Arkitekt, bau auf, bau Haus: Neues Bauen in der jungen Türkei (Teil II/II)

1919–1933 | ab 1933

Atatürks Reform der türkischen Universitäten fiel 1933 zeitlich zusammen mit der Machtergreifung der Nazis in Deutschland – und profitierte davon, wie zu sehen sein wird. Nach Gängelungen und Repressalien der Nationalsozialisten erst in Dessau, danach in Berlin, löste sich das Bauhaus 14 Jahre nach seiner Gründung 1933 auf. Auch wenn der Umgang der Nationalsozialisten mit dem Bauhaus-Erbe zunächst ambivalent war (s. welt.de), stufte die Nazipropaganda es schließlich als jüdisch-bolschewistisch und auch sonst nicht der neuen Staatsdoktrin entsprechend ein. In den Jahren nach 1933 wurden Aufträge für die Architekten weniger, die nicht im Nazi-Monumentalstil bauen konnten oder wollten; das gesellschaftliche Klima war zunehmend von Angst und Verfolgung geprägt. Die bekanntesten Bauhäusler gingen bis 1937/38 in die USA, u. a. Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe.

Atatürk stand den faschistischen Diktaturen deutlich reserviert gegenüber; verfolgte, vertriebene und arbeitslose deutschsprachige Architekten, Wissenschaftler und Künstler waren eingeladen, in die Türkei zu kommen bzw. dauerhaft in der Türkei weiterzuarbeiten. Das war natürlich einerseits das Angebot, Zuflucht zu finden, andererseits und vor allem aber wurden sie für den Aufbau eines modernen türkischen Hochschulwesens auch dringend gebraucht. Deutschsprachige Emigrant*innen sollten so in den nächsten Jahren und Jahrzehnten das türkische Hochschulwesen und die türkische Architektur mitgestalten helfen. So lebten zum Beispiel Ernst Reuter, später Regierender Bürgermeister von Berlin, und der Komponist Paul Hindemith ab 1935 in der Türkei. Eduard Zuckmayer, Musikpädagoge, Übersetzer der türkischen Nationalhymne ins Deutsch, kam 1936 und blieb bis zu seinem Tod 1972 in Ankara, dann einer der führenden Musikwissenschaftler der Türkei. Der Bildhauer Rudolf Belling, dessen Kunst in Deutschland als entartet diffamiert wurde, kam 1937; seine Statue des zweiten türkischen Präsidenten Inönü steht seit 1944 vor der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Ankara.

Vertrauens- und Sicherheitsdenkmal, Relief von Josef Thorak, Ankara 1934/35
Vertrauens- und Sicherheitsdenkmal, Relief von Josef Thorak, Ankara 1934/35

Es gab die verzweigten alten Verbindungen der Türkei vor allem nach Deutschland – trotz Atatürks reservierter Haltung bestanden diplomatische Beziehungen mit Hitlerdeutschland natürlich weiter, gerade auch, weil die Türkei bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs neutral war. Das alles führte zu einem Nebeneinander, manchmal auch Miteinander von Deutschen in Ankara: denen, die dem deutschen Regime wohlgesonnen waren, und solchen, die ihm ablehnend gegenüberstanden (ausführlich auf bpb.de). Der Status der deutschsprachigen Türkei-Emigranten nach 1933, ihre politische Orientierung, war oft ambivalent: Der vielbeschäftigte Clemens Holzmeister, ab 1938 in der Türkei, gründete noch 1933 den „Neuen Werkbund Österreichs“, der „eine neue Verbindung zwischen Tradition, Patriotismus und Moderne anstrebte“ und die Nähe zur konservativen, später diktatorischen österreichischen Regierung suchte (www.wienerzeitung.de, 23.2.2019). 1934 bis 1935 plante Holzmeister zusammen mit dem Bildhauer Joseph Thorak das Vertrauens- und Sicherheitsdenkmal in Ankara – Thoraks Plastiken an der Rückseite sehen aus wie eine Bewerbung für seine Mitarbeit am Berliner Olympiastadion 1936, wie eine Empfehlung für den Titel des NS-Staatskünstlers, der er bis 1945 war. Oft wird auch der Architekt Paul Bonatz bei den in der Türkei Zuflucht Suchenden und Arbeit Findenden genannt: Allerdings war er, bis er 1943 trotz Aufforderung nicht nach Deutschland aus der Türkei zurückkehrte, unter anderem für die NS-Bautruppe Organisation Todt und für Albert Speer tätig. „Brückenbauer“ wird Bonatz genannt, vielleicht empfahl ihn seine Mitarbeit an der NS-Zeitschrift Die Strasse, in der 1941 auch ein Artikel „Türkische Straßen einst und jetzt“ erschienen war.

