Laytmotif auf Reisen: Flucht aus Al-Andaluz, Nathan der Weise, türkisch-israelitische Gemeinden und Sultane
Türkei – Spanien: Am 1. Oktober 2015 tritt in Spanien ein Gesetz in Kraft, das den Nachkommen der seit dem 15. Jahrhundert aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden ein „Recht auf Rückkehr“ einräumt. Auch türkische Staatsbürger werden einen Antrag stellen.
Iberische Halbinsel – Osmanisches Reich: 1492, mit dem Ende muslimischer Herrschaft auf der iberischen Halbinsel, stellt die spanische Krone Menschen jüdischen Glaubens, die Sephardim, vor die Wahl, das Land zu verlassen oder zum Christentum zu konvertieren. Das Osmanische Reich nimmt viele der Vertriebenen auf. Der damalige Sultan Beyazid II. soll gesagt haben: „Wie töricht sind die spanischen Könige, dass sie ihre besten Bürger ausweisen und ihren ärgsten Feinden überlassen.“
Türkei – Berlin: Die Vernichtungsaktionen der Nazis nach den Pogromen 1938 überleben nur sehr wenige Mitglieder der 150 Familien spanisch-türkischer Juden in Berlin.
Andalusien, arabisch Al-Andaluz, türkisch Endülüs, ist Ausgangspunkt einer langen Geschichte von Vertreibung, Vernichtung, Flucht und möglicherweise Rückkehr im Dreieck spanisches Königreich, Osmanisches und Deutsches Reich, Drittes Reich und Türkei. Ab 711 hatten verschiedene arabisch-muslimische Gruppierungen große Teile der Iberischen Halbinsel erobert und nannten ihr Herrschaftsgebiet Al-Andaluz. In verschiedenen aufeinanderfolgenden Kalifaten, Emiraten und muslimischen Königreichen prägte die islamische Kultur Architektur, Wissenschaft, Sprache der Region. Córdoba, türkisch Kurtuba, bis zur christlichen Übernahme 1236 Hauptstadt bzw. immer bedeutende Großstadt, war in seiner Blütezeit größer als Konstantinopel und das Zentrum der Gelehrsamkeit in Europa: Philosophen, Astronomen und andere Gelehrte aus dem arabischen Raum arbeiteten hier; ihre Werke wurden ins Lateinische übersetzt und prägten die Entwicklung der Wissenschaften im christlichen Europa.
Schriftsteller, Religionswissenschaftler, Historiker beschreiben Al-Andaluz als einen Ort des friedlichen Miteinanders der drei Religionen Islam, Christen- und Judentum. Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“, wichtiges Werk der Aufklärung und heute Pflichtlektüre an deutschen Schulen, formuliert in der Ringparabel die Gleichwertigkeit der drei Religionen – das Werk basiert wahrscheinlich auch auf Geschichten der Juden der Iberischen Halbinsel. Vor allem im Kalifat von Córdoba zur ersten Jahrtausendwende (929–1031) lebten und arbeiteten die drei Religionen gegenseitig nutzbringend und befruchtend , weitgehend und länger andauernd harmonisch zusammen. Trotz vieler Verklärung: Diese Harmonie währte nicht ewig. Davor und danach zunehmend gab es sowohl unter muslimischer Herrschaft als auch in den Schritt für Schritt durch die christlichen Armeen eroberten Gebieten immer wieder Vertreibungen und Massaker an den beiden jeweils anderen Religionsgruppen, in den katholischen Gebieten auch Zwangschristianisierungen von Muslimen und Juden.
1453 hatten die Osmanen unter Mehmet II. Konstantinopel eingenommen – für den Papst in Rom ein Zeichen für den Vormarsch des Islam nach Europa, eine Gefahr für das Christentum. Wenigstens soll nun endlich die muslimische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel komplett beendet werden. Die Reconquista, die sogenannte „Rückeroberung“ durch katholische Armeen, unterstützt durch Gelder aus Rom und Söldner aus ganz Europa, endete 1492 mit der Übergabe der prächtigen Alhambra in Granada durch den letzten Sultan Boabdil an den katholischen Adel. Eine – je nach Sichtweise – Zeit der Toleranz bzw. Herrschaftskämpfe geht zu Ende: Al-Andaluz existiert nicht mehr.
