„Revolution“, Tataren und Deutsche in Eskişehir

In einer Art gläsernem Schneewittchen-Sarg nicht weit vom Bahnhof von Eskişehir schläft ein elegantes Auto. „Devrim“ heißt es, wie die schnittige Schrift am Kühlergrill verrät, auf Deutsch „Revolution“. Türkiye’nin Gururu, Stolz der Türkei, steht auf einer Erklärtafel daneben: Der „Devrim“ war das erste Auto komplett einheimischer türkischer Produktion, chromblitzend, cremefarben, mit lindgrüner Innenausstattung. Sehr chic – nur leider gab es insgesamt nur genau vier Exemplare des Devrim, Prototypen, die nie in Serie produziert wurden. 1961 in der Rekordzeit von 129 Tagen entworfen und gebaut, sollten sie zum Tag der Republik am 29. Oktober 1961 in Ankara stolz der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Devrim, Eskişehir 2018

Heute würde man es ein PR-Desaster nennen, was dann geschah: Staatspräsident Cemal Gürsel fährt einen Devrim ums Parlament und bleibt damit nach 100 Metern stehen, weil zu wenig Benzin im Tank ist. Am nächsten Tag waren die Zeitungen voll des Spotts: ein kleiner Beitrag zum Aus für den Devrim vielleicht. Hauptgründe für das Ende des Experiments waren allerdings hohe Kosten, eine nicht vorhandene Zuliefererindustrie und die fehlende Kaufkraft in der Bevölkerung. Ein Nachfolger des Devrim wird ein paar Jahre später der Anadol (mit Fordmotor), mit dem Generationen türkischer Familien unterwegs waren. Heute werden Autos aus deutscher Produktion gern gekauft, und internationale Autohersteller lassen viel in der Türkei produzieren – das massentaugliche Modell aus 100% einheimischer türkischer Produktion (yüzde yüz yerli otomobil), von dem auch diesen Herbst wieder geraunt wurde, lässt aber weiter auf sich warten.

Trotz des eher unrühmlichen Endes des Devrim wird in dem kleinen Museum stolz seine Geschichte erzählt, mit Tafeln, die den schnellen Entwicklungsprozess in Tagesetappen erklären, Reißbrettern, Zeitungsauschnitten und von einer überzeugten Museumsmitarbeiterin. Aus dem Autoraum geht es in den Eisenbahnraum: Der Devrim wurde auf dem Gelände und mit dem Know-How von Tülomsaş (Türkiye Lokomotif ve Motor Sanayii A.Ş.) in Eskişehir gebaut, einem Unternehmen, das als Tochter der türkischen Staatsbahn bis heute vor allem mit der Instandhaltung und Herstellung von Schienenfahrzeugen betraut ist, z. B. der Karakurt-Lokomotive, der ersten türkischen Dampflok von 1958. Und weil die staatliche Eisenbahngesellschaft dem Ministerium für Transport und Infrastruktur untersteht, wird im Museum groß mit diversen Politikerbesuchen geworben.

Devrim, Eskişehir 2018

Devrim, Eskişehir 2018

Devrim, Eskişehir 2018

Devrim, Eskişehir 2018

Siemenstelefone und ein Alman Yemek Masası, ein deutscher Esstisch, im Auto-Eisenbahn-Museum, eine Führerin, die erzählt, was die Deutschen hier alles gebaut haben: Eskişehir liegt auf der Mitte einer historischen Eisenbahntrasse zwischen Istanbul und Ankara bzw. Konya. Die Anatolische Eisenbahn (und ihre Infrastruktur z. B. auch in Eskişehir) wurde Ende des 19. Jahrhunderts komplett von deutschen Firmen und mit Material aus Deutschland gebaut; das Bauunternehmen Philipp Holzmann und die Deutsche Bank mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Georg von Siemens spielten dabei eine führende Rolle. Eskişehir, seit 1892 angebunden, wurde zum wichtigen Eisenbahnknotenpunkt und Wirtschaftsstandort, vor und im 1. Weltkrieg und danach in der Türkischen Republik, als von hier aus das türkische Eisenbahnwesen organisiert wurde.

