Ay, krater! Die Türkei greift nach Mond und Sternen.

„Im Jahr 988 [1580 nach christlicher Zeitrechnung] errichtete der Takîeddîn genannte Astronom unter Zustimmung des Sultanslehrers Sa’eddîn oberhalb von Tophane [in Konstantinopel/İstanbul] einen astronomischen Brunnen. Als er seine Arbeit aufnahm, protestierte der (neue) Hoca Efendi, die Staaten, welche Himmelsbeobachtungen betrieben hätten, seien in kurzer Zeit zu Grund gegangen.“*

Ein paar Jahrhunderte später, im Mai 2015, eröffnet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Ankara das türkische Satellitenzentrum, einen späten Nachfolger dieses Observatoriums, damals „astronomischer Brunnen“ genannt. Auch wenn Erdoğan die Eröffnung als ersten Schritt der Türkei in den Weltraum bezeichnete, besteht Hoffnung, dass die Türkei nicht sofort zu Grunde geht: Das Zentrum wird zunächst nicht den Himmel beobachten, nicht in den Weltraum schauen; es wird ein Satellitenprogramm vorantreiben, das der Observation der Erde AUS dem Weltraum dient.

Keine Satellitenaufnahme, İstanbul aus dem Flugzeug, 2013

Keine Satellitenaufnahme, İstanbul aus dem Flugzeug, 2013

Satelliten hat die Türkei auch ohne das neue Institut schon in den Himmel gebracht – zum Beispiel 2012 Göktürk-2. (Auch da war Erdoğan live dabei.) Gök ist auf Türkisch Himmel, Göktürk also Himmelstürke. Einerseits. Andererseits ist es auch ein Verweis auf die Stammesföderation der Gök-Türken (Göktürkler), die im frühmittelalterlichen Alttürkischen Reich herrschten, wichtiger Bezugspunkt der nationalen Selbstvergewisserung der heutigen türkischen Regierung. Ein Göktürke in traditioneller Tracht war auch dabei, Anfang 2015 beim viel besprochenen Staatsempfang von Erdoğan, bei dem der Präsident umgeben war von 16 verschieden abenteuerlich gewandeten Kriegern (Bild davon auf hurriyet.com).

Zurück in die Zukunft: Göktürk-2 fliegt schon, an Göktürk-1 wird noch gebaut. Nummer 1 ist ein türkisch-italienisches Joint Venture, beauftragt vom türkischen Verteidigungsministerium, verspätet durch verschiedene technische Probleme und politische Rangeleien: Von welchem Land soll ein türkischer Satellit keine hochauflösenden Bilder liefern dürfen? Wenn die türkische Seite den Vertrag zum Bau des Satelliten mit einer italienischen Firma geschlossen hat, deren Geschäftspartner eine französische Firma ist, die Satellitenkamera-Bauteile von einer israelischen Firma geliefert bekommt? Die Fertigstellung von Göktürk-1 wird nun also vom neu eröffneten türkischen Satelliten-Zentrum weitergetrieben. Wie auch der Launch von Göktürk-3 als erstem – weitgehend – wirklich türkischen Satelliten, dann unbehindert von gegenläufigen politischen Erwägungen.

Kein Satellit, Flugzeug der Turkish Airlines, 2012

Kein Satellit, Flugzeug der Turkish Airlines, 2012

Derweil fliegt seit 2011 schon RASAT über der Erde, ein weiterer türkischer Satellit, mit dem Anspruch, das Kartenmaterial für eine Art „Türk Maps“ zu liefern, einen türkischen Konkurrenten für Google Maps. (Vielleicht ist deshalb bei Google-Suchen in der Türkei nie Google Maps als eine Option mit voreingestellt?) Die ersten Schritte dafür sind gegangen: www.gezgin.gov.tr ist online. RASAT und Gezgin, türkisch für weitgereist und Browser, werden betrieben von TÜBİTAK UZAY, Abkürzung für Türkiye Bilimsel ve Teknik Araştırma Kurumu / Uzay Teknolojileri Araştırma Enstitüsü, Scientific and Technological Research Council of Turkey / Space Technologies Research Institute, die Organisation hinter den All-Aktivitäten der Türkei.

