Während der deutschen Besatzung Hauptquartier der Gestapo, von 1954 bis 1973 Sitz von NATO-Dienststellen (also auch während der Zeit der Herrschaft der griechischen Militärjunta 1967 bis 1974), war sie später auch Sitz der Organisation zur Vorbereitung des Thessaloniki-Kulturhauptstadt-Jahres 1997.
· Es gibt Hamams, die auf griechisch χαμάμ (chamám) heißen und bis weit ins letzte Jahrhundert in Betrieb waren. Es gibt das Yeni Hamam (Neues Hamam) aus dem 16. Jahrhundert, das aber besser unter Aegle bekannt ist, dem Namen des Kinos, das es lange beherbergte. Es gibt ein Yahudi Hamam (jüdisches Hamam).
· Es gibt – anders als in Canberra oder Wellington – kein Atatürk-Denkmal, dafür eines von Alexander dem Großen. Der reitet nicht weit vom Weißen Turm, ehemals Teil einer osmanischen Wehranlage, die im 16. Jahrhundert anstelle einer byzantinischen gebaut wurde.
· Es gibt das Gebäude der Osmanischen Bank im neo-barocken Stil, das auf dem Grundstück eines englischen Herrenhauses gebaut wurde, in dem 1858 der damalige Sultan zu Gast war und das 1903 von einem bulgarischen Bombenanschlag zerstört wurde.
· Es gibt eine Mahalle (türkisch: Nachbarschaft, ursprünglich vom Balkan), die „Francomahala“, die ab dem 18. Jahrhundert überwiegend von katholischen Franzosen, Italienern, Deutschen und Levantinern bewohnt wurde und die sich hier eine katholische Kirche bauten.
· Es gibt einen neo-byzantinischen Aristoteles-Platz, der nach dem großen Brand von 1917 errichtet wurde.
· Und es gibt das Geburtshaus von Atatürk, ein schwer bewachtes Holzhaus alten Stils – von einem kaum zu durchschauenden, mit Stahlspitzen bewehrten hohen Gitterzaun umgeben – das, wenn es nicht das Geburtshaus von Atatürk und zudem Türkisches Konsulat wäre, wohl schon lange Platz für ein solches Apartmenthaus gemacht hätte, wie sie ringsum stehen. Gegenüber werden Souvenirs und Snacks auf Türkisch angeboten, drinnen lassen sich die türkischen Besucherinnen und Besucher – von sehr jung bis sehr alt, Frauen in traditioneller Kleidung mit Kopfbedeckung oder freizügig „westlich“, Männer mit Zopf und kurzer Hose oder solche im Anzug – vor der Wachsfigur Atatürks fotografieren, einzeln, als Paar und in Gruppe.
„Her şeyin başlangıç noktası. Bir umut doğdu.“ (Wo alles begann. Eine Hoffnung wurde geboren) steht an der Tür.