Mit dem Alhambra-Edikt vom 31. März 1492 wurden alle sephardischen Juden im Herrschaftsgebiet der katholischen Könige Isabella und Ferdinand gezwungen, entweder zum Christentum überzutreten oder das Land zu verlassen. Mindestens 120.000 Juden verließen die spanischen Gebiete, die Juderias, El barrio judío, von Granada, der sogenannten „Stadt der Juden“, von Malaga, Toledo, Córdoba und anderen Städten. Das war einer der traurigen Höhepunkte der spanischen Inquisition, die seit den 1470ern mit barbarischen Verhörmethoden zunächst Menschen verfolgte, die nur scheinbar vom Judentum zum Christentum konvertiert sein sollten, später auch Neu-Christen ursprünglich muslimischen Glaubens. 1502 folgte dann die Ausweisung der noch verbliebenen Muslime.
Überall, wo die Gläubigen verschwanden, verschwanden auch ihre Gebetshäuser: Durch Umwandlung oder Abriss von Synagogen, in Córdoba schon im 13. Jahrhundert metaphysisch zunächst durch die Weihung der Hauptmoschee zur Kirche und physisch durch die Errichtung einer Kathedrale mitten in der Moschee, durch den Bau von Kathedralen anstelle der Moscheen, inklusive der Umbauung der Minarette mit Kirchtürmen.
Ein Dekret von Sultan Bayezid II. hieß die jüdischen Vertriebenen im Osmanischen Reich willkommen. Und viele kamen: Das von 1430 bis 1912 osmanische Selânik zum Beispiel, das heutige griechische Thessaloniki, wurde wegen der großen Zahl sephardischer Einwanderer zum „Jerusalem des Balkans“. Traditionell integrierte die Gesetzgebung des Osmanen Nicht-Muslime, bei höheren Abgaben und Steuern zwar, aber doch relativ geschützt, in das Vielvölkerreich. Wie schon in Al-Andaluz geschah das nicht nur aus Nächstenliebe: Die Vertriebenen brachten Know-How aus einer hoch entwickelten Gesellschaft mit. Die Entwicklung kriegsentscheidender Feuerwaffen durch die Osmanen fällt ziemlich genau mit der sephardischen Einwanderung zusammen und wird mit dem Wissenstransfer von der Iberischen Halbinsel in Verbindung gebracht.
Über den Umweg Osmanisches Reich gingen einige sephardische Familien weiter; in Berlin und Wien waren sie im 17. und 18. Jahrhundert die ersten türkischen Einwanderer, im damaligen Sprachgebrauch schon „türkisch“ genannt, obwohl Angehörige des Osmanischen Reichs. Henriette Herz (1764–1847), berühmte Gründerin eines literarisch-philosophischen Salons in Berlin, hatte z. B. sephardische Vorfahren. Osmanische Sepharden gründeten in Wien 1736 die türkisch-jüdische bzw. türkisch-israelitische Gemeinde, von den Habsburger Kaisern mit Sonderrechten ausgestattet, mit offiziellen Verbindungen zu den Sultanen in Konstantinopel. Für die Gemeinde errichtete der Architekt Hugo von Wiedenfeld 1885 bis 1887 eine Synagoge: „Türkischer Tempel“ wurde sie genannt, ein reich verzierter Bau im „maurischen Stil“, der sich auf die Architektur der Alhambra in Granada rückbezog. Der Türkische Tempel war als einer der prachtvollsten Orte jüdischen Gebets Vorbild für Synagogen in ganz Europa. Bei der jährlichen „Sultansfeier“ zum Geburtstag des drittletzten Osmanischen Sultans Abdülhamid II. (1842–1918) wurden in der Synagoge in Anwesenheit hoher Politiker beider Länder die besonderen Beziehungen zelebriert. Im Ersten Weltkrieg wehen auf dem Türkischen Tempel in Wien österreichische und osmanische Fahnen: Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich und das Osmanische Reich waren Verbündete in diesem Krieg; in seinem Gefolge gab es eine weitere Zuwanderung türkischer Juden.