Aus den Niederungen der Erdbeobachtung nun aber wirklich der Blick in den Himmel gewandt: RASAT weist den Weg. Rasat steckt im Wort Rasathane, dem türkischen Wort für Observatorium. Gök, Himmel, ist auch Bestandteil des türkischen Begriffes für Astronomie, gökbilim, Himmelswissenschaft – das neutürkische astronomi passt allerdings auch. Die auf Deutsch schon einigermaßen poetische Milchstraße ist auf Türkisch die Himmelsinsel, gökada. Nicht gar zu weit entfernt vom heute seltener gebrauchten deutschen Milchstraßen-Namen Welteninsel. In der (deutschen) Fachsprache heißt die Milchstraße, und nur die, Galaxis, Galaxien gibt es dagegen viele, unendlich viele. Galaksi ist auch der türkische Fachausdruck dafür, das (alt)griechische Wort gala (γάλα, Milch) ist die Quelle. Kozmos, ebenfalls im Altgriechischen wurzelnd, steht auch im Türkischen für das Weltall, den Kosmos, das Universum. Gebräuchlicher ist dafür aber evren, der Name auch für das mythische Drachenwesen ejderha und Nachname des gerade gestorbenen Putsch-Präsidenten Kenan Evren.

Kein Sternenhimmel, glitzernder Bosporus, 2014

Kein Sternenhimmel, glitzernder Bosporus, 2014

Mond, ay, und Stern, yıldız – wer, wenn nicht die Osmanen, sollte den Blick wenden zum Firmament, gökyüzü, dem Himmelsgesicht? Und das taten sie: vor den Europäern und – zögerlicher werdend und dann gar nicht mehr – parallel zu ihnen. Das zu Beginn erwähnte Observatorium wurde 1580 mit einem Schreiben des damaligen osmanischen Sultans Murad III. eröffnet – der Himmel schien dabei ganz nah:

„Dieses ist der Befehl des Allerhöchsten …: indem der Glanz meiner ruhmvollen Gnade und der Wetterstrahl meiner Hochherzigkeit aus dem Wolkenschleier dunklen Zweifels gleich der taghellen Sonne und dem Meteorfeuer des funkelnden Sternes über alle Geschöpfe der Welt und die gesamte Menscheit leuchtet“**

Kometen, kuyruklu yıldız, Sterne mit Schweif, Meteore, göktaşı, Himmelssteine, Sternschnuppen, akanyıldız, versinkende, herabstürzende Sterne: Sie alle sollten in den astronomischen Brunnen fallen, aus Konstantinopel beobachtet werden. Und doch blieb das Observatorium bloß eine Episode, es bestand – je nach Quelle – nur wenige Monate oder Jahre, dann zerstört auf Betreiben des nachfolgenden Sultanslehrers. Das war der Start in eine lange Periode des osmanischen Desinteresses an der Astronomie.

Kein Observatorium, SantralIstanbul, „Tate alla turca“

Kein Observatorium, SantralIstanbul, „Tate alla turca“, 2012

Das Observatorium von Konstantinopel war eine der letzten Episoden einer traditionsreichen Geschichte der osmanisch-arabischen Astronomie. Quellen beschreiben den Initiator des Observatoriums, Taqi ad-Din Muhammad ibn Ma’ruf ash-Shami al-Asadi, als osmanischen Universalgelehrten auf den Feldern der Astronomie, der präzisen Zeitmessung, der Mathematik u. a., dessen Bestimmung von Sternenkoordinaten präziser war als die seiner europäischen Zeitgenossen Tycho Brahe und Nikolaus Kopernikus. (ausführlicher, bebilderter Artikel zum Observatorium für Türkischkundige).

