Reise=Erinnerungen aus dem Türkenreiche (die von Karl May)

Nicht sehr orientalisch hier, auch nicht besonders abenteuerlich, wild oder geheimnisvoll im beschaulichen Radebeul, der kleinen sächsischen Stadt vor den Toren von Dresden, zwischen Elbe und Weinbergen. Villengegend, über Generationen hier verwurzelte Menschen, sehr homogenes Bevölkerungsbild. Geordnetes Abendland eher – allerdings mit einem ganz besonderen Zugang zum Morgenland. Denn hier lebte nun vor etwas mehr als 100 Jahren der – selbsternannte – große Abenteurer und Weltenreisende Karl May, der angeblich 40 Sprachen sprach, sich zehntausende Kilometer zu Pferd und Fuß über die Kontinente bewegte und in vielen Büchern mit hohen Auflagen so einiges zu erzählen hatte. Das Karl May Museum in der früheren Villa des Autoren widmet sich dort noch bis 15. Oktober in einer Sonderausstellung „Karl Mays Orient“, der heute unbekannteren Seite seines Werks, nähert sich den erfundenen und wahren Geschichten aus dem Osmanischen Reich, dem „Morgenland“, dem sich der Autor verbunden fühlte, geht dem Bild des „Fremden“ nach, das Karl May mitprägen half und das heute noch an der Elbe und anderswo nachklingen dürfte.

Karl May Museum, 2023
Karl May Museum, 2023

Karl Mays Orient? Winnetou, Old Shatterhand, der wilde Westen – ja, aber der Osten, das Morgenland? Karl May ist heute vor allem für seine Romane um den edlen „Indianer“ Winnetou und Old Shatterhand bekannt. Karl Mays wohl bekannteste Buchreihe jedoch, die 33 Bände der grün-goldenen Gesammelten Reiseerzählungen, beginnt 1892 mit dem „Orient“: „Durch Wüste und Harem“, „Durchs wilde Kurdistan“ und „Von Bagdad nach Stambul“ heißen deren ersten drei Bände. Die Titelillustrationen haben für Generationen ein Bild vom Orient visualisiert: Wüstenstädte, Palmen, Kakteen, Männer auf geschmückten Pferden, Turbane. Erstmals veröffentlicht wurden diese Romane des so genannten Orientzyklus’ ab den 1880ern als Fortsetzungsromane in der Zeitschrift Deutscher Hausschatz in Wort und Bild (Motto: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“). Die Reihe beginnt mit „Giölgeda padiśhanün. Reise=Erinnerungen aus dem Türkenreiche“: „Giölgeda padiśhanün“ – Karl Mays aus Wörterbüchern ohne Sprachkenntnisse zusammengereimtes Fantasie-Türkisch mit dem für deutsche Ohren so türkischtüpischen ü – soll mit „Im Schatten des Großherrn“ übersetzt werden. Korrektes Türkisch wäre „Padişahın Gölgesinde“ gewesen (vgl. karl-may-wiki.de). Warum hat es bloß so lange gedauert, bis sich Laytmotif, dieses selbsternannte Kulturvermittlungsjournal Türkei/Deutschland, Gedanken zu Karl May macht?

„Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle.“
Karl May in einem Brief, 1897

Karl Mays Fabulierkunst schlug große Bögen von den Weiten Nordamerikas hin zu Regionen, die Teil des Osmanischen Reichs waren. Karl May war Winnetous Blutsbruder Old Shatterhand (beide sehr bekannt), und er war auch Kara Ben Nemsi (weniger bekannt). Kara Ben Nemsi, das türkische kara in Anlehnung an Karl, das alttürkische nemsi für deutsch: Karl, Sohn des Deutschen, und sein getreuer Diener Hadschi Halef Omar reiten durchs wilde Kurdistan und andere Gebiete des Osmanischen Reichs, und mindestens einmal von „Von Bagdad nach Stambul“. Ein Kapitel dieses Sammelbands heißt dann auch „Stambul“, zuerst erschienen im Deutschen Hausschatz 1882/83. Überzeugend, wie er Konstantinopel/Istanbul in seiner „Reiseerinnerung“ beschreibt, das Wirrwar ihrer Straßen, Orte wie das Goldene Horn, die Jeni Dschami (Yeni Cami) und Khassim Pascha (Kasımpaşa ) benennt und damit den Eindruck erweckt, dort gewesen zu sein.

