„Ports of Dreams“ – Deutschland, ein Auswanderungsland (Teil I/II)

Laytmotif in Hamburg und Bremen: Teil I | Teil II

Vatan – türkisch für Heimat, Heimatland, Vaterland – ist der Name der kleinen Moschee auf der Hamburger Veddel, einer Arbeitersiedlung, eingeklemmt zwischen Hafenanlagen, Zubringerstraßen, Gleisen und Industriegebieten. Der S-Bahnhof der Veddel hat einen Zusatz: Ballin-Stadt. Es ist von dort nicht weit bis zum „Auswanderermuseum BallinStadt Hamburg – Port of Dreams“: Auf einer Reise nach Hamburg mit Cuxhaven und Bremen mit Bremerhaven, den beiden großen deutschen Hafenregionen, werden Auswanderung und (weil es Laytmotif ist, türkische) Einwanderung assoziativ greifbar, Emigration und Immigration als Teil großer Geschäfte und wirtschaftlicher Entwicklungen, auch als zwei Seiten einer Medaille. Auswanderung hier ist Einwanderung dort. Auswanderung dort ist Einwanderung hier.

Vatan (Heimatland) Camii, Veddel, Hamburg 2020
Vatan (Heimatland) Camii, Veddel, Hamburg 2020

Hamburg, die Stadt der reichen „Pfeffersäcke“, der Hafen mit den Schiffen aus fremden Landen – kommen da nicht gleich Bilder vom Handel mit exotischen Gütern aus fernen Weltgegenden in den Sinn? Die hübschen, orientalisierenden Wandgemälde im Levantehaus in der Hamburger Mönckebergstraße nehmen heute noch darauf Bezug. Die früher dort residierende Deutsche Levante-Linie zum Beispiel bediente zur vorletzten Jahrhundertwende die Verbindung Hamburg-Levante, die historische italienisch-französische Bezeichnung für das „Morgenland“. In ihrer Deutschen Levante-Zeitung – Mitherausgeberin war die Deutsch-Türkische Vereinigung – annoncierte die Oriental Tabak- und Cigarettenfabrik Yenidze aus Dresden 1914 ihre Zigarettensorten „Salem Aleikum“ und „Salem Gold“. Unter einem Signet mit Halbmond und Stern wurden „tüchtige Vertreter zur Erweiterung der Geschäftsverbindungen nach dem nahen Orient“ geworben. Schon weniger schillernd suchten Firmen aus Smyrna, dem heutigen Izmir, Chemnitzer Strümpfe und Firmen aus Konstantinopel Maschinen zur Herstellung von Konserven. Spätestens mit der Intensivierung der militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen von Deutschem und Osmanischem Reich Ende des 19. Jahrhunderts verdienten Hamburg und Deutschland in großem Umfang mit praktisch-nüchternen Gütern im Handel mit dem „Orient“: mit der Verschiffung von Materialien für den Bau der Bagdad-Bahn und Rüstungsgütern. Letztere sind auch heute noch wichtiger Umsatzfaktor im Hafen, anders als ein weiteres wichtiges Transportgut der letzten beiden Jahrhunderte – Menschenfracht.

Levantehaus, Hamburg 2020
Levantehaus, Hamburg 2020

Die historische Ballin-Stadt, errichtet ab 1901 am Rande Hamburgs, war ein abgeschlossener Gebäudekomplex, eine Art „Wartesaal“, Quarantänestation und Registrierstelle für die jährlich hunderttausenden europäischen Auswanderer, die Europa über Hamburg vor allem in Richtung Amerika verließen. Namensgeber war Albert Ballin, der in dieser Zeit die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft führte, die als HAPAG mit dem Auswanderergeschäft zur damals größten Schifffahrtslinie der Welt werden sollte. Zwischen 1850 und 1938 wanderten mehr als fünf Millionen Menschen über Hamburg aus, ein Ticket konnte, je nach Konjunktur und Wettbewerbslage, den Gegenwert mehrerer Monatsgehälter kosten. Vor allem deutsche Reedereien, Auswandereragenturen, Agenten und Subagenten organisierten und verkauften Schiffsplätze, auch Pässe und Visa (letztere gelegentlich auch auf illegalen Wegen) und verdienten über Jahrzehnte glänzend am „Passagegeschäft“. Für die HAPAG war es einer der wichtigsten Geschäftszweige, die 1914 größte Reederei der Welt hatte 175 Schiffe, 20.000 Beschäftigte und Liniendienste zu allen Kontinenten, z. B. auch eine regelmäßige direkte Dampferverbindung Konstantinopel-New York. Die Grundlagen für den bis heute andauernden wirtschaftlichen Erfolg des Hamburger Logistikunternehmens Hapag-Lloyd wurden damals, mit diesem Geschäft, gelegt. Ein Geschäft, das profitabel gehalten werden musste – Emigranten, die aus ihren Heimatländern Infektionskrankheiten in die Stadt brachten, auf die Schiffe mitnahmen und in Amerika wegen Krankheiten zurückgeschickt wurden, schmälerten den Gewinn. Im Niemandsland in einer Ecke des Hamburger Hafens, vor den Toren der Stadt, waren Ankunft, Desinfektion, medizinische Untersuchungen, Prüfungen der finanziellen Mittel und Quarantäne möglich, ohne dass die Auswanderer mit der Stadt selbst in Kontakt kamen. Ab 1907 konnten in der Ballin-Stadt bis zu 5000 ausreisewillige Menschen gleichzeitig untergebracht und bis zur Abfahrt der Schiffe in Cuxhaven dort sozusagen „kaserniert“ werden. Es gab getrennte Speisesäle für Christen und Juden, eine Kirche und eine Synagoge – allerdings noch keine Moschee auf der Veddel, weil es damals keine muslimischen Auswanderer nach Amerika gab.