100 Jahre vorher, in den 1470ern, hatte der Astronom, Mathematiker und Theologe Alāʾ ad-Dīn ʿAlī ibn Muhammad al-Quschdschī – auf Türkisch kurz Ali Kuşçu – am Hof von Sultan Mehmet II., dem Eroberer von Konstantinopel, Kometen beobachtet, Ptolemäus‘ Modell der Bewegung des Planeten Merkur reformiert, astronomische Theorien mitentwickelt, die auch von Kopernikus im fernen Preußen gelesen wurden.

Kein Halbmond, Mond über İstanbul, 2014

Kein Halbmond, Mond über İstanbul, 2014

Ali Kuşçu war Schüler von Uluğ Bey, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Mathematiker, Astronom und – ja, auch das – Sultan bzw. Timuridenfürst in Samarkand. Uluğ Bey gründete das berühmte Observatorium in Samarkand; sein Sternenkatalog Zij-i-Sultani, eingeordnet als der bedeutendste nach dem von Ptolemäus und vor dem von Tycho Brahe, war wesentliche Grundlage für die Entwicklung der europäischen Astronomie. So bedeutend, dass der deutsche Astronom Johann Heinrich von Mädler einen Mondkrater nach Uluğ Bey benannte. Krater heißt auf Türkisch krater – dass einer den Namen des „türkischen Staatsmannes“ Uluğ Bey trägt, ist meinem türkischen Tagesabreißkalender eine Meldung in der Rubrik „Çağını aşanlar“ („Die, die Epochen übergreifen“) am 31.3. wert, der Tag, an dem 1966 die sowjetische Sonde Luna 10 in Richtung Mond startete. Da passt doch jetzt dieses Uluğ Bey zugeschriebene Zitat:

„Die Religionen zerstreuen sich wie Nebel, die Zarenreiche zerstören sich von selbst, aber die Arbeiten des Gelehrten bleiben für alle Zeiten. Das Streben nach Wissen ist die Pflicht eines jeden!“

Die Schließung und Zerstörung des ersten Observatoriums in Konstantinopel 1580 wird mit der Fatwa eines islamischen Rechtsgelehrten in Verbindung gebracht; es wird auch der Vorwurf formuliert, dass Astronomie im Osmanischen Reich lange nur noch der Bestimmung der korrekten Gebetszeiten diente: „Timekeepers took the place of astronomers“ (mehr dazu auf der Website des Kandilli Observatoriums der Boğaziçi Üniversitesi, İstanbul) Auch Ali Kuşçu war schon nicht nur Mathematiker und Astronom, sondern forschte auch auf dem Feld der islamischen Theologie und analysierte den Koran. (Währenddessen nutzte Europa das astronomische Wissen, um die die kolonialen Raubzüge über die Meere präziser und damit weniger verlustreich zu gestalten.). Erst im 19. Jahrhundert gab es wieder ein Observatorium im Osmanischen Reich, zunächst für meteorologische Beobachtungen, später auch für astronomische. Heute betreibt das oben zitierte Kandilli Observatoriums der Boğaziçi Üniversitesi ein Astronomi Laboratuvarı, neben solchen für Geodäsie, Meteorologie und Erdbebenbeobachtung.

Kein Raumschiff, Moschee in Taksim, İstanbul, 2014

Kein Raumschiff, Moschee in Taksim, İstanbul, 2014

Astronot, kozmonot – der Stolz einer jeden (Raumfahrt-)Nation sind natürlich die Menschen im All. Krieg der Welten und der Systeme: Siegmund Jähn, erster deutscher Raumfahrer, Held in Deutschland-Ost, Ulf Merbold, erster BRD-Raumfahrer, Held in Deutschland-West, Juri Gagarin, erster Raumfahrer überhaupt, Held der Sowjetunion – mit dem weltbekannten Helm-Foto auch 54 Jahre danach Thema in meinem türkischen Tageskalender. Die türkische Sprache kennt die beiden Begriffe astronot und kozmonot aus den lange konkurrierenden West- und Ostraumfahrtprogrammen. Natürlich hat sie auch einen eigenen Begriff für Raumfahrer: uzay adamı (uzay = Weltall, adam = Mann) bzw. genderpolitisch korrekt uzay insanı (insan = Mensch). Begriffe gibt es also schon, aber bisher noch kein türkisches Leben im All, trotz eines 2004 verabschiedeten Kooperationsvertrags der Türkei mit der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Also gründet die Türkei nun wahrscheinlich doch recht ganz bald und wirklich ihre eigene Weltraumbehörde, die Turkish Space Agency (zur langjährigen Vorgeschichte hier und hier).