Ankara Üniversitesi Dil ve Tarih-Coğrafya Fakültesi (Sprache, Geschichte, Geografie), Architekt: Bruno Taut, Ankara 1940
Ankara Üniversitesi Dil ve Tarih-Coğrafya Fakültesi (Sprache, Geschichte, Geografie), Architekt: Bruno Taut, Ankara 1940

Seit Ende der 1930 versteckt sich ein Art türkischer köşk, aber auch eine Art japanischer Pagode, rot, auf hohen Betonsäulen, im Grün des europäischen Ufers hinter der ersten Bosporus-Brücke – an Bruno Tauts Wohnhaus im Istanbuler Stadtteil Ortaköy kann man durchaus die letzten beiden Stationen seines Lebens ablesen: Taut hatte Deutschland 1933 verlassen; er lebte in Japan, ohne dort bauen zu können, als ihn 1936 der Ruf der türkischen Regierung erreichte. Ein Nachfolger als Leiter der Architekturfakultät der Istanbuler Akademie der schönen Künste, heute die Mimar-Sinan-Universität, wurde gesucht: Eigentlich sollte dem Amtsinhaber Ernst Egli der deutsche Architekt Hans Poelzig folgen, der aber vor Amtsantritt unerwartet starb. Bruno Taut kam am 10. November 1936 in der Türkei an; für die türkischen Behörden war er „heimatlos/haymatlos“, wie die Ausstellung auf englisch und türkisch schreibt. [Das Wort haymatlos wird im Türkischen seit der deutschen Emigration in den 1930ern benutzt.] Bruno Taut sollte nur zwei Jahre in der Türkei arbeiten können, bis zu seinem Tod 1938 – in dieser kurzen Zeit würde er einerseits in der (türkischen) Architekturtheorie, andererseits mit von ihm verantworteten und entworfenen Bauten wesentliche Impulse setzen.

Neben seinem Amt als Leiter der Architekturfakultät wurde Taut auch die Leitung des „Baubüros für Schul- und Universitätsbau“ des Landes übertragen, das im türkischen Unterrichtsministerium angesiedelt war. Die türkische Universitätsreform war 1933 auf den Weg gebracht worden, nicht nur um die Vermittlung von Wissen zu modernisieren, sondern auch um über die Architektur neuer Schul- und Universitätsgebäude im Land eine „kultivierte“ neue Generation zu formen: „Faculties of Literature and Fine Arts are not the sources of only dry information, but their duties were to cultivate fine-spirited humanist people“, wie auf einer Ausstellungstafel zu lesen ist. Taut sollte, zusammen mit seinem alten Berliner Team Franz Hillinger, Wilhelm Schütte, Margarete Schütte-Lihotzky, Konrad Ruhl und Hans Grimm, in der Kürze der Zeit seine Bauten oft nur auf den Weg bringen können, viele wurden erst nach seinem Tod vollendet. Schulgebäude wurden nach Tauts Entwürfen im ganzen Land geplant und gebaut, zum Beispiel das Jungen-Gymnasium und das naturwissenschaftliche Gymnasium in Trabzon1937/38, in Ankara das Atatürk-Gymnasium und die Kurtuluş-Mittelschule, beide zusammen mit Asım Kömürcüoğlu geplant, sowie die Mittelschule Cebeci, die zum Vorbild vieler Schulbauten im ganzen Land wurde. In Izmir wird 1938 der erste Bauabschnitt der Mädchenschule realisiert und der, ebenfalls erst nach Tauts Tod fertiggestellte, Kültür Pavyonu, der Kulturpavillon auf dem Messegelände im Kulturpark. Heute ist dieses Gebäude Geschichts- und Kunstmuseum, die originalen Strukturen werden verdeckt durch An- und Umbauten. Taut nahm bei den Entwürfen wohl Bezug auf seinen Messe-Ausstellungspavillon für das Berliner Verkaufskontor für Stahlträger von 1910. Mit seinen großen Fensterfronten, dem Einsatz von Stahl, den geraden Linien kam dieser Pavillon einem „Bauhaus-Bau“ sehr nahe (historische Abbildungen des Pavillons und weiterer Gebäude im Kulturpark).