Im Herbst 1891 unternahm der deutsche Politiker und Publizist Friedrich Dernburg eine Reise entlang der im Bau befindlichen Bahntrasse zwischen Konstantinopel und Angora/Ankara, beschrieben in seinem Buch Auf deutscher Bahn in Kleinasien. Eine Herbstfahrt, von 1892. Natürlich kam er auch nach Eskişehir. Oder wie es damals buchstabiert wurde, nach Eski-Schehir, für Dernburg die „Stadt des Orient“. Dernburg reiste zu Pferd, und er ahnte damals schon, dass Kreuzfahrer- und Orientmythen mit dem Bau der Eisenbahn verschwinden würden. Er sei noch – augenzwinkernd – der Held, während spätere Generationen skatspielend mit dem Zug anreisen würden. (Stimmt schon, auch wenn ich nicht Skat gespielt habe…)

Geordnet und geschmückt, Eskişehir 2018

Geordnet und geschmückt, Eskişehir 2018

Für Dernburg war die Stadt dreigeteilt: Die Türkenstadt Odunpazarı, die Basarstadt und die neue „Stadt der Eisenbahn und der Kolonisten“. Alle drei Gebiete gibt es heute noch, man kann ihre frühere Form auch an den Straßenverläufen erahnen. Eskişehir, wörtlich die „Alte Stadt“, scheint allerdings heute überhaupt nicht mehr die die „Stadt des Orient“ zu sein, die sie zu Dernburgs Zeiten vielleicht war. Wenn auf meiner Reise die Rede auf Eskişehir kommt, fallen oft Worte wie „ordentlich“, „langweilig“. Aufgeräumt ist die Stadt, grün, oft verkehrsberuhigt, geordnet irgendwie. Vielleicht liegt es auch daran, dass die deutschen „Eisenbahnkolonisten“ die Stadt früh und über einen langen Zeitraum geprägt haben. Goldgräberstimmung für die Deutschen über Jahrzehnte: Während des ersten Eisenbahnbauabschnittes bis 1892, dem zweiten bis 1896, dem Bau der Bagdadbahn von 1903 bis 1918 – praktisch eine Verlängerung der Strecke über Istanbul-Eskişehir-Konya – zuletzt in den Weltkriegsjahren 1914–1918. Nach Dernburg kamen viele andere, u. a. der deutsche Orientmaler Oscar Meyer-Elbing, der 1909 in „Bühne und Welt“ über „Eine Vorstellung im türkischen Theater zu Eski-Schehir“ vom Leder zog. Im Internet kann man heute noch Ansichtskarten von 1915 mit dem deutschem Aufdruck „Am Brunnen in Eskischehir“ kaufen.

Das „Venedig der Türkei“, Eskişehir 2018

Das „Venedig der Türkei“, Eskişehir 2018

Eskişehir ist mit etwa 680.000 Einwohnern heute in etwa so groß wie Stuttgart. Das „Venedig der Türkei“ genannt, weil sich der kleine Fluss Porsuk durch die Stadt windet, auf dem Gondeln fahren und an dessen Ufern Menschen flanieren und Tee trinken. Parks, Blumendekoration, die Häuser mit Fliesenarbeiten verziert, Fußgängerzonen, auf denen nur die Straßenbahnen fahren dürfen – eine unaufgeregte Stadt, im Vergleich zu Ankara und Istanbul sowieso. Was in Berlin die Plastikbären waren, sind in Eskişehir goldene Figuren, die reiten, fischen, und auf Muscheln spielen: Reiterinnen, Fischer, Meerjungfrauen und ein Trinker.

Eskişehir 2018

Eskişehir 2018

Die „Basarstadt“ ist auch heute noch vibrierend-geschäftig, es gibt Gewürze, Fisch, Türkischen Honig, Brautmoden, was man eben so braucht. Die alte Stadt Odunpazari wird mit viel frischer Farbe touristisch aufgehübscht. Die typischen eher schmucklosen anatolischen Moscheen aus dem 13. und 14. Jahrhundert, backsteinbraun, mit Minaretten wie Schornsteinen, stehen im Kontrast zur Kurşunlu Moschee, im Hagia-Sophia-Stil von einem Schüler Mimar Sinans erbaut. Neben der Moschee gibt es das Meerschaummuseum: Eskişehir dürfte Pfeiferauchern weltweit vor allem wegen des Meerschaums seit Jahrhunderten ein Begriff sein. Seit 1700 ist die Stadt ein zentraler Fund- und Herstellungsort des Beyaz Altın, des Weißen Goldes, aus dem Pfeifenköpfe geschnitzt werden. Auf Englisch zwar auch meerschaum, auf Türkisch aber – das Meer ist weit – lületaşı, Lockenstein. OMMMMM: Nicht weit davon entfernt bewegt sich auch zeitgenössisch-künstlerisch etwas, das Odunpazarı Modern Müzesi – OMM – nimmt seine kubistischen Formen an.

