Antroposen in Istanbul

An einem regnerischen Novemberfreitag besucht der UNO-Generalsekretär die Istanbul-Biennale 2019. António Guterres und seine Entourage – Berater und Referentinnen in Businesskleidung, Personenschützer, Offizielle, die Presse – wehen durch die Ausstellungsräume, der Zeitplan scheint straff zu sein, es gibt ja noch viel anderes zu tun auf dieser Welt. Thematisch prägend für diese Biennale ist das Anthropozän, auf Türkisch antroposen, das gerade ausgerufene Erdzeitalter, in dem der Mensch ganz offiziell zu einem der wichtigsten – zerstörerischen – Einflussfaktoren biologischer, geologischer, atmosphärischer Prozesse auf dieser Welt geworden ist. Wenn ich mich auch frage, wie viele der künstlerischen Arbeiten die viel beschäftigten UN-Entscheider wohl haben nachdenklich werden lassen, sind doch die Megalopole Istanbul und diese Biennale die richtigen Orte, über den Zustand dieser Welt nachzudenken, auf diese Welt zuschauen: Istanbul als Brennglas, als reale Versuchsanordnung für das Anthropozän, als Zeitrafferaufnahme.

Bosporus, Istanbul 2019
Bosporus, Istanbul 2019

Mit der Fähre war ich von der asiatischen Seite Istanbuls gekommen, von Asien nach Europa, über das Meer, über den Bosporus. Der Bosporus, begleitet von verstopften Straßen, eingefasst von Betonmauern, inzwischen drei Brücken darüber, Tunnel darunter, unentwegt befahren von Fähren, Kreuzfahrt- und Containerschiffen, voller sichtbarer Plastikabfälle. Das Motto dieser Biennale, „Der Siebte Kontinent“, nimmt ganz konkret Bezug auf das Meer und meint die kontinentgroße Fläche globalen Plastikmülls, die in der Mitte des Pazifik treibt. Das Wasser, die Ozeane, wichtiger Quell des Lebens und gerade im Anthropozän im Fokus: Wegen des Ansteigens des Meeresspiegels, des Artensterbens im Meer, der Erwärmung der Meere, der Veränderung von Meeresströmungen – in Istanbul, der rasant wachsenden Megalopole am Wasser, der Stadt, durch die das Meer fließt, wird mich das Thema der Biennale auf meinen Wegen durch die Stadt ganz real begleiten.

Istanbul 2019
Istanbul 2019

Ursprünglich sollte der Hauptteil der Biennale am Goldenen Horn gezeigt werden, in den historischen Werften der osmanischen Marine, Tersane-i Amire. Die Entwicklung des Goldenen Horns der letzten Jahrzehnte erscheint wie ein anthropozänes Best-Practice-Beispiel: Bis in die 1980er war das Wasser des Meeresarms industriell verseucht, eine stinkende tote Kloake, liest man. Wohl weil der urbane Wert dieser Wasserfläche mitten in der Stadt erkannt wurde, begann man unter dem damaligen Istanbuler Bürgermeister Recep Tayyip Erdoğan mit der Verlagerung der letzten Industrieanlagen, baggerte das Gewässer aus, beseitigte Barrieren, die den Wasseraustausch behinderten, und pumpt seitdem über kilometerlange Leitungen frisches Meerwasser oben hinein. Die Wasserqualität hat sich seitdem so deutlich verbessert, dass der Standort für Immobilienentwickler attraktiv geworden ist. Die das Goldene Horn umgebenden Stadtviertel ziehen solventere Mieter und Käufer an, Luxusimmobilien entstehen. Unter anderem in den historischen Werften: Weil aber bei den aktuell dort stattfindenden Sanierungsarbeiten Asbest gefunden wurde – seit Jahrhunderten im Einsatz, mit dem massenweisen Einsatz im Industriezeitalter erst zum Gefahrstoff geworden – konnte die Biennale dort nicht stattfinden.

