Hattat: Vom schönen Schreiben

Kalligrafie ist schön. Kalligraphie ist schreiben. Kaligrafi ist schön schreiben: Im Kleinformat oder monumental, damals in den osmanischen Schreibstuben und an Moscheewänden, heute in Kalligrafiekursen, an Hauswänden oder auf urban calligraphy competitions. Kalligrafie, vor der deutschen Rechtschreibreform Kalligraphie, kommt von den beiden  griechischen Worten für „schön“ und „schreiben“. Kaligrafi ist auch im Türkischen ein seit der türkischen Sprachreform 1928 benutztes Wort dafür, neben dem älteren hat (Linie, Strich, vom arabischen khat – Schreiben) bzw. hat sanatı (Linienkunst), die der hattat (Kalligraf) ausführt.

Topkapı Saray / Sultanspalast, İstanbul, 2010

Topkapı Saray / Sultanspalast, İstanbul, 2010

Jetzt aber der Reihe nach: „Im Anfang war das Wort“. Heute oft ganz weltlich, sprichwörtlich gebraucht, steht dieser Satz aus der Bibel für die Bedeutung von Schrift und Worten in Religionen, in Gesellschaften und Kulturen. Und das – heilige – Wort musste niedergeschrieben werden, immer wieder, meditativ, preisend, ausschmückend, zunächst in den Gotteshäusern aller Religionen, in China, Japan, und – für Laytmotif besonders interessant – in christlichen Klöstern und Kirchen, in islamischen Medresen und Moscheen.

Wandbemalung Alte Moschee / Eski Cami, Edirne. Foto: Nevit Dilmen, Creative-Commons

Wandbemalung Alte Moschee / Eski Cami, Edirne. Foto ©: Nevit Dilmen, Creative Commons

In westlichen Schreibstuben konzentrierte man sich im Gegensatz zur traditionellen islamischen Kalligrafie historisch auf klar lesbare einzelne Buchstaben des lateinischen Alphabets – eine wichtige Grundlage übrigens für die in diesen Regionen sehr viel früher eingeführte Typografie, die Kunst des Druckens mit einzelnen beweglichen Lettern. Die handgeschriebenen Texte wurden angereichert durch aufwendige figürliche Illustrationen und prächtig illustrierte Anfangsbuchstaben, die Initialen, und eher reduzierte kalligrafische Elemente im Fließtext.

Das Bilderverbot im Islam zur Vermeidung bildlicher Darstellungen von Menschen und Tieren hingegen sorgt über Jahrhunderte – zunächst in der religiösen Literatur – für eine starke Konzentration auf die reiche Ausgestaltung der Schrift selbst, für aufwendige textliche Ornamente und Miniaturen. Dabei ging es um mehr als ein paar Schnörkel an Buchstaben; es entwickelten sich verschiedene Stile einer herausragenden arabischen Kalligrafie für alle Bereiche des Lebens, in Büchern, Zeichnungen, im öffentlichen Raum. Gerade und zuerst im religiösen Bereich wurden dann eben doch symbolische Bilder gemalt – aus hochkomplexen kalligrafischen Schriftzeichen.

Blaue Moschee / Sultanahmet Camii, İstanbul, 2010

Blaue Moschee / Sultanahmet Camii, İstanbul, 2010

Kalligraphen des Osmanischen Reichs waren bei der kunstvollen Vermittlung des Korans – übersetzt der Vortrag, die Lesung – führend, nach einem Sprichwort wurde der Koran zwar in Mekka und Medina offenbart und in Ägypten rezitiert, in Istanbul aber unter ständiger Perfektionierung aufgeschrieben. Ab dem 16. Jahrhundert bis zur Abschaffung 1924 beanspruchten die osmanischen Sultane mehr oder weniger stark neben ihrem weltlichen Herrschertitel auch den des Kalifen, des Oberhaupts des Islams. Meisterkalligrafen in Istanbul haben diesen Anspruch durch die kunstvolle Wiedergabe der Worte des Propheten zeichnend und gestaltend untermauert.