Karl May Museum, Hadschi Halef Omar, 2023
Karl May Museum, Hadschi Halef Omar, 2023

„Betritt man hingegen die Stadt, so kommt man in enge, krumme, winkelige Gäßchen und Gassen, welche unmöglich Straßen zu nennen sind. Pflaster gibt es nur selten. Die Häuser sind meist aus Holz gebaut und kehren der Gasse eine öde, fensterlose Fronte zu.“
Karl May, Stambul, 1882/83

Als Karl May das schrieb lag seine erste und einzige Orientreise allerdings noch in weiter Ferne, war er weder durch die Gassen Stambuls spaziert noch durch die Weiten des Osmanischen Reichs geritten. Sein Orientzyklus war beendet, lange bevor er den Orient selbst erlebte. Andere waren aber dort gewesen: Karl Mays Protagonisten bewegen sich in den Regionen, in denen deutsche und andere europäische Abenteurer, Sondierer, Unternehmer, Archäologen unterwegs waren, um das Morgenland für ihre europäischen Herkunftsstaaten zu „erschließen“, den östlichen Gebieten des Alten Orient z. B., in Mesopotamien. Seine Erzählungen speisten sich aus Überlieferungen, aus Reiseberichten von Menschen, die tatsächlich vor Ort waren, aus Lexikonwissen, populärwissenschaftlicher Literatur und natürlich seinen eigenen Mutmaßungen.

Auf fremder Erde, Illustration aus „Von Bagdad nach Stambul“, 1908
Auf fremder Erde, Illustration aus „Von Bagdad nach Stambul“, 1908

Karl Mays Epoche in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war von der wirtschaftlichen und archäologischen Erschließung bzw. Ausbeutung durch die europäischen Großmächte bestimmt, im Osmanischen Reich und überall auf der Welt. Menschen fuhren hinaus, um die Welt nach ihren europäischen Maßstäben zu vermessen und dazu zu berichten, kategorisierten Tierarten und außereuropäische Regionen nach ihren Vorstellungen, schafften auf ihren von Adel und Wirtschaft gesponserten „Abenteuerreisen“ ethnologische und archäologische Objekte nach Europa, standen im Dienste eines europäischen Kolonialismus, den sie mit ihren Erkundungsreisen vorbereiten halfen und begleiteten. 2.600 Bücher seiner 3.000-bändigen Bibliothek entsprechender Autor*innen sind erhalten: Anstreichungen und Kommentare Mays lassen erahnen, wie gründlich er sie für seine Bücher ausgewertet hat. So bediente er sich für den Orientzyklus an realen Personen, wie dem britischen Archäologen Austen Henry Layard, der für das British Museum im Osmanischen Reich archäologische Objekte ausgraben ließ (Karl Mays Orient, S. 28) und vervielfacht damit auch für Generationen künftiger Archäologen nicht nur das Erkenntnis-Abenteuer Archäologie, sondern auch, dass es in Ordnung ist, wenn Europäer archäologische Objekte von dort in ihre Museen schaffen – eine Praxis dieser Zeit, die heute als wenigstens ethisch-moralisch nicht korrekt kritisiert wird. Zu Mays Quellen gehörten z. B. die Werke von Alfred Brehm, Afrikareisender und Autor von Brehms Thierleben, die er wie andere „ohne lästige Bedenken plünderte“ (spiegel.de). Auch der Orientalist Max von Oppenheim, der später im I. Weltkrieg die – das deutsche Militär unterstützende – Nachrichtenstelle für den Orient gründen sollte, war eine der Quellen, wie Oppenheim nach einem Treffen mit May notierte:

