Arkitekt, bau auf, bau Haus: Neues Bauen in der jungen Türkei (Teil I/II)
1919–1933 | ab 1933
Im Salon der Mimar-Sinan-Universität der schönen Künste in Istanbul, direkt unten am Bosporus gelegen, ziehen sich im letzten Herbst gelbe, blaue und rote Farbbänder über Ausstellungswände. Eine der Ausstellungstafeln zeigt die Wohnsiedlung ein paar Schritte entfernt von meiner Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg, mit ihren typischen gelben, roten und blauen Fenster- und Türrahmen – es wird also in Istanbul die Berliner Wohnstadt Carl Legien vorgestellt, erbaut Ende der 1920er nach einem Entwurf von Bruno Taut und Franz Hillinger, heute auf der Weltkulturerbeliste.
Die Istanbuler Ausstellung „Evinde / At Home“ widmet sich dem Schaffen des Architekten Bruno Taut, von seinen ersten Arbeiten in Deutschland bis zu seinem Tod 1938 in Istanbul. Mit historischen und aktuellen Aufnahmen, kompetenten architektonischen Beschreibungen, präzisen Grundrissen – organisiert hat die Ausstellung schließlich die Architekturfakultät der Istanbuler Universität, deren Leiter Taut bis zu seinem Tod war. Berliner Siedlungen, Bauten in Ankara und Istanbul, die Wiener Architekturmoderne: An Tauts Wirken und das anderer Architekten aus dem deutschsprachigen Raum lässt sich eine Geschichte erzählen, zum Neuen Bauen in Europa und der jungen Türkischen Republik, über gesellschaftlich-kulturelle-architektonische Verflechtungen, Parallelitäten und Verknüpfungen zwischen Ost und West.
1919 wird in Weimar das erste Bauhaus gegründet. 100 Jahre später ist dessen Jubiläum gerade Gegenstand fulminanter Feierlichkeiten in ganz Deutschland – zumindest hierzulande wird das Bauhaus als der Bezugspunkt für viele moderne Stile in Design und Architektur definiert: den so genannten „Bauhaus-Stil“ selbst (der sich so gar nicht eingrenzen lässt), die Berliner und Klassische Moderne, das Neue Bauen, Funktionalismus, Neue Sachlichkeit, den Internationalen Stil und andere mehr. Bauhäusler haben nach 1919 weltweit Architektur, Design und Kunst beeinflusst. Bauhäusler, auf Türkisch Bauhausçular, sind die, die an den drei Bauhäusern in Weimar, Dessau und Berlin bis 1933 gelehrt und studiert haben – Bruno Taut war keiner. Und trotzdem wird er, als Reformer der Architektur und Vertreter des Neuen Bauens, in Publikationen zum Bauhaus-Jahr oft genannt, als Verwandter, Vordenker, seine Berliner Siedlungen werden zu Bauhaus-Orten erklärt (berlin.de). Im Bauhaus-Gründungsjahr 1919 veröffentlichte Taut die Bildzyklen Alpine Architektur und Auflösung der Städte. Entworfen hatte er da schon die von 1913 bis in das Kriegsjahr 1916 erbaute Gartenstadt Falkenberg, wegen ihrer Farbigkeit Tuschkastensiedlung genannt und heute als eine Wohnsiedlung der Berliner Moderne auf der Weltkulturerbeliste. 1916 war Taut am Architekturwettbewerb Haus der Freundschaft für Konstantinopel, Dostluk Yurdu, beteiligt gewesen, ausgelobt vom Deutschen Werkbund. Die intensiven und langjährigen deutsch-osmanischen Beziehungen, am Ende die „Waffenbrüderschaft“ von Deutschem und Osmanischen Reich, sollten Ausdruck in diesem Bau finden. Auch Hans Poelzig, später Architekt des Berliner Rosa-Luxemburg-Platzes, lieferte dafür einen kühnen Entwurf; Bruno Taut, nach einem Besuch in Istanbul im August 1916, zeichnete einen Kuppelbau, der, nach den historischen Abbildungen zu urteilen, eine Art Großer Basar, Moschee oder Pantheon, oder alles zusammen sein sollte. (PDF, S. 194, Poelzig, Leben und Werk, S. 121)
Tauts Entwurf für das Dostluk Yurdu in Konstantinopel wurde nicht realisiert, und trotz 1917 erfolgter Grundsteinlegung auch keiner der anderen – die Kapitulation von Deutschem und Osmanischem Reich beendete 1918 den Ersten Weltkrieg und erst einmal auch die deutsch-türkische Freundschaft. Während sich das Bauhaus in Deutschland 1919 nach dem Kriegsende anschickte, Kunst und Handwerk in funktionalen Entwürfen zu vereinen, beginnt unter Atatürk in Samsun der Türkische Befreiungskrieg gegen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Das bedeutete weitere vier Jahre Krieg, Zerstörung und Tod auf beiden Seiten – die funktionale Vereinigung von sanat (Kunst) und zanaat (Handwerk) hat dort mindestens bis zum Ende des Krieges 1923 eine nachrangige Bedeutung.