Nach der Kapitulation Österreich-Ungarns und Deutschlands 1918 verstärkten sich dort in den 1920ern die nationalistischen Bewegungen; viele Sephardim begannen erneut, ihre Heimat zu verlassen. Im März 1933 wurde Österreich Teil Hitlerdeutschlands, 1938 wurde der Türkische Tempel wie viele andere jüdische Gebetshäuser und Geschäfte während der Novemberpogrome zerstört. In Berlin gab es zu diesem Zeitpunkt noch etwa 150 sephardische Familien, darunter auch solche, die erst in den 1910er Jahren aus Istanbul dorthin gekommen waren. Nach dem nationalsozialistischen Holocaust konnten nur noch wenige Überlebende dieser Familien mahnend ihre Geschichte erzählen. 1941 wurde Griechenland von Hitlerdeutschland besetzt, damit stand auch das ehemals osmanische, nun griechische Thessaloniki unter deutscher Herrschaft. Ein Todesurteil für die größte europäische sephardische Gemeinde: Nachdem die deutschen Besatzer erst den jüdischen Friedhof mit bis zu 500.000 Gräbern gewaltsam auflösen ließen und zum Bauland machten, die Grabsteine als Baumaterial dienten, wurden ab 1943 54.000 Juden nach Auschwitz deportiert und ermordet, 98% der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis.
Von denen, die in Europa noch rechtzeitig vor den Nazis fliehen konnten, gelangten einige Tausend in die neutrale Türkei. Die sie nicht mehr mit offenen Armen empfing: Wegen einer im Zuge der Bildung einer einheitlichen türkischen Nation restriktiven Visa-Politik war es vor allem der Initiative einzelner türkischer Staatsangehöriger zu verdanken, dass – auch türkische – Juden überhaupt in der Türkei Asyl fanden. Viele der 120.000 Juden in der Türkei verließen das Land 1948 mit der Gründung des Staates Israel. 26.000 sind es heute noch, eine Mehrheit davon Nachfahren der im 15. Jahrhundert von der Iberischen Halbinsel vertriebenen sephardischen Juden. Lange Zeit waren die Beziehungen der Türkei zu Israel für einen mehrheitlich muslimischen Staat ungewöhnlich intensiv – Auseinandersetzungen auf höchster politischer Ebene im Zusammenhang mit der israelischen Palästina-Politik haben nicht nur das türkische Israel-Bild getrübt, sondern auch die öffentliche Stimmung in der Türkei gegenüber Juden. Auch deswegen erwägt nun angeblich ein Viertel der türkischen Juden, das Angebot Spaniens und Portugals anzunehmen und einen Antrag auf Rückkehr in die Heimat ihrer Vorfahren zu stellen.
Wird nun also ein neues Al-Andaluz auf der Iberischen Halbinsel entstehen? Zumindest nicht sofort – das Angebot auf Rückkehr erstreckt sich ja auch nicht auf die Nachfahren der von dort vertriebenen Muslime. Die mit 2 Millionen aber jetzt schon einen ungleich größeren Anteil an der Gesamtbevölkerung stellen als die gegenwärtig 50.000 spanischen Juden einer der kleinsten jüdischen Gemeinden Europas. Die kleine Hauptmoschee von Granada, auf dem Albaicín mit Blick auf die Alhambra, ist zwar ein Zeichen, die spanische Gesamtbevölkerung von 47 Millionen bleibt aber weiter stark katholisch dominiert – der katholische Madonnenkult gibt dem staunenden Reisenden noch heute durchaus eine Idee von der christlichen Glaubensinbrunst des 15. Jahrhunderts. Angesichts der Geschichte von Auseinandersetzung, Flucht und Vertreibung, die damals ihren Anfang nahm, wäre es jedenfalls an der Zeit, dass des weisen Nathans Ringparabel mit Leben erfüllt wird.
PS: Maria, Jungfrau Maria, Muttergottes, Madonna, Miriam, Mariam oder Maryam ist die einzige im Koran namentlich genannte weibliche Person und genießt auch im Islam hohes Ansehen.
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