„Du unser Stern, du ewig strahlender Glanz, o Halbmond, ewig sieggewohnt.“*

Fahnenflucht: Nach einem Monat schwarzrotgold im Sommer 2014 wendet sich Laytmotif von der einen Fahne ab, der anderen und ihrer Symbolik zu. Ay – der Mond, Yıldız – der Stern: Die Nationalflagge der Türkei (Türk bayrağı), ganz poetisch auch gleich Mondstern (türk.: Ayyıldız) genannt, Rote Flagge (türk.: Albayrak) bzw. Rote Flagge mit dem Mondstern (türk.: Ayyıldızlı Albayrak). Man sieht Halbmond und Stern geradezu am Firmament des Orient, an tausendundeinem Nachthimmel. Ausschließlich romantisch wird das Thema allerdings nicht, denn: Über Fahnen schreiben heißt, „man betritt dabei eine empfindliche Zone der Kultur“ (Robins, S. 74).

Denkmal, Üsküdar, İstanbul 2014

Denkmal, Üsküdar, İstanbul 2014

Auch wenn Halbmond und Stern ein ganz anmutiges Symbolpaar abgeben, ist ihre Platzierung auf dem roten Flaggentuch heute eine höchst mathematische, ja, fast deutsch-penible Angelegenheit: Bezugsgröße ist immer die Höhe des Fahnentuchs, aus der sich seine Breite (3/2 x Höhe), aber auch solche Werte wie zum Beispiel der Abstand des Mittelpunkts des äußeren Kreises des Mondes zur linken Seite der Flagge (1/2 x Höhe), der Abstand vom Umkreis des Sterns zum inneren Kreis des Mondes (1/3 x Höhe) und der Durchmesser des Umkreises des Sterns (1/4 x Höhe) ergeben.

Dieses Aussehen der türkischen Nationalflagge und vor allem ihre Verwendung sind im türkischen Gesetz 2893 vom 22. September 1983 – nach einem Vorgängergesetz von 1936 – geregelt, ja, genau vorgeschrieben. In Artikel 7 des Gesetzes wird die Nutzung von zerrissenen, schmutzigen, zerlöcherten oder ausgeblichenen  Fahnen verboten,  oder die Nutzung in Situationen, die den ideellen Wert der Flagge verletzen – ausdrücklich verboten ist dort der Einsatz der Flagge als Bekleidung oder Uniform.

Schwarzrotgold und Moschee, Berlin-Schöneberg, Juni 2014)o_gida

Schwarzrotgold und Moschee, Berlin-Schöneberg, Juni 2014)o_gida

Während also Hatice Akyün  vom Tagesspiegel zum WM-Finale ein schwarz-rot-goldenes Dirndl tragen konnte, andere Fußballberauschte schwarz-rot-goldene Hasenohren, Bikinis oder Perücken, können türkische Fußball- oder andere Fans Ayyıldız in Deutschland, der Türkei und anderswo lediglich als Fahne schwenken. Und davon wird ausgiebig Gebrauch gemacht: Bei Fußballspielen, im Berliner Olympiastadion zuletzt beim Spiel Deutschland-Türkei 2010, bei dem fast 40.000 fahnenschwenkende Türkeifans das Stadion in ein rotes Fahnenmeer tauchten, bei Autokorsos über den Ku’damm nach Fußballspielen der Istanbuler Klubs, zu den Demonstrationen in Deutschland anlässlich der Gezi-Ereignisse, bei den kürzlichen  Auftritten von Recep Tayyip Erdoğan in Berlin und Köln und wahrscheinlich auch wieder im Berliner Olympiastadion zur türkischen Präsidentenwahl im August 2014.

Zwei Fahnen, Berlin-Wedding 2014

Zwei Fahnen, Berlin-Wedding 2014

„Seid stolz auf Eure Sprache, Eure Fahne und Eure Kultur“ rief Erdoğan Anfang diesen Jahres seinen türkeistämmigen deutschen Anhängern in Berlin zu – gemeint war nicht die schwarz-rot-goldene Fahne. „Das Problem besteht darin, was Fahnen von uns erwarten, von uns allen, von uns in unserer imaginierten nationalen Totalität: dass wir uns dem höheren Ziel einer imaginierten Gemeinschaft zugehörig fühlen sollen“ (Robins, S. 73). In der Türkei ist die Fahne bzw. sind die Fahnen allgegenwärtig: Vor öffentlichen Gebäuden, unübersehbar an der Bosporus-Spitze der Istanbuler Altstadt, in der Parteienwerbung (eindrückliches Beispiel beschrieben und gezeigt auf faz.de), zu Feiertagen, immer noch an Atatürk-Gedenktagen, und nationalstolze Gymnasiasten malten 2008 sogar eine Fahne mit ihrem eigenen Blut. (sessizciglik1.blogcu.com und Robins, S. 75).