Taut prägte ab 1921 als Stadtbaurat von Magdeburg mit seinen Gartenstadt-Bauten den Begriff „Bunte Stadt Magdeburg“; in der Türkei wurden im selben Jahr die wichtigen Schlachten von Inönü geschlagen. Und Atatürk implementierte 1921 die erste Türkische Verfassung – gegen den Sultan in Konstantinopel: „Alle Macht geht vom Volke aus.“ Diese Verfassung (und die erste Türkische Nationalhymne) wurde von der Großen Nationalversammlung der Türkei in ihrem ersten Gebäude in Ankara angenommen, dem heutigen Museum des Unabhängigkeitskrieges, Kurtuluş Savaşı Müzesi. Bei allem Aufbruchsgeist in eine ganz neue Zeit: Das Gebäude, mit dessen Bau 1915 begonnen worden war, ist ein typischer Vertreter einer osmanisch-historisierenden Architektur, mit Steinen in unterschiedlichen Farben, Bogenfenstern, überstehenden Dächern, Säulen und Mustern. Weil in den jungen Jahren der Türkischen Republik viel in diesem Stil gebaut wurde, wird diese Architektur-Epoche heute Erste Nationale Architekturströmung, Birinci Ulusal Mimarlık Akımı, oder Nationale Architekturrenaissance, Millî Mimari Rönesansı, genannt. Die Republik, gegründet 1923, schaute zu dieser Zeit architektonisch noch ein wenig zurück in der Geschichte.
Ein Spaziergang durch den Stadtteil Ankara-Ulus, wörtlich übersetzt Volk bzw. Nation, politisch-wirtschaftliches Zentrum der frühen Jahre, führt heute noch an einigen prächtigen Beispielen dieser Nationalen Architekturrenaissance vorbei: Das Hotel Ankara Palas, entworfen von Vedat Tek und erbaut 1924 bis 1927, das Gebäude des Staatlichen Kunst- und Skulpturenmuseums Ankara, erbaut 1927 bis 1930, und das des Ethnografischen Museum Ankaras, erbaut von 1925 bis 1928, beide von Arif Hikmet Koyunoğlu, wahlweise mit Säulen, Zinnen, Balkönchen und Kuppeln in Turbanform, mit Marmor, Nischen und Fenstern, wie man sie aus Moscheen kennt, mit Mosaiken und Fliesen in Türkis. Republikanische Politik wurde seit 1924 in einem ebensolchen Gebäude gemacht, im Zweiten Gebäude der Großen Nationalversammlung, entworfen von Vedat Tek, und heute Republik-Museum. In dem im Vergleich zu heute damals winzigen Ankara wurde auf der großen freien Fläche mit dem Bau einer Hauptstadt begonnen, die sich mit ihren erste Bauten eher östlich-osmanisch-historisierend gab als republikanisch-westlich-modern. Arbeiten europäischer Künstler unterstrichen das zu dieser Zeit noch: Der österreichische Bildhauer Heinrich Krippel entwarf 1925 das Siegesdenkmal mit dem Reiterstandbild Atatürks, irgendwie heroisch-historisierend oder umgekehrt, mit Blick auf die Große Nationalversammlung. Und der Italiener Pietro Canonica ein ganz ähnliches, das heute noch vor dem Ethnografischen Museum steht.
Taut plante zu dieser Zeit seine Berliner Siedlung Schillerpark, nicht weit von der Türkenstraße im Berliner Wedding, erbaut von 1924 bis 1930, und die Berliner Hufeisensiedlung von 1925. Auch diese Siedlungen stehen für die Berliner Moderne auf der UNESCO-Weltkulturerbe-Liste. Deutschland war in der Moderne angekommen, bedingt durch Industrielle Revolution, Aufklärung und Säkularisierung. Wie beginnt „Moderne“ dagegen in einem Land wie der Türkei, in dem solche Entwicklungen noch nicht stattgefunden hatten? In der ein ganz anderes gesellschaftliches Klima herrschte als in Deutschland, wo prosperierende Industrielle sich auch Bauhaus-Bauexperimente leisteten, wo es Kunstschulen gab, die zu Bauhausschulen werden konnten? Die türkische Moderne war politisch gewollt und wurde von der Politik beschlossen. Schon die Verlegung der Hauptstadt vom osmanisch geprägten Istanbul ins flache Land, nach Ankara, einer historisch eher „unbelasteten“ anatolischen Kleinstadt, erfolgte auch aus diesem Grund. Und während dort auch noch Gebäude der Nationalen Architekturrenaissance errichtet wurden, begannen erste deutschsprachige Architekten der Moderne im Auftrag der türkischen Regierung das Gesicht des neuen politischen Zentrums zu prägen.
