Laytmotif auf Reisen: Großes Ankara – Nationalmoscheen, Roter Halbmond und Denkmäler
Oktober 2017: Izmir | Ankara | Konya | Istanbul
Der Bus vom Flughafen fährt – die Hälfte der Passagiere telefonierend – durch endlose Hochhaussiedlungen: Ankara scheint unendlich groß. Bevor Ankara 1923 Hauptstadt der Türkei wurde, hatte es zwischen 30.000 und 40.000 Einwohner, heute – als zweitgrößte Stadt der Türkei – mehr als 5 Millionen. In aktuellen Diskussionen zu Verstädterung, Urbanisierung, Metropolisierung dürfte Ankara ein Paradebeispiel sein.
Neben Rohbauten für Wohnhochhäuser an allen Ecken und Enden sieht man zunehmend neue große Moscheen des „Istanbuler Typs“, nicht die eher unscheinbaren, traditionell im zentralanatolischen Ankara gebauten. Die neuen dürften bewusst Bezug nehmen auf die glorreiche Zeit des Osmanischen Reichs, Bezug auf die nach der Einnahme Konstantinopels zur Moschee umgewidmete Hagia Sophia, die Mimar-Sinan-Moscheen, Vorbilder für den bekanntesten Moscheentypus in aller Welt. Eine der größten neuen ist die Millet Camii in unmittelbarer Nachbarschaft zum vieldiskutierten Präsidentenpalast in Ankara-Bestepe. Obwohl eher in einem Vorort gelegen, gibt es an diesem Sonntagabend viele Besucher: Und es gibt eine Spielecke auf dem Moscheeteppich – da können die Eltern noch soviel zu ihren Kindern sagen: „Sakin ol, bu bir cami – Seid leise, das ist eine Moschee!“ Millet Camii heißt auf Deutsch Moschee der Nation bzw. des Volkes; millet ist ein im Türkischen neuerdings wieder häufiger genutzter, arabischstämmiger Begriff. Der in der jungen türkischen Republik seit den 1920erJahren neu eingeführte Alternativbegriff für Nation ist ulus. In Ankara heißt ein ganzer Stadtteil so, Ulus, aus dem Boden gestampft in den Aufbaujahren der Republik. Eine gerade fertiggestellte neue Moschee alten Typs drückt nun auch Ulus ihren deutlichen Stempel auf, die Ulusal Camii, die Nationale Moschee.
Durch das wirbelige Ulus fährt der Flughafenbus nach Kızılay, den zentralen Platz in Ankara – hier angekommen, meint man, die Hälfte der 5,2 Millionen sind hier unterwegs, spazieren, sitzen, kaufen ein, diskutieren; der Platz gesäumt von Hochhäusern und Einkaufszentren, gekreuzt von Tausenden Autos, Bussen und Taxis. An den Rändern warten gefühlt Hunderte Dolmuş-Kleinbusse, oft alte Deutz- oder Mercedes-Modelle, auf die Abfahrt in die Satellitenstädte. Menschen warten ihrerseits in langen Schlangen auf die Abfahrt. Nach alten Fotos zu urteilen war Kızılay zur Zeit seines Entstehens ein geradezu lauschiges Plätzchen. [Fotos und türkischer Artikel auf cnnturk.com] Kızılay heißt Roter Halbmond, der Name ist abgeleitet von der Generaldirektion der Hilfsorganisation Roter Halbmond, deren – längst abgerissenes – Gebäude 1929 am Platz eröffnet wurde. Entworfen wurde es vom österreichischen Architekten Robert Oerley, als Teil des Architekturmasterplans für die junge Hauptstadt der 20er und 30er Jahre.
Viele deutsche und österreichische Architekten arbeiteten damals am Aufbau Ankaras mit, prägten mit ihren Arbeiten das Gesicht der Stadt. Eine gewollte auch architektonische Ausrichtung nach dem Westen – selbst Denkmäler der Nation wurden von Ausländern gebaut. Z. B. das Ankara Zafer Anıtı, Siegesdenkmal, in Ulus, vom Österreicher Heinrich Krippel (1925-1927). Oder in Kızılay das Güvenlik Anıtı, Vertrauens- und Sicherheitsdenkmal, 1934/35 von den Österreichern Clemens Holzmeister, Anton Hanak und Josef Thorak. Letzterer gestaltete die Reliefs an der Rückseite des Denkmals. Und später, als von Adolf Hitler bevorzugter NS-Staatskünstler, Arbeiten für die Olympischen Spiele 1936 und die Reichskanzlei in Berlin, für das NSDAP-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.