Istanbul Museum of Painting and Sculpture, 2019
Istanbul Museum of Painting and Sculpture, 2019

Ein noch nicht ganz fertiges fünfstöckiges Riesengebäude am Bosporus: Ganz kurzfristig also wurde der Hauptteil der Biennale hierher verlegt. 2020 wird hier das Istanbul Museum of Painting and Sculpture eröffnet werden; das preisgekrönte Architekturbüro von Emre Arolat baut dafür die Architektur eines bereits bestehenden Gebäudes im Auftrag der Mimar Sinan Fine Arts University um. Im Projekttext zum Umbau wird zwar gesagt, die ursprüngliche Gridfassade des Architekten Sedat Hakki Eldem nimmt Bezug auf Elemente der türkischen Architektur – mir scheint die neue Fassade allerdings eher nicht aus einer lokalen Architektur zu erwachsen, sondern ein weiteres Beispiel globalisierter Beton-Gridarchitektur zu sein. Es werden zur Eröffnung des Museum 2020 grandiose Ausblicke auf den Bosporus und die historische Altstadt mit dem Topkapı-Palast und den Moscheen versprochen – die gab es für die Biennale-Besucher*innen schon heute vorab, und dazu noch interessante Einblicke in die gewaltigen Baumaßnahmen um das künftige Museum. Hier passiert genau das, was die Biennale-Künstler*innen zum Thema machen: Der Mensch greift mit Begradigung, Beton, Baulärm tief in seine Umwelt ein. Mehrstöckig in die Tiefe gehen Baugruben, eine gewaltige Betonmauer hält den dahinter fließenden Bosporus zurück, Kräne drehen sich, Fahrmischer transportieren Frischbeton auf die Baustelle.

Istanbul 2019
Istanbul 2019

Da wird in bester Lage am Bosporus gebaut, aufgewertet und verdichtet. Das Istanbul Modern soll eines Tages in eines der neu entstehenden Gebäude einziehen. Eine Art Museumsufer also wird entstehen – anders als das in Frankfurt aber wohl vor allem in privater Hand. Das Istanbul Modern ist eine Privatgründung der milliardenschweren Eczacıbaşı Holding, und sicher wäre es auch interessant, die Eigentumsverhältnisse beim Bildermuseum zu kennen: Dass die Biennale dort vorab zu Gast ist, deutet auf eine Verbindung zur noch mehr Milliarden schweren Koç Holding hin. Die Koç Holding ist seit 2007 und noch bis 2026 Hauptsponsor der Istanbul Biennale. Mit 85.000 Mitarbeiter*innen weltweit und fast 30 Milliarden Umsatz ist die Holding in vielen stark umweltrelevanten Gebieten aktiv, im Automobilbau in Joint Ventures mit deutschen Autokonzernen, bei Finanzdienstleistungen, Haushaltsgeräten, im Energie- und Tourismussektor, im Baugewerbe.

Plane the land to pick up speed
Tame the water to gather force
Manufacture flat concrete.
(Feral Atlas Collective)

Eine fast überwältigende Fülle künstlerischer Arbeiten wird am Bosporus gezeigt, 38 auf vier Etagen, neben vierzehn weiteren im Pera-Museum in Beyoğlu und fünf auf Büyükada, einer der Prinzeninseln. Mit Pfeilen wird Besuchern ein Parcours empfohlen – die Installation von Feral Atlas Collective an Position 6 hätte gut auch erster, inhaltlich-dokumentarischer Ausgangspunkt zum großen Thema Anthropozän sein können. Feral hat im deutschen einige Bedeutungen, wild, ungezähmt, aber auch brutal, tödlich und düster. Feral Atlas ist ein „transdisziplinäres Experiment in der Kunst, schreckliche Geschichten zu erzählen“, steht an einer der Ausstellungswände, auf jeden Fall eine beeindruckende, sehr konkrete, aber auch poetische Installation harter, schmerzlicher Umweltfakten. Für Feral Atlas untersuchen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Humanist*innen das menschengemachte Erdzeitalter und erzählen künstlerisch-wissenschaftliche Geschichten unserer Umwelt: der erste Raum als Entrée, dunkel, Tieren und Pflanzen an die Wände projiziert, Videos, die den Mensch bei der (brutalen) Gestaltung seiner Umwelt zeigen, lakonische Lyrik darunter. Field reports beschreiben in den Folgeräumen Orte überall auf der Welt, an denen Umweltprozesse durch menschliches Handeln ausgelöst wurden und außer Kontrolle geraten.