Das Amüsante ist, dass er selbst niemals in den Ländern, in denen seine Romane spielen, gewesen ist. Was den Orient angeht, ist er nie in das Innere vorgedrungen, wo wirklich Beduinen und Kurden leben. Dagegen hat er eifrig die vorhandene Literatur gelesen und aus ihr alles Nötige herausgesogen. Auch meine Arbeiten kannte er.
Max von Oppenheim, 1899

Karl Mays begleitet und legitimiert belletristisch die Eroberungszüge des imperialen Europas, multipliziert Sichten auf Kulturen und Menschen außerhalb Europas, die bis dato eher in Fachnischen existierten. „Die Märchenwelt des Orient erschloss sich für Millionen deutscher Leser im Wesentlichen durch die farbenprächtigen und spannungsgeladenen Erzählungen Karl Mays.“ ist auf einer Ausstellungstafel im Museum zu lesen. Der Deutsche Hausschatz in Wort und Bild, in der auch Karl May dem deutschen Volk die Welt erklärte, war zu seiner Zeit eine der auflagenstärksten deutschen Wochenzeitschriften. Karl May ist mit einer weltweiten Auflage zwischen 100 (reisen-zu-karl-may.de) und 200 Millionen (spiegel.de) – die Zahlen variieren – der auflagenstärkste deutsche Autor. Karl Mays Orient-Bücher wurden Teil einer längeren Geschichte des Orientalismus in der deutschen Literatur, nach z. B. Goethes West-östlichem Diwan oder „Hauffs orientalischen Märchen“, den Kunstmärchen Wilhelm Hauffs mit den Geschichten von Kalif Storch, dem kleinen Muck oder Zwerg Nase.

Die tanzenden Derwische, Illustration aus „Von Bagdad nach Stambul“, 1908
Die tanzenden Derwische, Illustration aus „Von Bagdad nach Stambul“, 1908

Gibt es im „Orient“ in dieser Zeit jemanden, der das Bild z. B. von Deutschland derart prägte? Gibt es Bücher von osmanisch-türkischen Autorinnen, die ihren Leserinnen millionenfach den Westen erklären? Für sachdienliche Hinweise ist Laytmotif dankbar. Zwar schrieben Autoren aus der Türkei über Deutschland: Sabahattin Ali z. B., dessen Roman „Die Madonna im Pelzmantel“ teilweise in Berlin nach dem I. Weltkrieg spielt, Ahmet Haşim, der in den 1930ern aus Frankfurt am Main berichtet. Diese Autoren waren anders als Karl May vor Ort, der Umfang und die Reichweite ihrer Berichte und Schriften aber zu gering, um ganze Generationen von Leser*innen zu prägen. Diese unterschiedlich intensive Rezeption gründet auch in Alphabetisierungsgraden: Während die Bevölkerung Deutschlands kurz vor Mays Tod 1912 schon zu 100% des Lesens und Schreibens mächtig war, wies das Osmanische Reich in seiner Endphase in den 1920ern mit knapp 20% bei den Männern und knapp 10% bei den Frauen eine deutlich niedrigere Alphabetisierungsrate auf.

Karl May Museum, Kara Ben Nemsi, 2023
Karl May Museum, Kara Ben Nemsi, 2023

Auch nach dem Tod Karl Mays 1912 werden seine Bücher weiter verlegt und gelesen; ihr Erfolg und ihre Wirkung potenziert sich noch durch die Verfilmungen der folgenden Jahrzehnte. Schon 1920/21 drehte die Berliner Ustad-Film die ersten drei Filme auf Basis des Orientzyklus. Benannt wurde die Film-Firma nach einer Romanfigur Karl Mays, Ustad, irgendwie auch ein Alter Ego Mays, ein orientalischer Ehrentitel und Lehrmeister, ein Wort, das sich im türkischen usta, Meister, wiederfindet. Ein späterer Meister des türkischen Kinos, Muhsin Ertuğrul, 1932 Schöpfer des ersten türkischsprachigen Tonfilm Bir Millet Uyanıyor, Eine Nation erwacht, ist dabei als Regisseur involviert. Es folgten weitere Verfilmungen in den 1930ern, 1950ern und natürlich die in den 1960ern, in denen Lex Barker nach Old Shatterhand in den erfolgreichen Winnetou-Filmen auch Kara Ben Nemsi verkörperte – diese Personalunion hätte Karl May sicher gefallen. Auch das westdeutsche Fernsehen nahm sich des Orientzyklus‘ an: Mit der obskuren TV-Serie „Mit Karl May im Orient“ (1963) und der 26-teiligen Serie „Kara Ben Nemsi Effendi“ von 1973/75.