Ankara Üniversitesi Dil ve Tarih-Coğrafya Fakültesi (Sprache, Geschichte, Geografie), Architekt: Bruno Taut, Ankara 1940
Ankara Üniversitesi Dil ve Tarih-Coğrafya Fakültesi (Sprache, Geschichte, Geografie), Architekt: Bruno Taut, Ankara 1940

Direkt am Atatürk-Boulevard in Ankara, der viel befahrenen Magistrale zwischen Ulus, dem republikanischen Zentrum der frühen Jahre und Kızılay, dem später entstandenen Nachfolger, steht Tauts wohl prominentestes, sichtbarstes, größtes Werk in der Türkei, ein stolzes Symbol für den Wert humanistischer Bildung zu Atatürks Zeiten: die Ankara Üniversitesi Dil ve Tarih-Coğrafya Fakültesi, die Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie der Universität Ankara. „Hayatta En Hakiki Mürşit İlimdir“ steht in großen Lettern an der – durchaus „austere and heavy-looking“ aussehenden – Fassade aus dunklem lokalem Stein: „Der wahrste Mentor im Leben ist die Wissenschaft.“, ein Atatürk-Zitat, natürlich. Im Innern des Gebäudes wird es spielerischer: Tauts Freude an der Farbe zeigt sich an türkisfarbenen Fliesenbändern, Zitat osmanischer Ornamentik auch, geschwungenen Treppenaufgängen, spiralförmig gewundenen Treppengeländern und Kugelleuchten. Auch dieses Gebäude hat Taut selbst nie betreten; es wurde 1940 eröffnet, vollendet von Franz Hillinger, auf der Basis von 300 nachgelassenen Zeichnungen Tauts.

„Weit davon entfernt, in seinen Gastländern als Heilsbringer der Architektur-Moderne aufzutreten, beschäftigte er sich stattdessen sorgfältig und lernend mit deren Baukunst.“
Deutschlandfunk Kultur

