Oy!

Oy heißt die Wahlstimme auf Türkisch, und die sollen Staatsbürger der türkischen Republik am 24. Juni 2018 bei den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgeben. Weil Laytmotif komplett neutral und unpolitisch ist, natürlich, könnte es heute wieder einen neutralen und unpolitischen Artikel zu Kolonya veröffentlichen (kommt noch) oder einen zur hübschen Farbe Türkis (gab’s schon) statt eines Beitrags zur „Schicksalswahl in der Türkei“, wie viele deutsche Medien kommentieren.

Ay Yıldız, Mond und Stern

Indifferenz bzw. Ignoranz hat allerdings schon 2015 nicht funktioniert, bei der letzten türkischen Wahl, und drei Jahre später kann man sich in Deutschland dem Thema noch viel weniger entziehen. Diesmal ist es Cabbar, der Freund aus der Türkei, der Laytmotif endgültig wieder hineinzieht in die Angelegenheit: „Willst Du mich heute Abend am Wahllokal abholen, Heerstraße? Ich muss noch meine Stimme abgeben.“ Von den mehr als 56 Millionen Wahlberechtigten können, wie bei den letzten Wahlen auch schon, im Ausland lebende türkische Staatsbürger – in Deutschland ca. 1,4 Millionen – ihre Stimme direkt in dem Land abgeben, in dem sie leben. Die Wahllokale sind vom 7. bis zum 19. Juni geöffnet; das einzige Wahllokal in Ostdeutschland ist das türkischen Generalkonsulat in der Heerstraße.

An einem lauen Sommerabend gibt es eine kleine Warteschlange vor dem Generalkonsulat. Das Gebäude ist mit türkischen Flaggen geschmückt, türkischsprachige Schilder weisen den Weg zur Stimmabgabe. Rund um das Gebäude ist eine Sicherheitszone eingerichtet, rot-weiße Absperrgitter regeln einen geordneten Zugang. Für Ordnung und Sicherheit sorgen die deutsche Polizei und ein Sicherheitsdienst; ähnlich wie bei jüdischen Einrichtungen in Berlin darf nicht einmal ein Fahrrad in der Nähe des Gebäudes geparkt werden. Also trauen wir uns auch nicht zu fotografieren, und dieser Artikel wird ganz neutral mit dem unverwüstlichen Symbol der türkischen Republik illustriert, Ay Yıldız, Mond und Stern. Selfies aus dem Gebäude oder gar der Wahlkabine verbieten sich ohnehin, bei türkischen Wahlen und bei deutschen auch.

„Langweilig“ sagt Cabbar, „ein Artikel über die türkische Wahl ohne Politik, wen interessiert das?“ Es sind die letzten Tage eines heißen Ramadans in Berlin; während anderswo in der Stadt auf den Sonnenuntergang und das tägliche Fastenbrechen gewartet wird, diskutieren wir bei einem Bier neutrale Wahlthemen. Laytmotif hatte schon 2015 kurz überlegt, Nachnamen von Parteivorsitzenden zum Thema zu machen – die wörtliche Bedeutung türkischer Nachnamen ist zumindest für Lernende der türkischen Sprache immer wieder eine schöne Vokabelübung. (Artikel auf Laytmotif). 2015 waren 19 Parteien zur Wahl angetreten. Das wären zu viele Namen gewesen, und es waren auch nicht alle zu ermitteln – 2018 ist das anders: Nur 8 Parteien werden laut Hohem Wahlausschuss diesmal an der Wahl teilnehmen. Versuchen wir es mal mit ihren Vorsitzenden, in alphabetischer Reihenfolge der Parteinamen:

  1. AK Partisi Adalet ve Kalkınma Partisi / Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung / Recep Tayyip Erdoğan: er = früh, Mann, einfacher Soldat, doğan = geboren
  2. CHP Cumhuriyet Halk Partisi / Republikanische Volkspartei / Kemal Kılıçdaroğlu: kılıç = Schwert, dar = schmal, spitz, oğlu = Sohn des
  3. HDP Halkların Demokratik Partisi / Demokratische Partei der Völker / Pervin Buldan und Sezai Temelli: Buldan = ein Ortsname, temelli = fundiert
  4. Hüda-Par Hür Dava Partisi / Partei der Freien Sache / Zekeriya Yapıcıoğlu: yapıcı = Hersteller, Erbauer, oğlu = Sohn des
  5. İYİ İyi Parti / Gute Partei / Meral Akşener: ak = weiß, rein, şen = fröhlich, glücklich
  6. MHP Milliyetçi Hareket Partisi / Partei der Nationalistischen Bewegung / Devlet Bahçeli: bahçe = Garten, li = mit
  7. SP Saadet Partisi / Partei der Glückseligkeit / Temel Karamollaoğlu: kara = schwarz, molla = Mullah, oğlu = Sohn des
  8. Vatan Partisi / Vaterlandspartei / Doğu Perinçek: perinçek = im Alltag nicht mehr benutztes türkisches Wort für treu, ergeben

Tamam, ok, damit sind auch gleich die Namen der antretenden Parteien genannt; bis auf die Hür Dava Partisi und İYİ waren alle schon bei den letzten Wahlen dabei. Während die Hüda-Par wohl keine Rolle spielen wird, ist İYİ in aller Munde. Die Partei von Meral Akşener sei geeignet, wie die HDP bei den letzten Wahlen, das aktuelle Stimmengefüge durcheinander zu bringen. Man kann eine Partei Partei der Glückseligkeit nennen, man kann einen Parteinamen so wählen, dass wie bei der Adalet ve Kalkınma Partisi ein Akronym entsteht: AK Partisi, reine Partei. Oder man behauptet einfach selbstbewusst im Parteinamen, man sei die Gute Partei, İyi Parti: İyi akşamlar, guten Abend, iyi geçeler, gute Nacht. Außer, dass iyi ein gutes und allgegenwärtiges Wort ist, bekommt es in Großbuchstaben eine Symbolik aus der türkischen Mythologie: İYİ. İYİ ist auch ein Zeichen für zwei Pfeile (İİ) und einen Bogen (Y), İki Ok Bir Yay, Symbol des oghusischen Stamms der Kayı, die oft zu den mythischen Vorfahren der Osmanen gezählt werden. Warum so weit in die Vergangenheit? Nun, der Bezug auf türkische Vorfahren dürfte nicht zufällig gewesen sein – und hier geht es dann doch an die politischen Labels, die zumindest Wikipedia vergibt: İYİ wird als eine nationalistische und nationalkonservative Partei eingeordnet, Meral Akşener war bis zu ihrem Ausschluss 2016 Mitglied der ebenfalls nationalistischen MHP. Die MHP tritt bei den kommenden Wahlen gemeinsam mit der islamisch-konservativen AKP in der Volksallianz an. İYİ, auch ein bisschen kemalisisch, bildet mit der kemalistisch, sozialdemokratischen CHP und der demokratisch-sozialistisch, pro-kurdischen HDP bei den Wahlen das Bündnis der Nation.

Bei der Symbolanalyse von İYİ belassen es Cabbar und ich dann auch, es wird ja doch schon wieder politisch. Die wirklichen Analysen werden nach dem 24. Juni unternommen werden, mal sehen, welche Namen man sich in Zukunft wird merken müssen. Egal, welches Lager gewinnt, Cabbar und die Millionen Auslandstürken dürften in Deutschland nach der Wahl verstärkte Aufmerksamkeit bekommen: Die AKP will diese noch stärker unterstützen, die CHP auch. Na dann, auf zur nächsten Wahl in der Heerstraße.