Zurück aus den Sphären der Bücher und Filme in der Villa des Autoren in Radebeul: Werk und Autor leben auch dort fort. Einige ihrer Einrichtungsgegenstände sind heute Teil der „Orientsammlung“ des Museums, sie werden teils in der ständigen Ausstellung gezeigt und aktuell auch in der Sonderausstellung. Die Sujets seines Orientzyklus spiegeln sich darin; sie zeugen von Mays Selbstinszenierung als weltläufiger Autor und einem in seiner Zeit modernen Einrichtungs-Orientalismus, aber wohl auch von einem wirklichen Interesse an der ihm fremden Kultur. Ein Artikel im Ausstellungsmagazin verortet so die Orientsammlung zwischen „Kolonialismus und Orientbegeisterung“: 425 Objekte gehören zu ihr, 18 davon, z. B. die Skulptur eines vermutlichen Janitscharen, mit Stern-Mondsichel-Banner, und das Kurzschwert Yatağan, sind der heutigen Türkei zugeordnet, 104 dem „Orient allgemein“, einige davon vermutlich orientalisierend in Europa produziert, andere erst nach Mays Tod erworben, um den Mythos weiter zu bedienen. So kam auch das sogenannte Orientfenster vermutlich erst nach Mays Tod, in den 1920ern, auf Veranlassung seiner Witwe in die Villa.

Karl May Museum, Orientfenster, 2023
Karl May Museum, Orientfenster, 2023

Schwerter, ein Gebetsteppich, ein Koranständer, „orientalische Gebrauchsgegenstände“, viele Deko-Elemente aus fernen Ländern, Landkarten, ein Globus, Felle, ein Fez, fremde Stoffe – man fragt sich, wieviel davon ist Karl May, wieviel davon ist seine Witwe Klara May, wieviel davon haben er, sie und spätere Museumsmacher*innen inszeniert, weil es vor und nach dem Dasein der Villa als DDR-Kinderhort immer galt, Geschichten zu erzählen und sie zu illustrieren. Vieles davon sind touristische Souvenirs seiner Orientreise, von der hier später noch ausführlicher die Rede sein wird: Die Reise führte ihn 1899/1900 in die Region, mit der Station Konstantinopel im Juni/Juli 1900, zu einer Zeit, als das wohlhabendere deutsche Bürgertum schon einigermaßen organisiert in den Orient reisen konnte, Souvenirkauf inklusive. Nur noch Fotos gibt es vom Chinesischen Pavillon im Garten der Villa, in dem Karl May als sein Alter Ego, den Orient-Abenteurer Kara Ben Nemsi mit dem osmanischen Fez auf dem Kopf zu sehen ist. Oder vom sogenannten orientalischen Zelt und einer orientalischen Kostümparty, auf der Besucher mit Fez und weißer arabischer Kopfbedeckung, aber auch ein Cowboy mit Pistole posieren.