Wurden öffentliche Gebäude in Ankara und der Türkei der 1930er ausschließlich von Architekten aus dem deutschsprachigen Raum gebaut? Ausschließlich nicht, einige Bauten stehen für das Wirken türkischer Architekten in dieser Zeit: Seyfi Arkan zum Beispiel ist der Architekt des 1935 eröffneten Gebäudes der İller Bank. Dieses Paradebeispiel der türkischen Neuen Architektur in Ankara wurde gerade abgerissen, um offene Sichtachsen auf die neu erbaute Melike Hatun Camii zu haben, eine Moschee im Istanbuler Hagia-Sophia-Mimar-Sinan-Stil. Seyfi Arkan entwarf auch die Istanbuler Atatürk-Seevilla Florya, Florya Atatürk Deniz Köşkü, von 1935: Ein „bemerkenswertes Gebäude im Bauhaus-Stil“, wie Wikipedia sagt, mit Referenzen an Corbusier, wie Bozdogan schreibt. 1937 wird als Teil der Stadtentwicklungsmaßnahmen der Bahnhof von Ankara eröffnet, von Şekip Akalın konzipiert im Art Deco-Stil. Die wenigen größeren Beispiele türkischen Modernen Bauens zu dieser Zeit zeigen auch, warum ausländische Architekten mit jahrelanger Erfahrung im Neuen Bauen in der Türkei willkommen waren: Sie sollten nicht nur bauen, sondern ihr Wissen an türkische Studierende weitergeben, den Aufbau einer eigenen Architektengeneration befördern. Als Leiter der Istanbuler Architekturfakultät war Bruno Taut nach Ernst Egli an einer Schaltstelle dieses Vorhabens. In seinen wenigen Jahren in der Türkei gab Taut nicht einfach in Europa erworbene Kenntnisse weiter, sondern entwickelte sie im Dialog und als Ergebnis von Dialogen weiter, z. B. in Bursa, Edirne und Trabzon mit Studenten und Schulangestellten. Die Akademie der schönen Künste, an der er unterrichtete, sollte zwar erst später den Namen von Mimar Sinan erhalten, dem bedeutendsten osmanischen Architekten – Taut, interessiert und offen, schlug schon zu seiner Zeit vor, ein Institut zur Erforschung von Sinans Werk einzurichten. Vermächtnis des Lehrers Taut sollte sein kurz nach seinem Tod erschienenes Werk Mimari Bilgisi werden, übersetzt Architekturlehre und in der Ausstellung auch so mit dem deutschen Wort bezeichnet. In Japan als Architekturüberlegungen begonnen, erweiterte er es auf Wunsch seiner türkischen Arbeitgeber zum Lehrwerk, dem ersten in der Türkei publizierten Werk zur Architekturtheorie überhaupt, Grundlage für die universitäre Ausbildung vieler Architektengenerationen.

„Als Gegenleistung für eine solche Aufgabe, die mir beim Tod eines der Großen unseres Jahrhunderts zugefallen ist, kann ich doch kein Geld nehmen!“
Bruno Taut, 1938

Am 10. November 1938 stirbt Mustafa Kemal Atatürk, entscheidender Impulsgeber für die moderne Türkei und damit auch Förderer der modernen türkischen Architektur. Dass der Deutsche Bruno Taut beauftragt wurde, den Katafalk für die Trauerfeier des Staatsgründers zu entwerfen, zeigt, wie stark das Bestreben der türkischen Führungsschicht zu dieser Zeit war, die Republik weiter Richtung Westen auszurichten. Beim Staatsakt am 20. November 1938 defilierten Tausende von Menschen an Tauts Konstruktion vorbei, in deren Zentrum der Sarg Atatürks platziert war. Alte schwarz-weiß Fotos können nicht zeigen, wie Taut auch bei diesem, seinem letzten Werk überhaupt, farbige Elemente einbrachte: vier grün umrankte Säulen mit Feuerschalen, farbige Rückwände, grüne, blaue und orange Elemente. Taut, obwohl asthmakrank, war von Istanbul nach Ankara gereist, hatte 10 Tage buchstäblich Tag und Nacht am Katafalk gearbeitet. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich danach, er erholte sich nicht mehr und starb wenige Wochen später am 24. Dezember 1938. Sein Grabstein entwarf Arif Hikmet Holtay, in den 1920ern in Stuttgart ausgebildet, Assistent und später Professor an der Architektur-Fakultät in Istanbul. Holtay war u. a. Architekt des 1936 eröffneten modernistischen Observatoriums der Istanbul Üniversitesi (damals geleitet von dem deutschen Astronomen Erwin Finlay-Freundlich) und von Gebäuden, die später dem Internationalen Stil, Uluslararası üslup, zugerechnet wurden. Bruno Taut wurde auf dem Heldenfriedhof İstanbul-Edirnekapı beigesetzt, als bis heute einziger Nicht-Muslim und Ausländer.