Disciplined organisms
Disciplined labor
Disciplined machines.
Undisciplined toxins
Undisciplined pests
Undisciplined plagues.
Grid.
(Feral Atlas Collective)

Marmarameer, Istanbul 2019
Marmarameer, Istanbul 2019

Am Tag zuvor war ich mit der Fähre von Kadıköy nach Büyükada gefahren, am Fährhafen trieben unzählige Quallen im Wasser. Feral Atlas thematisiert die Zunahme der Quallenpopulationen weltweit: Betonstrukturen, zum Beispiel Hafeneinfassungen und die Sockel der Windräder im Meer, bieten immer neue, ideal passende Brutplätze für Quallenpolypen. Quallen überleben besser als andere Meereslebewesen in zunehmend wärmeren, sauerstoffarmen Gewässern, nehmen den Lebensraum anderer Meerestiere ein. Inzwischen werden sie weltweit zur Gefahr für Kraftwerke, legen sie lahm, wenn sie massenhaft in deren Kühlsysteme gelangen. Über die Quallen und Fische rattert die Fähre, an schweren Containerschiffen in der Ferne vorbei, und „There is no escaping underwater noise“: Der Atlas beschreibt auch, wie die Geräusche der Schiffsschrauben des internationalen Seehandels Lärmstress im Meer erzeugen, zum Beispiel die Paarungsrituale der Orcas stören. „Dünyada Çok Meşhur Bir Klima“, „Eine auf der ganzen Welt berühmte Klimaanlage“ wird am Ufer einer der Inseln geworben. klima heißt die Klimaanlage auf türkisch, und ist eng verbunden mit iklim, dem Klima.

Installation von Charles Averys, Pera-Museum, Istanbul 2019
Installation von Charles Averys, Pera-Museum, Istanbul 2019

„Inseln haben in der menschlichen Vorstellungskraft lange als Symbole für Alterität, Isolation und Utopie fort bestanden“ schreibt der Biennale-Guide über Charles Averys Installation im Pera-Museum, eine fiktionale Insel, die allerdings keiner begrünten Utopie mehr entspricht, technoid, stählern, gläsern, künstlich ist. Die Prinzeninseln im Marmarameer vor Istanbul allerdings bedienen weiter den Wunsch nach Utopien, raus aus der Stadt, dem Moloch voller Autos, des Konsums, des ewigen Bauens und Wachsens. Schon traditionell waren die Inseln begrünte Sommerfrische der Istanbuler, für die, die es sich leisten konnten, mit den finanziellen Erträgen aus den Handels- und Produktionsplätzen dieser Welt, weitab von der Industrie, den großen Häfen, dem verarbeitenden Gewerbe. Das Ausblenden der Millionenstadt gelingt an diesem nebligen Herbsttag zunächst ganz einfach – bis sich der Nebel auflöst und der Blick frei wird auf die Ufer Europas und Asiens, an denen Istanbul weiterwächst, mit Hochhaussiedlungen, sich ausbreitenden Infrastrukturen, Bahnlinien, Abwasserkanälen, Straßen. Auf der größten Prinzeninsel, dem Biennale-Standort Büyükada, gibt es zwar Straßen, die Insel ist aber weitgehend autofrei, fortbewegt wird sich mit Elektrodreirädern, Fahrrädern und Pferdekutschen.

Büyükada, die große Prinzeninsel, 2019
Büyükada, die große Prinzeninsel, 2019

Those who,
first saw their reflections
in still waters, and then in mirrors,
fell under the spell of doing.
They became by doing.
And in this way
their traces were left
on everything
they laid their eyes on
(Hale Tenger)

In einem verwunschenen, mit Grün zugewucherten Garten vor einer verfallenen Villa in der traditionellen Holzbauweise zeigt Hale Tenger ihre Installation Suret, Zuhur, Tezahür / Appearance. Vor dem ehemaligen Palast von Sophronios III., 1863 bis 1866 orthodoxer Patriarch von Konstantinopel, stehen im Grün schwarze Spiegel aus Obsidian, einem Gesteinsglas. Eine Flüsterstimme zitiert Hale Tengers Poem Appearance auf englisch und türkisch, spricht poetisch über die Manipulation von Bäumen, den traditionellen Rindenschnitt zur Ertragssteigerung bei Obstbäumen. Eine Metapher für die unentwegten, optimierenden Eingriffe des Menschen in seine Umwelt. In diesem Garten, ruhig, weit weg von den sicht- und hörbaren Geräuschen des optimierenden Menschen fragt man sich mit Hale Tenger: „Now tell me, can you be by not doing? Söyle şimdi bana, Yapmadan olabilir misin?“

Hale Tenger, Suret, Zuhur, Tezahür / Appearance, Büyükada, 2019
Hale Tenger, Suret, Zuhur, Tezahür / Appearance, Büyükada, 2019