Karl May Museum, Bibliothek, 2023
Karl May Museum, Bibliothek, 2023

Als wahr verkaufte Erinnerungen an Abenteuer im Türkenreiche, millionenfach und über Jahrzehnte verlegt und verfilmt, ein Werk, das sich vor allen aus Quellen anderer europäischer Beobachter des „Orient“ speiste, Annahmen, Mutmaßungen, Selbstinszenierungen, ein Museum in einer ostdeutschen Kleinstadt in einer orientalisch ausstaffierten ehemaligen Villa eines fabulierenden Autoren, die beiden Pole Osten und Westen, oder, je nach Perspektive, der Globale Norden und der Globale Süden – wer wird sich über vielfältige wissenschaftliche, ideologische, didaktische, museologische oder wie auch immer geartete Analysen und Einordnungen wundern? Und die gibt es nicht erst im gegenwärtigen Zeitalter der Dekolonisierung: Schon die DDR-Kulturpolitik warf Karl May von Ende der 1940er bis Anfang der 1980er „Rassismus und Deutschtümelei“ vor, seine Bücher wurden nicht veröffentlicht. (Enthüllung: U. a. deswegen hat der Verfasser dieses Artikels auch kein einziges von Karl Mays Büchern gelesen.) Rehabilitiert wurde er (und damit auch die Villa vom Kinderhort wieder zum Museum), als in den 1980ern Karl Mays Sympathie für die „Indianer“ Teil der DDR-Propaganda gegen den „Rassismus – Machtmittel des USA-Imperialismus“ wurde (s. 22:09 in dieser Doku zu Radebeul, Herz des Wilden Ostens).

„Der Türke war einst ein zwar rauher, aber wackerer Nomade, ein ehrlicher, gutmüthiger Gesell, der gern einem Jeden gab, was ihm gehörte, sich aber auch Etwas. Da wurde seine einfache Seele umsponnen von dem gefährlichen Gewebe islamitischer Phantastereien, Lügen und Widersprüche; er verlor die Klarheit seines ja sonst schon ungeübten Urtheiles, wollte sich gern zurecht finden und wickelte sich desto tiefer hinein.“
Karl May, In Stambul

Schon auf der ersten Seite des Romankapitels „In Stambul“ stellt der Ich-Erzähler Überlegungen zur Orientalischen Frage und dem „Kranken Mann vom Bosporus“ an – ganz konkrete Themen der imperialistischen Großmachtspolitik Ende des 19. Jahrhunderts. Und verbindet sie mit einem Porträt, wie der Türke so, und was der Türke so…: Im Zitat geht es nicht um einen speziellen Bewohner Istanbuls, sondern um „die Türken an sich“. Anders als bei Wilhelm Hauff verwandeln sich bei May eben keine Kalifen in Störche, geht es nicht um die „Märchenwelt des Orient“. Es geht um sehr Reales, seine „farbenprächtigen und spannungsgeladenen Erzählungen“ beziehen sich auf Realitäten seiner Zeit, und sie kommen im Gewand des selbst Erlebten daher. In ihnen werden dabei nicht nur die krummen Gäßchen Stambuls beschrieben, sondern auch psychologisierende und philosophierende Annahmen zu den Menschen, die dort leben, getroffen.

Karl May Museum, Fez, 2023
Karl May Museum, Fez, 2023

„Und ist es wirklich wahr, Sihdi, dass Du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?
Ja.“
Hadschi Halef Omar (Muslim) zu Kara Ben Nemsi (Christ), Giölgeda padiśhanün (PDF, S. 254)

Die künstlerische Bewertung von Karl Mays samplings, Überlegungen zur literarischen Bedeutung von Fantasie und Kopie in seinem Werks möge die Literaturwelt übernehmen. Die gesellschaftliche Wirkung Karl Mays ist mindestens ambivalent: Einerseits erreichen seine um Verständnis bemühten, durchaus teils auch auf Fakten beruhenden Darstellungen eines anderen Kulturkreises eine große, ansonsten davon gänzlich unberührte Leserschaft, sie vermitteln Kenntnisse. Andererseits hat die fehlende Anschauung vor Ort, der distanzierte Blick auf das Fremde über die Auswertung anderer distanzierter Blicke auf das Fremde auch pauschalisierende Stereotypen und Klischees gebildet oder existierende verstärkt. Das Museums-Faltblatt „Darf man noch Indianer sagen?“ bescheinigt Karl May zwar, frei von „unreflektierten Exotismus“ zu sein, und dass bei ihm „die offene und neugierige Auseinandersetzung mit dem Fremden im Vordergrund steht.“ Kann schon sein – was heißt es aber, wenn die offene und neugierige Auseinandersetzung mit dem Fremden aus dem Lesen von Büchern und Reiseberichten anderer besteht, wenn „Erinnerungen“ im Gewand des Faktischen, Wahren und wirklich Erfahrenen daherkommen und sie bis heute unsere Vorstellungen von diesem „Orient“ beeinflussen?