Hapag-Hallen, Cuxhaven 2020
Hapag-Hallen, Cuxhaven 2020

„Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,
Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!“
The New Colossus von Emma Lazarus (Inschrift an der New Yorker Freiheitsstatue)

Es ist unbehaglich eng in manchen Bereichen des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven; in diesen pandemischen Zeiten irritiert auch ein unentwegt zu vernehmender schwerer Husten. Vom Band eingespielt, macht auch der Husten in diesem „Erlebnismuseum zum Hören, Schauen, Erspüren und Erkunden von Geschichte und Migration“ (Selbstauskunft des Museums) die Situation erfahrbar, in die sich Auswanderer in der Hoffnung auf ein besseres, sichereres Leben begaben. Zum Beispiel bei der Überfahrt nach Amerika, eingepfercht in den ungesunden Zwischendecks kleiner, hölzerner Segelschiffe ganz zu Beginn der Geschichte des Auswanderungsgeschäfts. Bremen mit Bremerhaven war neben Hamburg über viele Jahrzehnte das zweite Zentrum der Auswanderung in Deutschland, im 19. Jahrhundert lange der größte Auswandererhafen Europas, wichtiger Mitbewerber und Konkurrent. Zwischen 1821 und 1914 wanderten 44 Millionen Menschen aus Europa nach Übersee aus; Hamburg und Bremen teilten einen großen Anteil am europäischen Geschäft mit der Auswanderung unter sich auf. Ähnlich erfolgreich wie die HAPAG in Hamburg, wurde in Bremen der Norddeutsche Lloyd mit dem Passagier- und Auswandererverkehr die größte Reederei der Stadt und ab 1881 der Welt. (Mehr zum Wettbewerb von Hapag und Lloyd um komfortablere Schiffe und größere Hafenanlagen hier). An der Bremerhavener Columbusstraße, mit Blick auf den Neuen Hafen, inszeniert das Deutsche Auswandererhaus die Abreiseprozeduren in Deutschland, aber auch die Ankunftsprozeduren in der Neuen Welt, die vor allem gesunden Arbeitskräften mit ausreichenden eigenen finanziellen Mitteln Zutritt gewährte.

Historisches Auswandererhaus, heute Hochschule, Bremerhaven 2020
Historisches Auswandererhaus, heute Hochschule, Bremerhaven 2020

Das Auswanderermuseum in Hamburg und das Auswandererhaus in Bremerhaven verstehen sich (inzwischen) beide nicht nur als Museen für Emigration aus und über Deutschland, sondern für Migration überhaupt. Es wird globaler geschaut, warum Menschen von da nach dort wollen und müssen. Die USA und Kanada, im Gegensatz zum damaligen Europa Länder mit demokratischer Verfassung, boten Grundrechte für alle, grundsätzlich gleiche Chancen und Möglichkeiten für den Einzelnen. Die Religionsfreiheit in den amerikanischen Kolonien zog aus religiösen Gründen Vertriebene an, Quäker, Calvinisten, im russischen Zarenreich verfolgte Juden – Muslime nicht in großer Zahl, worauf schon der nicht vorhandene Speisesaal und die nicht vorhandene Moschee in der Ballin-Stadt deuten. Die „Encyclopedia of Muslim-American History“ geht gerade mal von etwas mehr als 20.000 „Asian Turks“ aus, Einwanderern aus dem türkisch-arabischen Raum, die zwischen 1869 und 1898 legal in die USA einwanderten. Einerseits dürfte die religiöse Willkommenskultur in Amerika besonders Menschen aus dem „christlich-jüdischen“ Kulturkreis gegolten haben, andererseits scheint auch der Koran Muslimen die Auswanderung in klar muslimische Gebiete nahezulegen – die muslimischen Auswanderungswellen ins Osmanische Reich im Zusammenhang mit den ethnisch-religiösen Vertreibungen auf dem Balkan Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts stützen diese These (Wolfgang Höpken, Flucht vor dem Kreuz). Die Ausstellungen stellen Bezüge zur späteren Migration aus der Türkei manchmal konkret her, oft drängen sich Vergleiche unterschwellig auf: In den boomenden Phasen der USA wurden dort Arbeitskräfte und Siedler dringend gebraucht – bis in die 1920er hinein, bis zur Quotenregelung, gab es für die USA keine Zuwanderungsverbote; die Tore wurden offen gehalten für Millionen aus Europa. Die US-amerikanische Arbeiteranwerbung führt bis nach dem II. Weltkrieg zu Auswanderungswellen – es kommen Millionen Wirtschaftsmigranten, die ihre Länder wegen Missernten, zunehmender Bevölkerungsdichte, wirtschaftlichen Krisen, Massenarmut und Arbeitslosigkeit der Landbevölkerung verlassen mussten.

Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven 2020
Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven 2020

Wenn irgendwann in den Zielländern nicht mehr genügend Arbeit vorhanden ist, versiegt die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen, ja wird auch unterbunden. Und umgekehrt verlassen weniger Menschen wirtschaftlich prosperierende Länder mit genügend Arbeit. In Deutschland kommt es nach der Reichsgründung 1871, Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu einem ersten wirtschaftlichen Aufschwung. Zwar wandern weiter Europäer in großer Zahl über Bremen und Hamburg aus, die Auswanderung aus Deutschland selbst lässt aber nach. Auch das „Passagegeschäft“ trug zu diesem Aufschwung, zu Reichtum bei: Die Einnahmen ließen HAPAG und Lloyd zu den Marktführern ihrer Zeit werden. Ständige Innovationen an den Passageschiffen und der stetige Bedarf an neuen Schiffen machten die Werften groß und erfolgreich, viele neue entstanden. Schiffsverkehr und Schiffbau profitierten auch vom Kreuzfahrtgeschäft, das die HAPAG 1891 erfindet, um die im Winter niedrigen Buchungen von Auswandererpassagen zu kompensieren. Neue „Kreuzfahrer“ konnten sich nun im Winter ab Cuxhaven auf eine „Lustreise in den Orient“ begeben, die Plakate der „Oriental Cruise“ erzählen Geschichten aus Tausendundeiner (oder 1001) Nacht. (Und heute? Am Columbusbahnhof in Bremerhaven, wo früher Auswanderer abfuhren, nun ein modernes Kreuzfahrtterminal, wurden 2018 240.000 Passagiere abgefertigt.) Das Passagegeschäft war konjunkturanfällig; drumherum suchten Reedereien immer nach sichereren Alternativen und Nebenverdiensten, indem sie ihre Frachtgeschäft-Portfolios ausweiteten. Bremen wird – mit 2,8 Millionen Ballen Baumwolle 2012 – auch deshalb zu einem Zentrum des Baumwollhandels, weil Baumwolle ideale Rückfracht auf Auswandererschiffen war. Die Bremer Baumwollbörse in einem prächtigen Bau von Anfang des letzten Jahrhunderts ist noch heute aktiv.

Anti-Kolonial-Denk-Mal, Bremen 2020
Anti-Kolonial-Denk-Mal, Bremen 2020

In allen Ecken von Übersee wird gehandelt, ganz viel nach ganz weit geschaut, Land genommen. In Bremen, diesem Ort des Handels, des Überseehandels, berichtet davon das Überseemuseum, früher „Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde“, unter den Nazis „Deutsches Kolonial- und Übersee-Museum“. Die deutschen Kolonien in Übersee wurden zu Goldgruben, denen das 1932 in Bremen errichtete „Reichskolonialehrenmal“ gewidmet wurde, das heute zum Anti-Kolonial-Denk-Mal „Elefant“ umgewidmet ist. Kohle, Stahl, Eisenbahn, Rüstungsgüter – Industrien, die Handel und Landnahme ermöglichen, wuchsen. Deutschland erstarkte wirtschaftlich – und legte die Grundlagen dafür, später selbst zu einer Art „Hafen der Träume“ zu werden. Für das Menschen ihr vatan verlassen würden, ihr Heimatland, ihr Vaterland.

Neubau am Deutschen Auswandererhaus, Bremerhaven 2020
Neubau am Deutschen Auswandererhaus, Bremerhaven 2020

„Häfen der Träume“ – Deutschland, ein Einwanderungsland: Im zweiten Teil berichtet Laytmotif von Auswanderern/Einwanderern aus der Türkei. In Hamburg und Bremen.

Zum Weiterlesen:
Ferdinand Freiligrath: Die Auswanderer (mumag.de, abgerufen am 08.08.2021)
Kleine Geschichte der Hapag-Halle und des Überseeverkehrs in Cuxhaven (hapaghalle-cuxhaven.de, Stand 20.12.2020)
Schifffahrt made in Hamburg. Die Geschichte der Hapag-Lloyd AG (PDF, hapag-lloyd.com, Stand 21.12.2020)
Axel Schnorbus: Die Zukunft liegt auf dem Wasser. Eine Unternehmensgeschichte der Hapag-Lloyd (faz.net, 08.09.1997)
Camilla Dawletschin-Linder, Amke Dietert: Begegnungen – Ilişkiler. Hamburg und die Türkei in Geschichte und Gegenwart (hamburg.de, erschienen 2010)
Jan Philipp Sternberg: Auswanderung (bpb.de, 14.05.2018)

Laytmotif in Hamburg und Bremen: Teil I | Teil II