Flaggenverkauf, Kadıköy, İstanbul 2014)

Flaggenverkauf, Kadıköy, İstanbul 2014)

Das Bild „Indoor Flag“ des britischen Künstlers Gavin Turk (Er heißt wirklich so.) spielte 1995 mit einem schlaff hängenden Union Jack, der britischen Flagge, kritisch auf vergangene Größe, neue Kriege mit britischer Beteiligung, den Fahnenkult an. V. a. in den 1990ern, dem Jahrzehnt der ersten Golfkriege, wurde die britische Fahne auch in der bildenden Kunst wieder stärker thematisiert. David Bowies gerade in Berlin ausgestellter Union-Jack-Mantel der 1990er Earthling-Tour, also eine zu einem Mantel genähte Britische Fahne, nimmt explizit Bezug auf Turks Bild und auf die Aneignung und Umdeutung des Union Jack durch die Punkbewegung, die das Establishment und auch die Kolonialtraditionen des British Empire in Frage stellten. Ein Kleidungsstück mit einer „bilderstürmerischen und subversiven Punk-Ästhetik“ (Evening Standard).

Mustafa Kemal Atatürk, Held der Schlacht von Gallipoli. (Bild: İstanbul 2014)

Mustafa Kemal Atatürk, Held der Schlacht von Gallipoli. (Bild: İstanbul 2014)

Zu den Fahnen gerufen: Unter dem Union Jack und der osmanischen Flagge als Vorgänger von Ay Yıldız trafen im Ersten Weltkrieg bei der Schlacht von Gallipoli 1915 (türkisch: Çanakkale Savaşı) Soldaten der Entente und des Osmanischen Reichs aufeinander, 100.000 von ihnen starben. Die Praxis des Kriegführens unter dem Erkennungszeichen einer Flagge wurde nach einer populären Theorie ab dem 11. Jahrhundert von den Kreuzzügen aus dem islamischen Morgenland in das christliche Abendland mitgebracht. Auch ein deutscher Ritter erkannte nun „seine“ Söldner auf dem Schlachtfeld. Im deutschen Recht gibt es auch weiter den Staftatbestand der Fahnenflucht, also der Desertation von der Truppe – die Fahne also ursprünglich eine ganz und gar kriegerische Angelegenheit. Über die Schlachten der Jahrhunderte wird die osmanisch-türkische Fahne in Europa bekannt – und gefürchtet. In Hieronymus Boschs Gemälde Ecce Homo ist schon Ende des 15. Jahrhunderts eine rote türkische Flagge mit Halbmond platziert, diese Flagge ist beim „Weltuntergangsmaler“ Bosch neben Feuer, Schiffswracks, Affen und Schweinen ein Zeichen für das bevorstehende Verderben. (Bakker, Landscape and Religion, S. 98)

Variante von Stern und Halbmond: Algerischer Fußballfan, Berlin-Wedding 2014

Variante von Stern und Halbmond: Algerischer Fußballfan, Berlin-Wedding 2014

Hilal, der arabische Begriff für die Mondsichel, wird heute noch im Türkischen allgemein für den Halbmond benutzt, während für die Nationalflagge der türkische Begriff Ay zum Einsatz kommt. In der Folge der Ausdehnung des Osmanischen Reichs verbreitet sich auch die islamische Religion unter dessen Flagge. Die Mondsichel ist heute deshalb auch ein weltweites Symbol für den Islam – frühmuslimische Gruppierungen verfügten noch über kein eigenes Emblem.
Das Islamische Jahr basiert auf einem Mondkalender; der Fastenmonat Ramadan beginnt genau mit dem Erscheinen der Mondsichel; der Rote Halbmond war Ende des 19. Jahrhunderts die Antwort des Osmanischen Reichs auf das christlich kodierte Rote Kreuz. Die Mondsichel ist weltweit Teil der Ornamentik religiöser Bauten des Islam; neben der Türkei führen andere islamische Staaten wie Tunesien, Mauretanien oder Algerien das Symbol auf ihren Flaggen. Und für die Internetwelt gibt es einen Unicode, der das Hilal-Symbol kodiert: U+262A: ☪