Karl May Museum, Karl Mays Orient, 2023
Karl May Museum, Karl Mays Orient, 2023

„Grad weil das Leben des Orientes so inhaltslos, so oberflächlich, schmutzig und lärmvoll ist, wirkt es auf die besser veranlagten Menschen vertiefend, bereichernd, reinigend.“
Brief von der Orientreise 1899/1900 (spiegel.de)

Von Karl Mays eigener Sicht auf die Bewohner dieses „Orients“ sind verschiedene Perspektiven überliefert, die sich über die Zeiten zu verändern scheinen und irgendwie Ansatzpunkte für Zuschreibungen in jede Richtung bieten. In seinen frühen Büchern, auf Basis der Gedanken Dritter, ohne eigene direkte Begegnungen, zeichnet er interessiert ein freundliches Bild vom damals so genannten „Muselmanen“, auch gefärbt mit Überlegungen zum Islam, oft auch etwas gönnerhaft, durchaus charakteristisch für seine Zeit. Es ist zu lesen, dass seine Orientreise ihn in seiner Sicht auf das Fremde positiv beeinflusst hätte – mit dem „besser veranlagten Menschen“ dürfte er allerdings erstmal sich, den Europäer, gemeint haben. Schließlich ist er aber da noch am Beginn eines Läuterungsprozesses, der ihn in seinem Spätwerk zum expliziten Verfechter des „Morgenlandes“ werden lässt, z. B. in diesen Worten des Ustad an Kara Ben Nemsi:

»Ich sehe, daß du hinauf zu unsern Bergen schaust. Wollte das Abendland doch stets dasselbe thun! Aber es scheint nur unsere Thäler kennen zu wollen! Wenn es von uns redet, so spricht es nur von unsern Tiefen, nicht von unsern Höhen! Von unserm Alter, nicht von unserer Jugend! Von unserer Vergangenheit, nicht von unserer Zukunft! Von unserem Tode, nicht von unserm Leben! Von unserer Ohnmacht, nicht von unserer Stärke! Von unserm Verfall, doch nicht von unsern Hoffnungen! Ich weiß nur einen einzigen Europäer, der anders und besser von uns denkt, und dieser Mann bist du, Effendi.«
Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen III, 1902

Nach und mit der Reise, die mit der öffentlichen Enthüllung zusammenfällt, dass er gar nicht Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi ist, sondern alles eine Inszenierung, wandelt sich Karl May zum „christlichen Großmystiker und Menschheitserzieher“ (spiegel.de) mit einem entsprechenden Spätwerk. Das allerdings deutlich weniger Menschen lesen möchten als seine Abenteuergeschichten. Er nähert sich pazifistischen Strömungen z. B. im Umfeld der Friedensnobelpreisträgerin Berta von Suttner an. Kurz vor seinem Tod hält er auf ihre Einladung einen Vortrag vor fast 3.000 Zuhörer*innen in Wien. Der Titel des Vortrags steht auch an einem Treppenaufgang im Museum – sicher gut gemeint, wie so vieles bei Karl May, aber dieser Tage fühlt er sich, gerade in diesem Teil des Abendlandes, mindestens unbehaglich an: „Empor in das Reich der Edelmenschen“.

Karl May Museum, 2023
Karl May Museum, 2023

Was fängt man nun an, mit diesem Autoren, seinem Werk und seiner Wirkung, an denen sich in Zeiten der kritischen Aufarbeitung eurozentrischer Sichten nicht ohne Weiteres vorbeischummeln lässt? Ausstellungen, Magazine und assoziative Blogartikel wie dieser sind schon Teil der Auseinandersetzung; sie sind Ergebnis und Reaktion auf akademische Analysen wie die im Rahmen des Symposium „ Kulturelle Repräsentationen im Werk Karl Mays im Brennpunkt aktueller Diskurse“, das die Karl-May-Stiftung, die Karl-May-Gesellschaft und die Universität Potsdam veranstalteten. Ausgehend wohl zunächst von den reichweitenstärkeren Geschichten um Winnetou und Old Shatterhand und den Sichten auf die indigene Bevölkerung Nordamerikas, anwendbar aber auch auf die „Orient“-Bücher, wurde dabei ein Positionspapier erarbeitet: Karl Mays Werk wird bescheinigt, geeignet zu sein für die „kritische Reflexion kolonialer Muster“ und ein „besonderes didaktisches Potenzial“ zu haben. Und es wird gewarnt, „historisch gewachsene Elemente der Kultur mittels einer rückwirkenden Umbewertung aus dem öffentlichen Diskurs oder dem Bildungssystem auszuschließen“.