Nur ein paar stille Straßen weiter – nichts ist hier mega oder unruhig, nur die Pferde vor den Kutschen scheuen manchmal – steht eine prächtige Villa an der hohen Uferkante. Vom Gelben Haus Sarı Ev des Anadolu Kulübü, einer Villa im viktorianisch-kolonialen Stil, hat man einen grandiosen baumumrahmten Blick auf das Marmarameer. Früher ein Yachtklub, seit den 1930er der Anadolu Kulübü, ist das Haus für diese Biennale ein Ausstellungsort. Man begegnet wie an allen fünf Stationen denselben Menschen: Einige urbane Türk*innen aus der Stadt, viele eingeflogene europäische Kunstbesucher*innen, man hört französisch, niederländisch, englisch. Hier wird eher nicht antroposen gesagt, sondern Anthropocene, gelegentlich hinterfragt: Ist dieses Werk jetzt anthropomorph oder Anthropozän oder beides? Im Erdgeschoss zeigen Armin Linke, Giulia Bruno und Giuseppe Ielasi die Videodokumentationen und Dokumente ihrer Arbeit Prospecting Oceans. Prospecting Oceans dokumentiert die Vermessung der Ressourcen der Meere, beschreibt das Netzwerk aus Industrie, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft bei der Ausbeutung der Ozeane. So versucht UNCLO, die United Nation Convention of the Law of the Seas den Schiffsverkehr auf, Fischerei und Abbaurechte unter der Meeresoberfläche zu regeln – ein kompliziertes Regelwerk, basierend auch auf überkommenen Prinzipien kolonialer Seerechte, ständig verletzt und herausgefordert, aktuell vor allem durch verbesserte Methoden der geologischen Ortung und des Abbaus von Rohstoffen auf dem Meeresboden.

Marmarameer, 2019
Marmarameer, 2019

Mit dem Blick auf den Bosporus in der Ferne besonders interessant sind die thematisch verbundenen Ausstellungsvitrinen zur historischen Erforschung des Bosporus, zusammengestellt von und mit Emin Özsoy, Professor an der Technischen Universität Istanbul. Özsoy hat das Marsigli-Archiv in Bologna ausgewertet: Luigi Ferdinando Marsigli (1658–1730) war ein Gelehrter aus Bologna, gilt als einer der Gründer der modernen Ozeanologie und hat die Strömungen des Bosporus erforscht. Texte, Karten und Abbildungen von Marsiglis Zeichnungen erzählen von den zwei verschiedenen Strömungen des Bosporus: die oberflächennahe fließt von Nord, Nordost nach Süd, Südwest und transportiert Wasser vom Schwarzen Meer ins Marmarameer und weiter, in der Gegenrichtung fließt in der Tiefe salzhaltigeres Wasser Richtung Schwarzes Meer. Von Marsigli im 17. Jahrhundert mit Messungen und Experimenten entdeckt, erst 1928 von den deutschen Meereskundlern Alfred Merz und Lotte Möller, der ersten Professorin für Ozeanographie in Deutschland, bestätigt.

Jonathas de Andrade, O Peixe, The Fish, 2019
Jonathas de Andrade, O Peixe, The Fish, 2019

Marsigli beschrieb zu seiner Zeit noch die motto di pesci, den Fischkreislauf zwischen Schwarzem und Marmarameer. Strömungen trieben Fisch durch den Bosporus, ins Goldene Horn. Der Fischreichtum in den Wassern vor Istanbul ist legendär, einer der Gründe warum sich Menschen überhaupt an dieser Stelle ansiedelten. Im Gelben Haus werden auch Bücher über die Geschichte der Fischerei am Bosporus, z. B. ein Fotoband von Ara Güler über die armenischen Fischer von Kumkapı gezeigt. Nun ist Kumkapı heute immer noch voller Fischrestaurants, der Fischmarkt am Goldenen Horn voller Fische – die werden allerdings von immer weiter her eingeführt. Die Meereserwärmung verändert die motto di pesci: Sie sorgt generell für sauerstoffärmeres Wasser, das heißt weniger Lebensraum für Fische. Besonders im Schwarzen Meer, das nur durch den Bosporus mit den kühleren Weltmeeren verbunden ist, gibt es immer weniger Fisch, der seinen Weg über den Bosporus nehmen könnte. Wasserverschmutzung, Überfischung, Schiffsschraubenlärm tun ein Übriges: Eine alte Zeichnung von Marsigli zeigt Teke Karidesi, eine Garnelenart, die es bis zum Ende des letzten Jahrhunderts massenhaft im Marmarameer gab, und die heute praktisch nicht mehr vorkommt. Eine andere den Istakoz, eine Hummerart, die bis in die 1970er im Bosporus und am Marmarameer vorkam und heute ebenfalls verschwunden ist. Die Mittelmeer-Mönchsrobbe, auf Türkisch auch ayı balığı genannt, der Bärenfisch, von der eine etwas ungelenke Zeichnung Marsiglis gezeigt wird, war früher in allen Meeren der Region zuhause – heute leben nur noch ca. 300 Exemplare bei Izmir. Wieder zurück am Hauptausstellungsort denke ich an die Fische im Bosporus als ich O Peixe, The Fish von Jonathas de Andrade sehe, eine Arbeit zu indigenen Ritualen von Fischern in Brasilien, die in Videos große Karpfen einzeln in den Armen halten und küssen, bis sie aufhören zu atmen.