Das Güvenlik Anıtı steht noch und ist beliebter Treffpunkt in Kızılay. Kızılay heißt aber heute offiziell gar nicht so, eigentlich noch nie, wenn sich auch Bus- und Taxifahrer, Hotels, die Metrostation und Verabredete nichts anderes merken wollen. 1927 offiziell Kurtuluş Meydanı (Platz der Befreiung) genannt, 1960 dann Hürriyet Meydanı (Platz der Freiheit) ist der offizielle Name nach dem Putschversuch 2016 15 Temmuz Kızılay Milli İrade Meydanı, 15.-Juli-Kızılay-Volkswille-Platz.
Wenn auch in Ankara neben den großen Atatürk-Fahnen im CHP-regierten Stadtteil Çankaya kaum politische Botschaften dominieren: Die Bilder und Namen der Toten des Putschversuchs, şehitler, wahlweise Märtyer*innen oder Gefallene, sind allgegenwärtig. In Kızılay, oder im Genclik Park auf einer Wand mit allen Gefallenen, selbst am Vorstadtsupermarkt ist ein großes Banner gegen Putsche und für Demokratie präsent – und es gibt ganz neu seit 2017 auch das riesige Monument vor dem Präsidentenpalast: das 15 Temmuz Şehitler Abidesi, das Monument der Gefallenen des 15. Juli. Auf seinen vier Seiten steht: „Tek devlet, tek millet, tek vatan, tek bayrak“ – tek ist auf Deutsch einzig, einzigartig, wird mit Staat, Nation/Volk, Vaterland und Flagge kombiniert.
Staatstragend – und wie kommt man von da zum normalen Leben? Berlin ist ja Unter den Linden zwar auch repräsentativ, aber doch auch wieder nicht. In Ankara ist man von Bestepe sogar zu Fuß recht schnell im „Studentenviertel“ Bahcelievler mit seinen Kneipen, nach ein paar U-Bahnstationen in Çankaya, in der Tunalı Hilmi Caddesi, mit ihren Cafés und Pubrestaurants, mit Streetart an den Bauzäunen. Selbst in Ulus taucht über Nacht an leeren Shops merkwürdige Streetart auf, die im nächsten Moment hinter Werbung für Brautmode verschwunden ist.
Im CerModern Arts Center wird moderne Kunst in restaurierten Lokhallen gezeigt – fast wie im Hamburger Bahnhof, wenn auch weniger Kunst zu sehen ist. Im raffinierten Speisen auftuenden Café Modern – Çıtır kabak ve dondurma, Crispy Pumpkin mit Eiscréme, zum Beispiel – sitzt der gleiche Typ Museumsbesucher. Nur weniger.
Nicht weit von den alten Lokhallen des CerModern steht der – für eine Hauptstadt – niedliche Ankara Garı aus den 1930er. Das in der Türkei so typische Schicksal des Überbauens oder Abreißens und Neubausens ist dem alten Bahnhof erspart geblieben – stattdessen ragt nun hinter dem kleinen ein riesiger neuer Bahnhof auf, der Ankara YHT Garı, Ende 2016 eröffnet vom Staatspräsidenten. Der alte ist nur noch eine Art Wartehalle, frisch mit Marmor ausgelegt – ideal für die beiden Jungs, die da gerade mit ihren goldenen Blades durchrollen. Der große Bruder, inklusive Einkaufszentrum, ist, anders als sein Berliner Pendant, menschenleer – es fahren einfach noch zu wenige der Yüksek Hızlı Tren YHT, Hochgeschwindigkeitszüge. Der Ausbau des YHT-Netzes ist eines der großen Wirtschaftsprojekte der Regierung – nach Konya fährt der YHT von Ankara aber schon. Wie es seit 1896 die Anatolische Eisenbahn tat, realisiert unter maßgeblicher Beteiligung der Wirtschaft des Deutschen Reich.