Begünstigt wurde das schöne Schreiben durch das arabische Alphabet, das im Osmanischen Reich und der jungen türkischen Republik bis 1928 genutzt wurde. Im  Türkisch-Osmanischen standen 28 arabische Originalbuchstaben zur Verfügung, ergänzt um einige persische und einen türkischen Buchstaben sowie besondere Schriftzeichen wie Punkte zur Kennzeichnung von grammatischen Abweichungen. Der Aufbau der von rechts nach links zu schreibenden Schrift ermöglicht das vertikale und diagonale Neugruppieren unter Beibehaltung der Lesbarkeit – alles zusammen ideale Grundlage zum Malen von Bildern mittels Schrift. Osmanische Kalligrafen nutzten mehrere arabische Grundschriftarten, kombiniert mit sich ständig weiterentwickelnden kunstvollen osmanischen Schriftstilen in unterschiedlichen Graden der Eleganz und Verschnörkeltheit, für verschiedene Zwecke wie Zeichen an und in Moscheen, später auch öffentlichen Gebäuden, zum Kopieren der unterschiedlichen Größenvarianten des  Korans, für den formalen Schriftverkehr.

Tuğra an der Osmanischen Kanonengießerei / Tophane-i Amire, İstanbul, 2012

Tuğra an der Osmanischen Kanonengießerei / Tophane-i Amire, İstanbul, 2012

Ein Prachtbeispiel für öffentlich gezeigte Kalligrafie mit weltlichem und religiösem Anspruch ist die Tuğra – das kalligrafische Herrschaftssymbol der osmanischen Sultane. Das Emblem, das Siegel des jeweilig herrschenden Sultans bestand aus kunstvoll miteinander verschlungenen Worten wie dem Namen des Sultans, seines Vaters, unterschiedlichen Siegesformeln. Die prächtige Tuğra war auf unzähligen Schriftstücken gezeichnet, aber auch an vielen Gebäuden angebracht: Der Sultan, Kalif und gleichzeitig Alleinherrscher, trägt damit an den Hauswänden auch ein Machtsymbol nach draußen.

Hauseingang, İstanbul 2013

Hauseingang, İstanbul 2013

Wie in allen Kulturen setzt auch bei der osmanischen Schreibkunst ein Verweltlichungsprozess ein: Mitglieder des Hofstaats zum Beispiel haben eigene Zeichen, weniger aufwändige, aber immer noch machtvolle; kalligrafische Zeichen werden an öffentlichen Gebäuden angebracht, später auch an den Hauseingängen von Privathäusern. Die türkische Sprachreform 1928 dürfte einer der entscheidendsten Schritte zur Verweltlichung und Säkularisierung der Kalligraphie in der Türkei gewesen sein: Das arabische Alphabets wurde praktisch über Nacht durch eine Variante des lateinischen Alphabets – das neue türkische Alphabet – ersetzt. Über Jahrhunderte gelernte, auf das Arabische bezogene Schreibtechniken wurden plötzlich marginalisiert, traditionelle Kalligrafen verloren öffentliche und private Auftraggeber. Und wurden gezwungen, sich auf die neuen Buchstaben einzustellen, die traditionellen Schönschreib-Elemente auf das lateinische Alphabet anzuwenden: Das lateinische Alphabet in einer ehemals ornamental-arabischen definierten Schreibkultur führte zu einer besonderen türkischen Form der Kalligrafie, der man die osmanischen Einflüsse je nach Schreibstil mehr oder weniger stark ansieht: einzeln verzierte Buchstaben, eine faszinierende Ornamentik, arabische Sonderzeichen, z. B. Punkte, werden weiter genutzt, obwohl sie keine grammatische Funktion mehr haben.

Handgemalte Einladungskarten, İstanbul 2013

Handgemalte Einladungskarten, İstanbul 2013

So ganz verschwand die arabische Kalligrafie in der Türkei aber nie, in einer – zumindest gegenwärtig noch – Nische blieb sie erhalten. Sprache und Schrift des Koran sind weiter arabisch, das Zeichnen religiöser arabischer Motive ist die Profession einer – wieder wachsenden Zahl? – islamischer Kalligrafiekünstlerinnen und -künstler. Diese religiöse Kunstform entwickelt sich weiter – und wird staatlich gefördert: Die offizielle türkische Kulturpolitik unterstützt aktiv eher die Bewahrung dieses osmanisch geprägten (kalligrafischen) Erbes, als säkulare, westlich ausgerichtete Kunst und Design aus dem Biennale-Umfeld, die fast ausschließlich von Privatfirmen gefördert werden.

Kiosk, İstanbul 2013

Kiosk, İstanbul 2013

Auf das lateinische Alphabet bezogene weltliche kalligrafische Techniken finden seit 1928 Anwendung auf Einladungskarten, Hausbeschriftungen, professionellen Firmenlogos, Aushängen an Moscheen, die vielleicht lieber arabisch sein möchten, bei aller Art von Aushängen, die vielleicht auch einen Anklang vom Orient vermitteln wollen.

