Avrupalılaştıramadıklarımızdan? Wie bitte?

Klingt langweilig: „Die türkische Sprache […] ist eine agglutinierende Sprache und gehört zum oghusischen Zweig der Turksprachen.“ (Wikipedia, Türkisch) Nun, das muss an einem praktischen Beispiel – gerne benutzt in Türkisch-Anfängersprachkursen – mit Leben gefüllt werden.
Dann wollen wir mal: Nicht zu den Turksprachen gehören Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch – und das bringt uns zu Europa.

Avrupa Pasajı, Beyoğlu, İstanbul

Avrupa Pasajı, Beyoğlu, İstanbul

Avrupa / Europa
Ein Kontinent zum Beispiel, benannt nach einer phönizischen Königstochter, die Zeus in Stiergestalt entführte: 12 Prozent der türkischen Bevölkerung lebt im europäischen Teil der Türkei, drei Prozent ihrer Fläche liegt in Europa. Eine natürliche Grenze bildet u. a. in İstanbul der Bosporus, eine Meerenge zwischen Europa und Asien. Der in Europa gebräuchliche Name Bosporus leitet sich aus dem Griechischen für Kuh- oder Ochsenfurt ab, die Furt vor Zeiten überquert von der griechischen Zeusgeliebten Io. Auf Türkisch heisst die Meerenge boğaz, das Wort auch für Kehle und Hals.

Avrupalı / Europäisch
-lı, die erste Agglutination in diesem Beispiel, d. h. die „Anleimung“ einer Buchstabengruppe mit grammatikalischer Funktion: „-li bildet Nomina, die besagen, dass das im Grundwort ausgedrückte bei ihnen als Teilmenge vorhanden ist.“ (Ersen-Rasch, Türkische Grammatik, S. 264). Also zumindest nach dieser Definition dürften 12 Prozent der türkischen Bevölkerung und drei Prozent der Türkei europäisch sein. Kaum quantifizierbar aber, und wenn versucht, dann oft nicht konsensfähig, welche Lebens- und Politikstile, Ideen, Moden als europäisch kategorisiert werden können oder sollen und ab wann ihr ausreichendes Vorhandensein ein ganzes Land europäisch macht.

Köprü Kent – Bridge City, Galata Rum İlköğretim Okulu, İstanbul Design Biennial, 2012

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Avrupalılaş… / Europäisch werden
-laş-: „Bezeichnet einen Prozess, der auch ein Miteinander ausdrücken kann“ (ebd., S. 271). Avrupa ist nicht nur ein Kontinent, sondern – besonders von draußen betrachtet – eine Einheit, eine Idee, ein Konzept. Und oft Synonym für einen Staatenbund, die Europäische Union. Wie wird z. B. ein Land europäisch? Schon, wenn es dem Staatenbund beitritt? Kann es das überhaupt, oder muss es europäisch schon vorher geworden sein?

Avrupalılaştır… / Europäisieren
-tır-: Ein Kausativsuffix: „Das Subjekt bewirkt etwas, was sich auch als Veranlassung auswirken kann“ (ebd., S. 194). Wer europäisiert wen? Wer europäisiert was? Das Subjekt wird auf dieser Grammatikstufe allerdings noch nicht benannt – Interesse am Europäisieren, um das Europäisch werden zu veranlassen, haben Gruppen innerhalb und außerhalb der Türkei. Historisch z. B. als Atatürk in den 1920ern und 30ern die Modernisierung der Türkei nach westlichem Vorbild vorantrieb – auch wenn er Ankara im Herzen des asiatischen Teils zur Hauptstadt machte. Und aktuell natürlich die Europäisierungsanstrengungen der EU in den Beitrittsverhandlungen. Wäre Osmanlılaştır ein Gegenteil von Avrupalılaştır?

Von Europa nach Asien und wieder zurück: Fähre über den Bosporus

Von Europa nach Asien und wieder zurück: Fähre über den Bosporus

Avrupalılaştırama… / Nicht  europäisieren können
-ama-, das Unmöglichkeitssuffix: „Damit gibt der Sprecher an, dass die Ursache für das „nicht können“ nicht bei ihm liegt“ (ebd., S. 170). Und  auch, dass ein Prozess zwar schon begonnen wurde, aber schwierig zu einem Erfolg zu bringen ist. Am Sprecher kann es wohl also nicht liegen.

Avrupalılaştıramadık / Wir konnten nicht europäisieren
-dık: „Wir“ sind es also, und wir benutzen schon die Vergangenheitszeitform – sollen wir es nicht doch noch einmal versuchen?

Avrupalılaştıramadıklar / Die wir nicht europäisieren konnten
-lar: Das Pluralsuffix: Aha, es geht also um mehr als eine/r/s, der/die/das wir nicht europäisieren konnten?

Avrupalılaştıramadıklarımız / Die, die wir nicht  europäisieren konnten
-ımız: das Possessivsuffix für „unser“. Wieso haben wir denn jetzt nochmal eine Form des „wir“? Das Nicht-europäisieren-können scheint wirklich ein schwieriges und schwer verständliches Unterfangen. Aber da müssen wir jetzt durch!

Avrupalılaştıramadıklarımızdan / von denen, die wir nicht europäisieren konnten
-dan: der Ablativ-Fall. Von wem? Wovon? Woher?

Eine von momentan zwei Brücken zwischen Europa und Asien: Boğaziçi Köprüsü / Bosporus-Brücke

Eine von momentan zwei Brücken zwischen Europa und Asien: Boğaziçi Köprüsü / Bosporus-Brücke

Jetzt ist es gleich geschafft. Ergänzen Sie nun nur noch ein Wort, das Fragepartikel in seiner Sie-Form „mısınız“, und Sie können schon eine höfliche Frage formulieren. Zum Beispiel beim Arzt, im Theater, im Taxi, beim Dönerkauf, in Berlin oder in Istanbul:
Avrupalılaştıramadıklarımızdan mısınız? Sind Sie eine/r von denen, die wir nicht europäisieren konnten?

Das Grammatikbeispiel funktioniert wohl auch mit Marginalie, Westen, Globalisierung, Osman und vergleichbaren Worten – beim Wort „Verstehen“ allerdings dürften andere grammatikalische Prinzipien anzuwenden sein. Das lernen wir aber noch.

Quellen:
Margarete I. Ersen-Rasch: Türkische Grammatik für Anfänger und Fortgeschrittene (Hueber, 2005)
Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union (Wikipedia, Stand 24.09.2013)
Türkisch (Wikipedia, Stand 10.10.2013)