Janitscharen, Paschas, Generale und Soldaten – Stillgestanden! Hazır ol!

Und nun also das Militär. Als Laytmotif Anfang 2011 begann, Türkisch zu lernen (also eigentlich noch gar nicht Laytmotif war), hatte Istanbul gerade turnusgemäß den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt an das finnische Turku und das estnische Tallin übergeben. Laytmotif würde sich kultiviert um Kültür und Interkulturalität kümmern können, um Sprachfeinheiten, Turzismen, Farben und Namen. Es kam anders: Die Gezi-Unruhen 2013, besondere türkische Wahlen und Neuwahlen, europäisch-türkische Abkommen zu Geflüchteten, der 100. Jahrestag deutsch-türkischer Weltkriegs-Waffenbrüderschaften, unter anderem, durchkreuzten die feingeistigen Pläne – und 2016 zwingt nun also ein Putschversuch das Militär auf die Laytmotif-Agenda.

„Güvenlik Anıtı“ (Denkmal der Sicherheit) von Clemens Holzmeister, Anton Hanak und Josef Thorak (Österreich) von 1935

„Güvenlik Anıtı“ (Denkmal der Sicherheit) von Clemens Holzmeister, Anton Hanak und Josef Thorak (Österreich) von 1935

Auch ohne den aktuellen Putschversuch (nach drei Putschen in der Türkei 1960, 1971 und 1980) lohnt es sich, von hier aus auf militärische Begriffe, Entwicklungen, Traditionen der Türkei zu schauen. Schließlich sind und waren die militärischen Beziehungen eng: Der NATO-Stützpunkt Incirlik Air Base (türkisch İncirlik Hava Üssü) im Süden der Türkei gehört zwar der türkischen Luftwaffe, größter Nutzer aber ist, seit den 1950er Jahren, die US Air Force, inklusive dort stationierter amerikanischer Atomwaffen. In Incirlik dienen aktuell 240 deutsche Soldaten – dass deutsche Bundestagsabgeordnete sie auf dem NATO-Stützpunkt nicht mehr besuchen dürfen sollen, sorgt für diplomatische Verwerfungen zwischen Deutschland und der Türkei. Und nebenbei unterhält die Türkei mit 700.000 Soldaten die zweitgrößte Armee der NATO.

Vorwärts marsch! İleri marş!

Wilde Horde? Ordu ist das türkische Wort für Armee und Heer. Das deutsche Wort Horde (auch so auf englisch und französisch) ist von ordu abgeleitet, steht im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch spätestens seit den vielen „Türckenkriegen“ zwischen den Osmanen und dem christlichen Europa für rohe, wilde Banden oder Rotten. Wild und ungeordnet ist eine Frage der Sichtweise, ungewohnt und fremd auf jeden Fall. Die Janitscharen – Leibwache der Sultane, Eliteeinheit der osmanischen Armeen, furchteinflößende fremde Krieger auch in der deutschen Literatur – waren jedenfalls über Jahrhunderte durchaus straff organisiert. Lange wurden für die Yeniçeri (yeni = türkisch neu, çeri osmanisch für Soldat) aus christlichen Familien rekrutierte Jungen osmanisch erzogen und für den Militärdienst vorbereitet; „Allahu akbar“ war ihr Schlachtruf.

Gegen unliebsame Sultane rebellierten die Janitscharen regelmäßig, ermordeten sie gar hin und wieder. Sultan Mahmut II. hatte 1826 offensichtlich genug davon und beschloss, die Janitscharen durch eine neue Armee, die Siegreiche Armee Mohammeds, zu ersetzen. Eine letzte Janitscharen-Rebellion dagegen scheiterte, weil die Bevölkerung und der große Teil der übrigen Armee auf der Seite des Sultans standen. Die darauf folgenden Hinrichtungen, Verbannungen und Beschlagnahmungen bezeichnete der Sultan als „Wohltätiges Ereignis“.

Militärisches Sperrgebiet an der Bosporus-Mündung zum Schwarzen Meer

Militärisches Sperrgebiet an der Bosporus-Mündung zum Schwarzen Meer

Heute wie damals waren die Heere aus dem fremden „Morgenland“ Stoff für Mythen und Abgrenzung in Europa. Und immer wieder Quelle von Neugier, Faszination und Aneignung: Elemente der Marschmusik der Osmanen, der „Janitscharenmusik“, finden sich in Beethovens Ode an die Freude, natürlich in Mozarts Entführung aus dem Serail und Haydns Militärsinfonie. Die Janitscharenmusik war Ausgangspunkt für die – so typische deutsche … – Marschmusik der Preußen. Bis ins 19. Jahrhundert hießen sächsische und preußische Militärmusiker Janitschar; man ging am Sonntag zur „türkischen Musik“, dem Konzert der örtlichen Militärkapelle.