İzmir, 2011

İzmir, 2011

Die osmanischen Geschichtsschreiber haben ihre Legenden zum Entstehen der Flagge aufgeschrieben: Eine sieht sie als Sinnbild für Mond und Stern, die sich nach einer erfolgreichen Schlacht in einer Blutlache eines ruhmreich Gefallenen spiegelten. Erblickt von einem osmanischen Sultan. Die Verehrung der Mondsichel dürfte allerdings auch Wurzeln in vorislamischen Zeiten haben, z. B. in Mondgöttern arabischer Völker. Auch im vorchristlichen Konstantinopel war die Mondsichel schon Teil der Stadtsymbolik, hier mit römischen Legenden unterlegt.

Turkish Delight, Kadıköy, İstanbul 2014

Turkish Delight, Kadıköy, İstanbul 2014

Bis zur heute geometrisch vorgeschriebenen Platzierung von Mond und Stern hat es über die Jahrhunderte immer Varianten der Flagge gegeben, erst Ende des 18. Jahrhundert ordnete offenbar Sultan Selim III. die offizielle Verwendung von Halbmond und Stern auf rotem Flaggentuch an. Deren Form hat sich immer wieder verändert – und allen Gesetzen zum Trotz sind heute in Berliner Freibädern Badehandtücher im Türkeiflaggendesign zu sehen. Und natürlich gibt es inzwischen auch die Deutsch-Türkische Flagge, die Deutschlandfahne mit Stern und Halbmond auf dem roten Streifen. Wenn auch ohne offiziellen Status, wird sie gerne zur Markierung deutsch-türkischer Themen in den Medien benutzt. Oder von Fußballfans mit Türkeihintergrund.

Tophane, İstanbul 2014

Tophane, İstanbul 2014

Zum Abschluß wollen wir jetzt mal anlässlich der anstehenden türkischen Präsidentenwahl unsere Fahne nach dem Wind drehen und patriotisch einstimmen in den İstiklâl Marşı, den Unabhängigkeitsmarsch, seit 1921 Nationalhymne der Türkei. Der Einfachheit halber auf Deutsch, in der Version von Eduard Zuckmayer, Bruder von Carl Zuckmayer, nach seiner Emigration aus Hitlerdeutschland bis zu seinem Tod einer der führenden Musikpädagogen der Türkei.

„Getrost, der Morgenstern brach an,
Im neuen Licht weht unsre Fahn‘.
Ja, du sollst wehen,
Solang ein letztes Heim noch steht,
Ein Herd raucht in unserem Vaterland.
Du unser Stern, du ewig strahlender Glanz,
Du bist unser, dein sind wir ganz.

Nicht wend‘ dein Antlitz von uns,
O Halbmond, ewig sieggewohnt.
Scheine uns freundlich
Und schenke Frieden uns und Glück,
Dem Heldenvolk, das dir sein Blut geweiht.
Wahre die Freiheit uns, für die wir glühn,
Höchstes Gut dem Volk, das sich einst selbst befreit.“

Quellen:
* Eduard Zuckmayer: Die Türkische Nationalhymne (Zitiert nach: Nationalhymnen. Texte und Melodien. 2., verbesserte und erweiterte Auflage, Reclam 1982, S. 179)
Hatice Akyün: Mitkreischen im Deutschland-Dirndl? Selbstverständlich! (Tagesspiegel, 13.07.2014)
Boudewijn Bakker: Landscape and Religion from Van Eyck to Rembrandt (Ashgate 2012)
Flagge (Wikipedia, Stand 24.5.2014)
Flagge der Türkei (Wikipedia, Stand 6.6.2014)
Hilal (Mondsichel) (Wikipedia, Stand 7.7.2014)
İstiklâl Marşı (Wikipedia, Stand 22.10.2013)
Kevin Robins: Fahne (in „Becoming Istanbul. Eine Enzyklopädie, S. 72-76, Garanti Gallery 2008)
Mondsichel: Islamische Welt (Wikipedia, Stand 17.12.2013)
Ottoman Empire: Flags shown on paintings (crwflags.com Stand 11.11.2011)
Turkey: Law on the flag (crwflags.com Stand 15.6.2013)