In Wien steht seit 1922 ein besonderes Gebäude mit orientalisch-expressionistischen Architekturelementen, die Feuerhalle Simmering. Geplant hat dieses Krematorium der österreichische Architekt Clemens Holzmeister, „Homo Politicus und selbstbewusster Baumeister“ wird er auf der Bauhaus100-Website genannt. Ab dem Ende der 1920er war Holzmeister eng verbunden mit der staatlichen türkischen Architekturpolitik: Nicht unbedingt seine zahlreichen christlichen Sakralbauten im deutschsprachigen Raumwerden dafür der Grund gewesen sein, oder das „Orientalische“ eines weltlichen Krematoriums. Eher zeugt letzteres für ein Interesse des Architekten an internationalen Stilen, von Neugier auf das kulturell nicht so Naheliegende. Und natürlich wird die architektonische Begleitung des Aufbaus der Türkischen Republik nicht nur lukrativ, sondern auch prestigeträchtig gewesen sein. Ende der 1920er beginnt in der Türkei, vor allem in Ankara, über die Beauftragung von deutschen, österreichischen und Schweizer Architekten und Stadtplanern die Phase der Neuen Architektur, Yeni Mimari. Die offensichtliche türkische Konzentration auf den deutschsprachigen Raum mag Folge der alten Verbindungen zwischen Osmanen, Deutschen und Habsburgern gewesen sein, ausgeprägte Beziehungen mit Kriegsgegnern wie Großbritannien oder Frankreich wohl zudem (noch) nicht opportun. Vergleichbar waren die Türkische Republik, die Weimarer Republik und die Republik Österreich zumindest auch als aufbruchgestimmte Nachfolger alter Monarchien. Die zentraleuropäische Architekturmoderne jedenfalls sollte die Türkei auf ihrem Weg in die Moderne prägen, ihr ein neues Gesicht geben.
Clemens Holzmeisters erste Gebäude in der Türkei waren der Sitz des Verteidigungsministeriums in Ankara, erbaut von 1927 bis 1931, und der des Generalstabs von 1929 bis 1930 (beide heute verboten zu fotografieren), geradlinig, klobig, rötlich-braun, frei von osmanisierender Ornamentik – frei von Leichtigkeit auch. Denn, auch wenn die neuen Gebäude funktional waren und von Architekten der europäischen Moderne erbaut – die gläserne Luftigkeit von Bauhausbauten hatten sie nicht, sondern brachten nach Ankara einen „austere, heavy, and official-looking modernism“ (Bozdogan, S. 72). 1927 wird der Österreicher Ernst Egli als Chefarchitekt in die Bauabteilung des Türkischen Unterrichtsministeriums nach Ankara berufen, Assistent von Holzmeister an der Wiener Akademie der Bildenden Künste und empfohlen durch ihn. Atatürk beauftragte Egli ausdrücklich mit der Entwicklung einer modernen türkischen Schularchitektur; zahlreiche ab 1927 erbaute Konservatorien, Gymnasien und Universitätsgebäude werden das Ergebnis seiner Arbeit sein. Auf Jahre die türkische Hauptstadt prägen wird der deutsche Stadtplaner Hermann Jansen, Sieger des Wettbewerbs zur Neugestaltung von Ankara von 1929, der bewusst beschränkt auf deutsche und französische Experten war. Das populäre Magazin Muhit z. B. illustrierte 1929 einen Artikel zu Modernen Städten, Modern Şehirler, mit einer Collage, die auch den Siegerentwurf des Architekturwettbewerbs für den Berliner Alexanderplatz von 1929 integriert (Bozdogan S. 117). Ab 1931 entwickelte sich die Zeitschrift Arkitekt zum Forum der türkischen und deutschsprachigen Architekten – die Architekturmoderne war in der Türkei angekommen.
Ab 1933: Wie deutschsprachige Emigranten nach der Machtergreifung der Nazis 1933 Architektur und Hochschulwesen in der Türkei prägten, welche Rolle Bruno Taut dabei spielte, erzählt der zweite Teil des Artikels. Zum Artikel
Zum Weiterlesen:
Sibel Bozdogan: Modernism and Nation Building. Turkish Architectural Culture in the Early Republic
First national architectural movement (Wikipedia, Stand 4. März 2019)
Anton Holzer: Bauhaus, das Labor der Moderne (Wiener Zeitung, 23.02.2019)
Das Werden einer Hauptstadt – Spuren deutschsprachiger Architekten (www.goethe.de, 2010)