Einen weiteren osmanischen Titel konnten deutsche Militärs, präziser, deutsche Generäle, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts tragen: Pascha. Das Wort steht heute im deutschen Sprachraum für Männer, die sich von ihren Frauen gerne bedienen lassen, im Türkischen manchmal für die umsorgten männlichen Nachkommen in türkischen Familien. Pascha war bis 1934 in der Türkei und vorher im Osmanischen Reich Titel der höchsten zivilen und militärischen Amtsträger. In Berlin-Neukölln verweist darauf die Gazi-Osman-Pascha-Moschee, benannt nach Osman Nuri Pascha, einem populären osmanischen General und Kriegsminister des ausgehenden 20. Jahrhunderts. In den Zeiten der Militärkooperation zwischen Deutschem und Osmanischem Reich nach Amtsantritt Kaiser Wilhelms II. und bis Ende des I. Weltkriegs „verdienten“ sich einige Deutsche den Pascha-Titel, indem sie die osmanische Armee reformierten und damit gleichzeitig Absatzmärkte für deutsche Rüstungsfirmen erschlossen. Goltz-Pascha zum Beispiel, der preußische Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz, nach dem heute noch die Goltzstraße in Berlin-Spandau benannt ist. Als die Militärkooperation im I. Weltkrieg zu einer deutsch-osmanischen Waffenbrüderschaft geworden war, betrat ein weiterer deutscher Pascha das Schlachtfeld: Otto Liman von Sanders Pascha. In die Geschichtsbücher eingegangen als Oberbefehlshaber der 5. osmanischen Armee, die in der Schlacht von Çanakkale (oder Gallipoli bzw. den Dardanellen) 1915 britische und französische Truppen besiegte.

Emredersiniz! Zu Befehl!

Ein anderer Pascha stand in dieser Schlacht als Kommandant der 19. Division der 5. osmanischen Armee unter dem Befehl des deutschen Paschas: Mustafa Kemal Paşa. Seit 1934 und bis heute besser bekannt als Atatürk. An Atatürks eigenem Mythos und dem Gründungsmythos der Türkei – die eng verwoben sind – wird im Wesentlichen seit dieser Schlacht 1915 geschrieben. Ein Militär, eine Schlacht und der Unabhängigkeitskrieg der türkischen Nationalbewegung unter der Führung Mustafa Kemal Paschas bis zur Gründung der Türkei 1923 sind wesentliche Säulen der türkischen Geschichte. Die seit 1923 ohne Revolutionen, Weltkriegseintritte und politische Systemwechsel fortgeschrieben wird – Grundlage für die weiter anhaltende starke öffentliche Bedeutung des Militärs in der Türkei. So wird bis heute am 30. August der Tag des Sieges und gleichzeitig Tag der bewaffneten Streitkräfte begangen, Zafer Bayrami ve Silahlı Kuvvetleri Günü, zur Erinnerung an den Sieg der türkischen Befreiungsarmee unter Mustafa Kemal über die griechische Armee am 30. August 1922.

Atatürk-Denkmal, Fahnenmast, Sultanahmet

Atatürk-Denkmal, Fahnenmast, Sultanahmet

Mit dem Familiennamensgesetz von 1934 bekam Mustafa Kemal von der Türkischen Nationalversammlung nicht nur den Namen und Ehrentitel Atatürk verliehen, das Gesetz verbot u. a. auch die weitere Verwendung der osmanischen Anrede Paşa. Mustafa Kemal hatte aber schon 1921 einen weiteren Titel verliehen bekommen: Gazi (Ghāzī), mit den laut Wörterbuch mäandernden Bedeutungen Kriegsveteran, Glaubenskämpfer sowie Ehrentitel für Feldherren. In Ankaras Zentrum kreuzen sich denn auch bis heute der Atatürk-Boulevard und der Gazi-Mustafa-Kemal-Boulevard. In der Türkei werden zum Gaziler Günü am 19. September Veteranen der Armee geehrt, seit 1921 schon, nach dem Sieg in der Schlacht am Sakarya.

Erzmarschall, Erbmarschall, Hofmarschall, Feldmarschall – der heutige international gebrauchte militärische Titel Marschall entwickelte sich aus dem althochdeutschen Wort marahscalc, von marah, Pferd, und scalc, Knecht. Während es den Titel Marschall in der Bundeswehr nicht mehr gibt und er in der DDR zwischen 1982 und 1989 zwar existierte, aber nicht verliehen wurde, ist der Mareşal weiter der höchste Rang der türkischen Land- und Luftstreitkräfte. Auf dem Papier: Da der Titel nur für höchste militärische Siege vergeben wird, haben ihn überhaupt nur zwei Männer getragen. Mareşal Mustafa Kemal hat ihn im September 1921 von der türkischen Nationalversammlung verliehen bekommen, der damalige Generalstabschef Fevzi Çakmak 1922.