Anıtkabir, Architekten: Emin Onat, Orhan Arda, Ankara 1953
Anıtkabir, Architekten: Emin Onat, Orhan Arda, Ankara 1953

Mit Tauts Tod endet dieser Artikel noch nicht ganz: Deutschsprachige Architekten gestalteten die türkische Architekturgeschichte noch weiter mit, Verbindungslinien ziehen sich bis in die Gegenwart. Eine Tafel in der Ausstellung beschreibt, wie 1938 Atatürks Sarg im Katafalk dekoriert war: „The giant Turkish flag over the coffin decorated the coffin like a baldachin“ – zu den hohen Feier- und Gedenktagen der türkischen Republik dekoriert bis heute eine riesige türkische Flagge genau so das Anıtkabir, das Mausoleum für Atatürk in Ankara. Das dominante Anıtkabir, sichtbar auf einem Hügel aus allen Ecken Ankaras, dürfte das augenfälligste Beispiel der Zweiten Nationalen Architekturbewegung, İkinci Ulusal Mimarlık Akımı, sein, deren Beginn auf kurz nach Atatürks Tod, auf die 1940er Jahre datiert wird. Einerseits war diese Strömung geprägt von der monumentalen neoklassizistischen Architektur, wie sie in Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien entstand, andererseits von Elementen traditioneller türkischer Häuser. Es kamen nun mehr türkische Architekten ins Geschäft, die deutschsprachigen spielten jedoch weiter mit. Paul Bonatz, in Deutschland Mitarbeiter von Albert Speer, saß 1942 mit in der Wettbewerbsjury für Atatürks ewiges Mausoleum, zusammen mit Arif Hikmet Holtay, zwei weiteren türkischen, einem schwedischen und einem ungarischen Architekten. Clemens Holzmeisters Entwurf für ein alttürkisches Grabmal wurde nichts ausgewählt; es gewann der neoklassizistische und durchaus tempelartige Entwurf von Emin Onat und Orhan Arda, realisiert bis 1953, dem 15. Todestags Atatürks. Nachdem Paul Bonatz 1943 Deutschland in Richtung Türkei verlassen hatte, wurde er Berater im Türkischen Kulturministerium und von 1946 bis 1955 Professor an der Technischen Universität Istanbul. Er war auch selbst als Architekt tätig, schuf Werke wie 1944–46 die – heute verfallene und verlassene – Siedlung Saraçoğlu. Sie ist ein Paradebeispiel für den Zweiten Nationalstil mit ihren Anlehnungen an das „türkische Haus“, aber auch mit Bezügen auf Gartenstadt und Siedlungsbau in Deutschland (historische Ansichten im Archiv von SALT). 1947/1948 gestaltete Bonatz ein von Şevki Balmumcu in den 1930ern entworfenes Gebäude zum heute noch existierenden Opernhaus von Ankara um.

Generaldirektion der türkischen Zuckerfabriken, Architekt: Paul Bonatz, Ankara 1946
Generaldirektion der türkischen Zuckerfabriken, Architekt: Paul Bonatz, Ankara 1946

1937 schon war per Parlamentsbeschluss ein neues Parlamentsgebäude auf den Weg gebracht worden. Den Architekturwettbewerb, noch unter aktiver Teilnahme Atatürks, gewann Clemens Holzmeisters Entwurf für ein mächtig-wuchtiges Bauwerk, irgendwo zwischen der Yeni Mimari, dem Neuen Architekturstil, und der Zweiten Nationalen Architekturbewegung. Holzmeister war 1938 aus der Wiener Akademie entlassen worden, emigrierte in die Türkei, lehrte dort an der Technischen Hochschule, anerkannt und wirtschaftlich gut gestellt. Das monumentale Gebäude des türkischen Parlament, schwer beschädigt beim Putschversuch vom 15. Juli 2016, steht seit 1963 in der Yenişehir, der Neuen Stadt, Gegenpol zum historischen Zentrum, wo in den frühen Jahren die beiden ersten Parlamentsgebäude osmanisierenden Stils errichtet worden waren.