Während es über Jahrhunderte natürlich gegenseitige Beeinflussungen von Ost und West gab, war der Unterschied lange klar: Arabisch-osmanisch-türkische Kalligrafie ornamental in jedem Buchstaben, mit Worten gemalte Bilder, westliche Kalligrafie klarer lesbare gleichlaufende Schrift mit einzelnen Buchstaben, verzierten Initialen und Illustrationen. Heute jedoch, in einer global vernetzten Welt, sind Verschmelzungen vor Allem in den Bereichen Kunst und Design auszumachen.

Graffiti, Berlin 2014

Graffiti, Berlin 2014

Manchmal mehr, manchmal weniger deutlich ins Auge springendes Beispiel einer solchen Verschmelzung: Graffiti, auf Türkisch ganz einfach grafiti, schon etymologisch direkt mit der Kalligrafie verbunden. Das Thema Graffiti ist global und komplex, strittig und politisch – gerade auch was Graffitis im öffentlichen Raum aktuell in der Türkei angeht, und kann deshalb hier nur angerissen werden. In bestimmten Graffiti-Spielarten bilden kaum mehr erkennbare  Einzelbuchstaben kalligrafisch ein Wort, einen Satz, der ein Bild ist. Eine Voraussetzung der Kalligrafie erfüllen Graffitis oft: Relevante Botschaften mittels Schriftzeichen zu senden. Da ein Hauptmerkmal von Graffitis allerdings die Platzierung dieser Zeichen im öffentlichen Raum ist und das in aller Regel eher im illegalen und halblegalen Bereich stattfindet, fehlt Graffiti-Künstlern oft eine notwendige kalligrafische Voraussetzung: ausreichend Zeit bei der meditativen Umsetzung ihrer Botschaft.

Graffiti, İstanbul 2013

Graffiti, İstanbul 2013

Sobald Zeichner kalligrafischer Graffitis allerdings Schritte zur öffentlich anerkannten Kunstwerdung und damit auch zur Kommerzialisierung ihrer Werke im legalen Raum, z. B. in der Werbung, gehen, zeigt sich die Kunst des Kalligrafen, die Resultat jahrelanger Übung ist und die heute im besten Falle arabisch, asiatische und europäische Elemente vereint. Schöne Beispiele zeitgenössischer „Kalligrafie“ sind die Urban Calligraphy des Griechen Simon Silaidis und die Calligraffitis des Niederländers Niels Shoe Meulmann, die eher östlich anmuten, und die Arbeiten von Tunç „Turbo“ Dindaş, „Graffiti’s Turkish stepfather“, die eher westlich anmuten. Und die vieler Anonmyer wie forcefield und zahlloser anderer, die den öffentlichen Raum des Internets nutzen (Mehr Bilder).

Sprayer (legal), Mauerpark, Berlin 2014

Sprayer (legal), Mauerpark, Berlin 2014

Kalligraphie, Kalligrafie, Kaligrafi, hat oder Graffiti – sei’s drum: Wir hoffen jedenfalls, Sie fanden diesen Artikel schön geschrieben, nicht schnell über Nacht hingeschmiert, und Sie finden seine Botschaft akzeptabel. Dann müssen Sie vielleicht auch nicht den Mantel des Vergessens darüberbreiten.

Maler in İstanbul am Morgen, 2014

Maler in İstanbul am Morgen, 2014

Quellen:
Arabische Schrift (Wikipedia, Stand 12.3.2014)
Bilderverbot im Islam (Wikipedia, Stand 15.1.2014)
Graffiti (Wikipedia, Stand 10.6.2014)
Hat sanatı (Vikipedi, Stand 26.4.2014)
Helmstedt, Jens: Der Kalligraf (anatolienmagazin.de, 2011)
Hombach, Stella Marie: Bücherschau im Museum für Islamische Kunst. Blumen erblühen in den Bänden (Tagesspiegel, 14.1.2014)
Islamische Kalligrafie (Wikipedia, Stand 20.5.2014)
Kalligrafie (Wikipedia, Stand 19.2.2014)
Karlsruher Türkenbeute: Kalligrafie – Die Kunst des schönen Schreibens
Karlsruher Türkenbeute: Die Tuğra – Das großherrliche Zeichen
Khakpour, Toumaj: Persisch-Arabische Kalligraphie: Kunstvolle Schrift (Biber 2009)
Sprache / Schrift / Kalligraphie: Osmanisch / Türkisch (www.osmanischesreich.de, Stand Juni 2014)
Sprachreform (Wikipedia, Stand 31.3.2014)
Steiner, Claudia: Allah im Klassenzimmer. Was lernen junge Muslime in deutschen Koranschulen? (fluter.de, 10.10.2006)