Karl May Museum, Garten, 2023
Karl May Museum, Garten, 2023

Vorläufiger Konsens scheint zu sein, was auch die Museumsbroschüre Karl May bescheinigt, dass ohne ihn „die literarische Welt nicht nur ärmer an ,positiven Bildern des Fremden’, sondern auch an „Möglichkeiten und Perspektiven einer transkulturellen Begegnung und aktiven Dekolonisierung“ sei. Ein entschiedenes Sowohl-als-auch also… Nun würde wohl auch niemand von der Karl-May-Stiftung oder der Karl-May-Gesellschaft, engstens verbunden mit dem kommerziell agierenden Karl-May-Verlag, andere Positionen erwarten – wer aber Karl Mays 100 Jahre später noch kolportierte Weltsicht, die die (damalige) Weltsicht des globalen Nordens spiegelt, kritisch sieht, wird sich fragen, wie das didaktische Potenzial wohl konkret und umfassend geschöpft werden soll. Ein Vorschlag: Setzt einen Disclaimer auf das Vorsatzblatt jedes „Orient“-Buches, mit diesem Zitat aus Mays Spätwerk:

Das Morgenland hat dem Abendlande geistig so viel, so viel geliehen, was dieses ihm mit Zinsen zurückzuerstatten hat. Wir werden noch lange, lange seine Schuldner sein.
Karl May, Himmelsgedanken, 1900

Dafür, dass Karl May Hochstapler, Betrüger und Fantast genannt wurde, ist er in Museen, Magazinen, Konferenzen, der diskussionsfreudigen Öffentlichkeit weiter erstaunlich präsent – er hätte sich sicher über soviel Aufmerksamkeit gefreut. So viel Ehre für den Erzähler aus dem sächsischen Ernstthal, den respektlosen Sampler und König des Kolportage-Romans. Der, wie man liest, auch ein zugewandter und offener Mensch war, mit Freude an der Verkleidung und großzügigen Lebenseinstellungen, z. B. dem schwulen Künstlerfreund Sascha Schneider gegenüber. Am Ende meiner Recherche ist mir Karl May durchaus sympathisch geworden: Auf einer alten Fotografie so stolz posierend, vor einem gemalten Hintergrund mit Palmenblatt, kostümiert mit einer Art Turban, einer Art Janitscharensäbel, einer Art arabischem weißen Umhang, dazu aber eine Bärenzahnkette – eine Fusion von Osten und Westen. Die sind in seiner Biografie immer wieder aufeinandergetroffen, sogar direkt an seinem Grab: In den 1920ern begingen dort auf Einladung seiner Witwe echte „Indianer“ den Todestag von Karl May. Sein Grabmahl ist ein unechter Tempel, in architektonischer Anlehnung an den Athener Nike-Tempel, eines der behaupteten edlen antiken Fundamente des Abendland, in der Vergangenheit auch mal Teil des Osmanischen Reichs. Auch wenn Kara Ben Nemsi auf seinen (archäologischen) Reisen wohl nicht in diese Gebiete vordrang, ist der Tempel bewusst oder unbewusst Mays letzter Verweis auf die Verbindungen von Orient und Okzident.

Grab von Karl May, 2023
Grab von Karl May, 2023

Zum Weiterlesen:
Karl Mays Orient. Magazin des Karl May Museums, 03/
2022

Illustrationen aus Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Illustrierte Reiseerzählung. Verlag Fehsenfeld, 1907