OMM Odunpazarı Modern Müzesi, Eskişehir 2018

OMM Odunpazarı Modern Müzesi, Eskişehir 2018

Im Kırım Tatar Kultur Ciğbörek Evi, gibt es in Fett ausgebackene Teigtaschen, die an Piroggen erinnern. Kırım Tatar, Krim-Tatar? Ja, obwohl es von Eskişehir bis Sewastopol quer über das Meer 600 km sind, mit dem Auto über Istanbul 1.500 km, ist Eskişehir eine Hochburg der Krimtataren. Die muslimischen turksprachigen Krimtataren, in der Türkei auch Krimtürken genannt, wanderten schon seit Ende des 18. Jahrhunderts von der Krim in das Osmanische Reich aus, ihr Großteil, ca. fünf Millionen, lebt heute in der Türkei in der Diaspora. Neben Plakaten für Veranstaltungen tatarischer Kulturvereine, deutlich mehr Menschen mit asiatischen Gesichtszügen, prägen vor allem zwei ihrer Gerichte die Stadt: Ciğbörek, die schon beschriebene Teigtasche mit Fleischfüllung (jetzt auch vegetarisch) und, ja, Mantı, die sonst „türkische Ravioli“ genannten kleinen Teigtaschen mit Joghurt, die hier mit brauner Butter serviert werden. (Teigtaschen mit Joghurt waren für meine polnische Türkisch-Mitschülerin überhaupt nicht ungewöhnlich – aber Polen liegt ja schließlich auch näher an Russland und der Krim.)

Kırım Caddesi, Krim-Straße, Eskişehir 2018

Kırım Caddesi, Krim-Straße, Eskişehir 2018

Ciğbörek, Eskişehir 2018

Ciğbörek, Eskişehir 2018

Liegt es an den Tataren? In Eskişehir habe ich das erste Mal wirklich gespürt, wie sehr die Türkei ein Ergebnis sehr kürzlicher Völkerwanderungen und Umsiedlungen ist. So aufgeräumt und ruhig Eskişehir auch ist, so bewegt und heterogen ist seine jüngere Geschichte. (Wie anders, denke ich, im Vergleich zu einer ostdeutschen Stadt wie Erfurt, bis vor Kurzem abgeschlossen, homogen, ohne Zuwanderer.) Zum großen Bild (und Ton) gehören Jagdflieger über der Stadt – eines der beiden Taktischen Luftwaffenkommandos der Türkei hat hier seinen Sitz. Am Republikgeburtstag schallen am Vormittag patriotische Gesänge von Schulhöfen, am Abend am Büyük Park gibt Funda Arar ein patriotisches Popkonzert. Dabei illuminiert und begleitet ein Feuerwerk die Leinwandszenen aus dem türkischen Unabhängigkeitskrieg. Das geht irgendwie zusammen mit dem „anatolischen Humanismus“ des großen Yunus Emre, für den es im Büyük Park ein Denkmal und einen Pavillon über einer Art Marmorsarg gibt. Mystischer türkischer Volksdichter, dessen Werke Pflichtlektüre sind, nach dem das Yunus Emre Enstitüsü – das türkische „Goethe-Institut“ – und z. B. auch die Freimaurerloge Yunus Emre i. O. in Köln benannt sind. Yunus Emre liegt nicht – auch wenn es so aussieht – im Park begraben, sondern, vielleicht, im Ort Yunusemre in der Provinz Eskişehir. Den Anspruch, sein Begräbnisort zu sein, erheben allerdings viele Orte in der Türkei.

Yunus-Emre-Denkmal, Eskişehir 2018

Yunus-Emre-Denkmal, Eskişehir 2018

Aus der Stadt geht es natürlich mit dem Zug, nicht mit dem Auto oder dem Pferd. Ein hübscher, eher kleiner Bahnhof aus den 1950ern, mit modernem Anbau für die noch jungen türkischen Hochgeschwindigkeitszüge YHT. Am Bahnhof verabschiedet ein Hoca der Türk Dünyası Vakfı, der Stiftung Türkische Welt, die Reisenden. Für die Türk Dünyası Vakfı umfasst die türkische Welt heute weiter ehemals osmanische Gebiete, z. B. Usbekistan, Turkmenistan, die Krim, den Balkan, Kasachstan, Kirgisistan. Die Stiftung scheint in Eskişehir besonders aktiv zu sein: 2013 war die Stadt die Türk Dünyası Kültür Başkenti, die Kulturhauptstadt der türkischen Welt, und wird 2019 Türk Dünyası Eğitim Başkenti sein, die Bildungshauptstadt der türkischen Welt. Geht es also Richtung „Westen“ oder Richtung „Osten“? Mit dem Zug nach Istanbul erstmal nordwestlich: Ein junger Mann liest „Schuld und Sühne“, Suc ve Ceza , von Fyodor Mihaylovic Dostoyevski. Rechts von mir strickt eine Frau mit Kopftuch und langem Mantel konzentriert; im Sitz daneben schminkt sich ein blondrotgefärbtes Mädchen ab mindestens eine Stunde vor Istanbul ausdauernd. Meet Matte Nude steht auf ihrem Schminkkoffer. Und am Zug steht nicht „Revolution“, sondern Siemens.

Türk Dünyası Vakfı, Stiftung Türkische Welt, Eskişehir 2018

Türk Dünyası Vakfı, Stiftung Türkische Welt, Eskişehir 2018