Kadıköy 2019
Kadıköy 2019

Zurück nach Berlin geht es nicht auf dem Wasserweg, sondern erstmal auf Straßen. Vom Fährhafen in Kadıköy fährt mein Bus durch die wuchernden Neubaugebiete auf der asiatischen Seite. Wie in ganz Istanbul werden auch dort die älteren Häuser in rasender Geschwindigkeit durch Wohnhochhäuser ersetzt, für eine Bevölkerung von inzwischen 16 Millionen. Dazwischen immer wieder Rieseneinkaufszentren, futuristisch oder auch mal neoosmanisch, und Riesenmoscheen vor allem im typischen Istanbuler Stil. Alles verbunden über ein Netz von Schnellstraßenschneisen, immer weiter optimiert, für die Metrobusse mit eigener Spur, mehrspurig für die unzähligen Autos. Auf der Biennale thematisierte zum Beispiel Deniz Aktaş mit No Man’s Land – großformatige Zeichnungen von Bergen aus Autoreifen – die „traumatische Transformation der Städte und der Natur“, den „Kollaps der Umwelt“.

Es wird kurz waldgrün bei Ümraniye, bevor der Bus über die zweite Bosporus-Brücke, die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke, auf die europäische Seite fährt. An den Rändern der bisherigen Stadt passiert der Bus noch das riesige Türk Telekom Stadyumu, ein Raumschiff für den Fußballklub Galatasaray und für große Konzerte. Gleich daneben Vadistanbul, ein aus dem Boden gestampftes Wohnviertel, das sich um ein gewaltiges Einkaufszentrum gruppiert – Einkaufen, Fußball, Konzerte, für Ablenkung soll gesorgt sein. Auf der Biennale ließ Simon Fujiwara, ein in Berlin lebender britischer Künstler, über Unterhaltung und Ablenkung nachdenken: It’s a Small World / Dünya Çok Küçük, ist ein grandioser, surrealer Mix aus Artefakten eines Istanbulers Vergnügungsparks und Modellbauten des so genannten täglichen Lebens, Slum, Fabrik, Gefängnis, Kraftwerk, Bordell, Friedhof, Museum usw. – das alles untermalt von einer irren Rummelplatzmusik.

Simon Fujiwara, It’s a Small World / Dünya Çok Küçük, Istanbul 2019
Simon Fujiwara, It’s a Small World / Dünya Çok Küçük, Istanbul 2019

Wenn es nun waldiger wird, sind doch irgendwo immer Hochhäuser am Horizont zu sehen. Wenn wir auch durch den Wald fahren, wird der doch überspannt von Stromleitungen, ist Sichtschutz für riesige Steinabbaugebiete und große Militärlager. Vier Spuren in jede Richtung führt die Autobahn zum neuen Flughafen. Es ist viel geschrieben worden über die 13 Millionen Bäume, die für den Flughafenbau gefällt und die Schneisen, die durch einigermaßen unberührte Natur dafür geschlagen wurden. Ozan Atalans Biennale-Installation Monochrome / Monokrom liefert berührende Bilder dazu: Neben einem Skelett eines Tieres auf einem Betonpodest sind auf zwei Bildschirmen Wasserbüffel zu sehen, die wie orientierungslos über Mondlandschaften ziehen, umgepflügten Waldboden, sandige Baustellen – durch die Eingriffe des Menschen vertrieben aus ihren angestammten Lebensräumen.

Ozan Atalan, Monochrome / Monokrom, Istanbul 2019
Ozan Atalan, Monochrome / Monokrom, Istanbul 2019

Ach ja, und ganz unvermittelt waren wir ja noch an einer Regenbogenskulptur auf dem Dach irgendeines Hauses vorbeigerauscht. Die Skulptur von Ugo Rondinone wurde vor 20 Jahren, zur Biennale 1999, auf dem Taksim-Platz gezeigt. Nach Stationen in der Stadt grüßt sie nun am Eingang der zweiten Bosporusbrücke auf der europäischen Seite mit einer kurzen Frage: „Where do we go from here?“