Erinnert an den türkischen Befreiungskrieg: Cumhuriyet Ağacı (Baum der Republik), Gündoğdu Meydanı, Izmir

Erinnert an den türkischen Befreiungskrieg: Cumhuriyet Ağacı (Baum der Republik), Gündoğdu Meydanı, Izmir

Noch andere hohe Titel mit europäischen Anklängen gibt es seit der Militärreform nach Gründung der türkischen Republik 1923 – eine Reform von vielen, um die Türkei stärker nach Westen auszurichten. Or- , Kor-, Tüm- und Tuğgeneral bzw. –amiral für die Generalsränge zu Land und zur See mischen türkische mit importierten Worten und ersetzen ferik und liva. Die heutigen Binbaşı, Yüzbaşı und Onbaşi – Major, Hauptmann und Gefreiter, wörtlich Oberhaupt von 1000, 100 und 10 – hat es hingegen auch schon in den osmanischen Sultansarmeen gegeben. Wie auch den çavuş (Korporal) mit der interessant klingenden deutschen Umschreibung Tschausch, oder den başçavuş, Oberstabsfeldwebel. Der führt nun wieder zurück zu den Janitscharen, wo der başçavuş, der Obersttschausch, zu den oberen Rängen gehörte. Schade, dass weitere, blumigere Janitscharenränge über die diversen Revolten und Reformen verloren gegangen sind: Çorbacı, der „Suppenverteiler“, Samsuncubaşı, Chef der Hundewärter, Turnacıbaşı, Kranichwärter-Oberst, Zağarcıbaşı, Oberrüdenwärter, zum Beispiel. Der einfachste Dienstgrad – in der Hierarchie und als zu merkendes türkisches Wort – ist heute er. Der Mann, der einfache Soldat.

Alle zusammen sind Soldaten, asker, ein Wort arabischen Ursprungs, das auch für Militär im Allgemeinen benutzt wird. Abgeleitet ist askerlik, der Militärdienst: Grundsätzlich jeder männliche Staatsbürger der Türkei unterliegt der Wehrpflicht. Eine Verweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich, einen Wehrersatzdienst gibt es nicht. 2,1% des türkischen Bruttoinlandsprodukts, ca. 18 Milliarden Dollar, gehen in den Verteidigungsetat (Deutschland 1,2%, 39 Milliarden, USA 3,3%, 596 Milliarden).

Soldat im Anıtkabir, Atatürk-Mausoleum Ankara

Soldat im Anıtkabir, Atatürk-Mausoleum Ankara

Oberbefehlshaber der türkischen Armee ist in Friedenszeiten der türkische Staatspräsident. Seit es türkische Staatspräsidenten gibt, also seit Mustafa Kemal 1923, wurden sie von der Präsidentengarde Cumhurbaşkanlığı Muhafız Alayı, dem Wachregiment des Präsidenten, bewacht. Ein Vorläufer existierte schon seit 1920 zum Schutze des späteren Atatürk. Nach dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 wurde die Auflösung der Präsidentengarde bekanntgegeben – es bleibt abzuwarten, ob und wenn ja wodurch, dieses Paraderegiment, das durchgängig türkis-weiße zeremonielle Uniformen trug, ersetzt werden wird. Gehören eigentlich die „heykel askerleri“, die reglosen Statuensoldaten im Anıtkabir, dem Atatürk-Mausoleum von Ankara, auch zur Präsidentengarde? Türkisweiße Uniformen tragen sie jedenfalls nicht, und sie bewachen auch keinen lebenden Präsidenten.

Rahat: Rührt Euch!

Weiterlesen:
Jürgen Ahrens : Wie deutsch ist das denn? Die populärsten Irrtümer über Deutschland und die Deutschen (Heyne 2013)
Cumhurbaşkanlığı Muhafız Alayı (Präsidentengarde, Wikipedia, Stand 29.07.2016)
Dienstgrade der türkischen Streitkräfte (Wikipedia, Stand 17.08.2016)
Die Janitscharen – Eliteeinheit im osmanischen Heer (Karlsruher Türkenbeute, Stand 29.08.2016)
Liste osmanischer Titel (Wikipedia, Stand 01.07.2016)
Mustafa Kemal Atatürk’e Mareşal Rütbesi ile Gazi Unvanı Verilmesi (haberturk.com, 19.09.2014)
Türkei: Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2005 bis 2015 (Statista, Stand 29.08.2016)
Türkische Streitkräfte (Wikipedia, Stand 25.08.2016)
Türkischer Stützpunkt Incirlik: Erhöhte Sicherheitsstufe für Bundeswehrsoldaten (spiegel.de, 16.07.2016)