Cumhurbaşkanlığı Sarayı, Ankara 2014
Cumhurbaşkanlığı Sarayı, Ankara 2014

Mit dem Verlassen der Taut-Ausstellung tauche ich wieder ein in das türkische Baugeschehen von heute: Rings um die Istanbuler Mimar-Sinan-Universität wird gebaut. Und nicht nur dort: Welchen Namen die Epoche der aktuellen türkischen Architektur bekommen werden wird, ob und welche internationalen Architekten ihr einen Stempel aufgedrückt haben werden, werden künftige Historikergenerationen beschreiben. Sicher werden sie dabei ein nach Parlamentsgebäuden und Anıtkabir neues politisches Architektursymbol von Ankara berücksichtigen, den 2014 eröffneten Präsidentschaftspalast, Cumhurbaşkanlığı Sarayı (oder neuerdings osmanisch Külliyesi). Der auch Weißer Palast, Ak Saray, genannte Sitz des Präsidenten, ist mit 1000 Räumen einer der größten der Welt. Seine Architektur nimmt außen Anleihen an seldschukischen Gestaltungsprinzipien, also vorosmanischen, und innen an osmanischen.
Mit Verweis auf den 100. Geburtstag der Türkischen Republik 2023 wird der jungrepublikanische Stadtteil von Ulus umgebaut, auch mit Abrissen in einen eher vormodernen, historisierenden Zustand gebracht. Die Errichtung der großen Melike-Hatun-Moschee im für Ankara allerdings untypischen Hagia-Sophia-Stil passt ins Bild. Gesellschaftliche Symbolbauten sind heute in der Türkei vor allem große Moscheen dieser Art: in Ankara eine weitere direkt neben dem Präsidentenpalast, in Istanbul die erste auf der asiatischen Seite silhouettenbestimmende Moschee und eine weitere, die erste direkt am Taksim in Beyoğlu. Dort ist das Atatürk-Kulturzentrum, ein Beispiel für die türkische Architekturmoderne der 1960er, zwar inzwischen abgerissen, soll aber mit unveränderter Fassade wieder aufgebaut werden.

Pilevneli Gallery, EAA-Emre Arolat Architecture, Istanbul 2017
Pilevneli Gallery, EAA-Emre Arolat Architecture, Istanbul 2017

Bauschilder an den Baustellen rings um die Mimar-Sinan-Universität zeigen, wessen und welche Entwürfe hier realisiert werden. Emre Arolat Architects haben die Luxusgebäude direkt am Bosporus konzipiert, viel Glas, Beton, kubistische Formen. Emre Arolat ist Absolvent der Architekturfakultät der Mimar-Sinan-Universität, Architekt zum Beispiel des rostigen Kubus’ der Pilevneli-Galerie und der so ganz Moschee-untypischen Sancaklar-Moschee, einer geradlinigen Untergrundmoschee aus Beton weit draußen am Rande der Stadt. Auch wenn Arolats Luxuswohnbauten hier am Bosporus nicht gerade die Gartenstadt-Utopien Bruno Tauts weiterdenken (das tun die „einzigartigen Eigentumswohnungen“ im Taut-Haus am Kreuzberger Engelbecken heute auch nicht mehr), schreiben doch auch sie ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Architekturmoderne in der Türkei, vor 100 Jahren begonnen unter maßgeblicher Beteiligung von deutschsprachigen Architekten.

Bauen am Bosporus, Istanbul 2019
Bauen am Bosporus, Istanbul 2019

Teil I: 1919–1933: Wie in den ersten Jahren der Türkischen Republik gebaut wurde, wie deutschsprachige Architekten begannen, das Bauen in der jungen Türkei zu beeinflussen, erzählt der erste Teil des Artikels über Nationale Architekturströmungen in der Türkei und die europäische Architekturmoderne. Zum Artikel

Zum Weiterlesen:
ARCH+ 194: Bruno Taut: Architekturlehre (15.10.2009)
Architecture of Turkey (Wikipedia, Stand 25.05.2019)
Ayhan Bakirdoegen: Das Fenster zum Bosporus (DIE ZEIT, 02/2000)
Sibel Bozdogan: Modernism and Nation Building. Turkish Architectural Culture in the Early Republic (University of Washington Press, 2001)
Exil in der Türkei 1933–1945 (Wikipedia, Stand 18.06.2019)
Das Werden einer Hauptstadt – Spuren deutschsprachiger Architekten (www.goethe.de, 2010)