Mekka in Belgien und Spuren von Nevin Aladağ: Laytmotif reist weiter nach Leuven.

Mai 2018: Gent | Leuven

Im belgischen Leuven, auch auf Türkisch Leuven, auf Deutsch Löwen, stellt Nevin Aladağ aus – und das ist einen Zwischenstopp auf dem Rückweg von Gent wert. Der Kurzcheck beim Reiseberater online lässt allerdings schon ahnen, dass der türkische Stempel in Leuven eher unscheinbar ist: Für Gent werden in der Rubrik „Türkische Gastronomie“ 30 Lokalitäten gelistet, für Leuven gerade mal zwei. Wobei Chee Kofte mit Çiğ Köfte, Kumpir und Bulgur Dumplings eher Imbiss als Restaurant ist. Es wehen einem in Leuven keine türkischen Worte ins Ohr, es preisen keine Restaurantschilder mit türkischen Worten die türkische Küche. Ja klar, es gibt auch ein, zwei Kebap-Läden in den Seitenstraßen; anders als in Gent prägt aber Türkisches gar nicht das Stadtbild. Jetzt ist Laytmotif aber nun einmal hier, macht sich also über die Gründe Gedanken, und über eher verborgene Spuren.

Chee Kofte, Gent 2018

Chee Kofte, Leuven 2018

„Mecca of Beer“ nennt Visit Flanders Leuven, und Visit Leuven gibt der Stadt den Titel „the Capital of Beer“ – wir müssen über Bier reden: Denn so wie das wirkliche Mekka keine Stadt für Biertrinker ist, dürfte Leuven ganz grundsätzlich nicht erste Wahl für Anhänger einer Religion sein, deren Zentrum Mekka ist. Die Universität gibt Seminare „Belgian Beer explained“ oder „A Brief Economic History of Beer“; den Alten Markt in Leuven bezeichnet Tripadvisor als „die längste Theke der Welt“. Das globale Headquarter und große Produktionsanlagen des Biergiganten Anheuser-Busch InBev stehen in Leuven. Produziert wird inzwischen etwas außerhalb des Zentrums – das verlassene alte Fabrikgelände von Interbrew und Stella Artois erinnert ein wenig an die Bomonti Brauerei in der Birahane Sokak in Istanbul: Es wurde Platz gemacht für teure Wohnungen und Geschäftshäuser. Während Gent im industriellen Nachkriegsboom Arbeitskräfte auch aus der Türkei für die Fließbandjobs in den Textilfabriken und im prosperierenden Hafen brauchte, war Leuven eben die, zudem auch kleinere, Stadt der Bierherstellung.

Bier mag zwar in Mesopotamien erfunden worden sein, groß gemacht haben es aber katholische Mönche – Bier, wie wir es heute kennen, hat sehr christliche Ursprünge. Zur Zeit der Kreuzritter schon wurde Bier in Klöstern und Abteien gebraut, von angegliederten Schänken an die vorbeiziehenden Söldner verkauft. Heute noch zeigen belgische Bierregale oft Mönche und Äbte; das berühmte belgische Trappistenbier wird immer noch von Angehörigen eines römisch-katholischen Ordens gebraut. Leuven ist – neben all der studentischen Laissez-Fair-Atmosphäre einer entspannten Stadt – christlich-katholisch geprägt, überall gibt es Madonnen, Jesusskulpturen, Straßen, die mit Sint-/Sankt- beginnen, Abteien und natürlich Kirchen. Und es gibt die Katholische Universität – Leuven ist die Universität, und die Universität ist Leuven, mit fast 19.000 Beschäftigten neben der Bierindustrie bedeutendste Arbeitgeberin der Stadt. Die Katholische Universität, heute neutraler KU genannt, bestimmt das Bild der Stadt. 1425 von einem Papst gegründet, ist Sedes sapientiae, der „Sitz der Weisheit“, eine Madonna mit Jesus auf dem Arm, bis heute das Wappen der Universität und prangt auf ihren Merchandising-Produkten.

Bieren Artois an der St. Gertrud Abtei, Leuven 2018

Bieren Artois an der St. Gertrud Abtei, Leuven 2018

Zentrales Element der prächtigen Fassade der Leuvener Universitätsbibliothek ist eine andere Madonna. Eine behelmte Kriegermadonna, die – mit dem Jesuskind auf dem Arm – mit dem Schwert in der anderen Hand, nein, keine Mondsichel durchbohrt oder gleich einen Osmanen, wie die Türkenmadonnen vergangener Jahrhunderte. Sondern den preußischen Adler: Im Ersten Weltkrieg, im August 1914, hatte das deutsche Heer das „belgische Cambridge“ in Brand gesteckt, hunderte Menschen starben, die berühmte alte Bibliothek mit ihrem unersetzlichen Schriftbestand wurde zusammen mit fast der kompletten Stadt vernichtet. Bis auf das Rathaus ist praktisch jedes Haus nach 1914 gebaut, wie auf den identischen Jahreszahlenschildern steht. „Ici finit la culture Allemande“ (deutsch: „Hier endet die deutsche Kultur“) wird Teil der Kriegserzählung der Entente. Leuven wird zum Fanal für eine bedrohte europäische Kultur, Universitäten und Christentum bedroht von deutschen Barbaren, die im Bunde mit den muslimischen Osmanen sind. In den 1920ern schenkten die USA Leuven die neue Bibliothek, die so aussieht, als stünde sie schon seit dem Mittelalter an dieser Stelle. Die Madonna sollte, wie zur Zeit der Türkenkriege, für den Kampf des zivilisierten, christlichen Abendlands, gegen gottlose Hunnen und Barbaren stehen.