Keine Raumkapsel, Seilbahn Maçka Parkı, İstanbul, 2014

Keine Raumkapsel, Seilbahn Maçka Parkı, İstanbul, 2014

Große Brücken über den Bosporus, tiefe Tunnel darunter, türkische Satelliten könnten in Sachen Technik- und Nationalstolz noch übertroffen werden von Menschen aus der Türkei im All: Die Vertreter des türkischen Weltraumprogramms lassen daher auch anklingen bzw. dementieren nicht, dass es schon 2023 ein bemanntes türkisches Raumschiff im All geben könnte – passend zum 100. Geburtstag der Türkischen Republik. Wir werden 2023 sehen, ob es die Liveübertragung des Drückens eines roten Startknopfs gibt. Oder ob man sich in der Türkei, um nicht „in kurzer Zeit zu Grund“ zu gehen, auf die Beobachtung aus dem Himmel konzentriert haben wird.

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PS: TSA hat übrigens schon Informationen zum ersten Türken im All – allerdings ist das nicht die Turkish Space Agency, sondern die Türk Sineması Araştırmaları, die Türkischen Filmforschungen, die die Informationen zu „Tourist Ömer auf Pfaden im Weltall“ (Turist Ömer Uzay Yolunda) liefert, dem ersten türkischen Spacefilm 1973. 1982 folgen ihm die türkischen Weltraum-Piloten Mustafa und Ali im berühmt-berüchtigten „Turkish Star Wars“, dem Trashfilm Dünyayı Kurtaran Adam (Der Mann, der die Welt rettet). 2006 fortgesetzt mit Dünyayı Kurtaran Adamın Oğlu (Der Sohn des Mannes, der die Welt rettete), mit dem deutschen Titel, der auch über diesem Artikel stehen könnte: Türken im Weltall.

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Inspiriert von Hagen Matuschek

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Quellen:
* Aus dem Geschichtswerk „Karaçelebî-Zâde“, abgeschlossen im 17. Jahrhundert, zitiert in Klaus Kreiser: Istanbul: Ein historischer Stadtführer (C. H. Beck, 2009), S. 243,
** ebd. S. 244

Ankara-Paris arasında ‚Göktürk-1 savaşı‘ (zaman.com.tr, 27.12.2012)
Astronot, kozmonot ya da uzay insanı (Wikipedia, Stand 05.08.2015)
Erste Schritte in den Weltraum – Türkei eröffnet Satellitenzentrum (Eurasianews, 22.05.2015)
The first observatory in the Ottoman Empire Istanbul Observatory “Darür Rasad-ül Cedid” (Kandilli Observatoriums der Boğaziçi Üniversitesi, İstanbul (Stand 05.08.2015)
Göktürk-1 (Wikipedia, Stand 27.07.2015)
Kök-Türken (Wikipedia, Stand 16. Juli 2015)
Ali Kuşçu (kultur.gov.tr, Stand 05.08.2015)
Space Launch System Turkey, Uydu Fırlatma Sistemi (Wikipedia, Stand 23. März 2015)
Türkei greift nach den Sternen: Bis 2023 sollen türkische Astronauten ins All (shortnews.de, Stand 05.08.2015)
Türken in den Weltraum? Die Türkei hat eine Türkische Weltraumbehörde gegründet. (vabee.de, Stand 05.08.2015)
Ulugh Beg (Wikipedia, Stand 26. Juli 2015)