Die KU ist heute eine der renommiertesten Universitäten weltweit, unter den mehr als 55.000 Studierenden gibt es auch welche aus der Türkei bzw. mit Türkeihintergrund: Die Turkse Studentenvereniging Leuven – TSL bietet Çay-Verkostungen an. Leuven also nicht die Stadt für viele ungelernte türkische Arbeitskräfte, sondern für wenige „bright minds“. Und wenn es auch global um höhere Wesen und sich feindlich gesinnte Religionen gehen mag: An der KU kann es neben religiösen Studien auch Neuroelectronics oder Humangenetik geben. Und seit 2010 bis heute einen von Fetullah Gülen finanzierten Lehrstuhl, den Fethullah Gülen Chair for Intercultural Studies. Die Uniwebseite beschreibt seinen Zweck recht allgemein: Interkulturelle Verständigung mit dem Fokus auf Beziehungen muslimischer Communities zur europäischen und belgischen Gesellschaft. Nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 sorgt der Lehrstuhl allerdings für interkulturelle Missverständnisse: Die Türkei macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich; neben 27 anderen internationalen Universitäten mit Gülen-Verbindungen steht deshalb die KU als einzige belgische Universität auf einer schwarzen Liste der türkischen Regierung. Damit herrschte zumindest eine Zeitlang Unsicherheit darüber, ob KU-Diplome von türkischen Behörden weiter anerkannt werden. („Turkish ambassador gives Leuven University assurances“, Flandersnews 02.04.2017).

Nevin Aladağ: Session, Leuven 2018

Nevin Aladağ: Session, Leuven 2018

Laytmotif ist aber ja nicht aus politisch-religiösen Erwägungen nach Leuven gefahren. Sondern um Nevin Aladağs erste Einzelausstellung in Belgien zu sehen: „Rollin’“, von März bis Mai 2018 am STUK – House for Dance, Image & Sound in Leuven. (Wobei, es ist ja alles politisch…) Nevin Aladağ, geboren 1972 weit im Osten der Türkei, in Van, aufgewachsen in Stuttgart und in Berlin lebend, hat u. a. an documenta, der Istanbul- und Venedig-Biennale teilgenommen, am Haus der Kulturen der Welt und im Gorki-Theater in Berlin ausgestellt. Teil der Ausstellung in Leuven sind zwei großartige und großformatige Videoarbeiten, Traces/Spuren, aufgenommen in Stuttgart, und Session, produziert für die Sharjah-Biennale in Dubai. In der Wüste, auf Straßen, in Parks und Fußgängerzonen, in und auf dem Meer machen Instrumente alleine Musik, Tamburine auf Mopeds und von Wellen geschlagen, Schellenringe rollend und auf Schaukelpferden, Trommeln im Sand und auf der Straße, Akkordeons. (Video von Nevin Aladağ, Session, 2013, Galerie Wentrup Berlin)

„Traces/Spuren ist nicht nur ein Theater animierter Materie, sondern auch kultureller Bezüge in Bewegung – dynamisch und skurril, oft aber auch faul, ziellos und melancholisch. Wenn die Stadt sich selbst spielt, ist sie launisch.“
Andreas Schlaegel

Auf dem Weg zurück ins Hotel das Trommeln eines Basketballs auf der leeren Straße, Vogelgesang, Musik aus einem Ballettworkshop, Hupen: Plötzlich klingt die abendstille Stadt nach Nevin Aladağs poetischen und beglückenden Arbeiten. Traces, Spuren, auf denen sich kulturelle Bezüge zeigen und bewegen, gibt es eben überall auf der Welt.

Nevin Aladağ: Traces, Leuven 2018

Nevin Aladağ: Traces, Leuven 2018

Mai 2018: Gent | Leuven

Zum Weiterlesen:
Andy Furniere: Turkey refuses to recognise KU Leuven diplomas (Flanderstoday, 04.04.2017)
Katholieke Universiteit Leuven (Wikipedia Stand 13.06.2018)
Andreas Schlaegel: The city plays itself. In Focus: Nevin Aladağ. (Frieze, 21.08.2015)
Turks in Belgium (Wikipedia, Stand 12.04.2018)